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04.08.2014
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U.N.G.L.A.U.B.L.I.C.H.

Neutral Milk Hotel
Boogarins

Köln, Gloria
04.08.2014

Wie soll man ein Konzert beschreiben, das allein beim Gedanken daran zwei Wochen später noch Gänsehaut auslöst? Vielleicht so: Wenn man 16 Jahre auf ein Konzert wartet, kann man eigentlich nur enttäuscht werden. Mit jedem weiteren Jahr steigen die Erwartungen, und dabei ist es doch ein offenes Geheimnis, dass die meisten Bands vielleicht perfekter, aber ganz bestimmt nicht besser werden, wenn sie ihre jugendliche Sturm-und-Drang-Phase erst einmal überwunden haben. Neutral Milk Hotel dagegen sorgten bei ihrem Gastspiel in Köln für ein kleines Wunder. Die amerikanischen Wegbereiter des Indie-Folk spielten im wunderschönen Gloria nach jahrelanger Auszeit ein fantastisches Konzert, von dem die Anwesenden noch sehr, sehr lange erzählen werden.

Ein kurzer Crashkurs für die Uneingeweihten: Jeff Mangum ist ein begnadeter Songwriter mit einem besonderen Faible für grimmige Märchen aus seiner düster-surrealen Parallelwelt, die ihre Fühler in alle möglichen (und unmöglichen) Richtungen ausstrecken. Als Teil des Elephant-6-Kollektivs, dem auch The Apples In Stereo oder Olivia Tremor Control angehörten, gelangte seine Band Neutral Milk Hotel Mitte der 90er gleich mit ihrer ersten Single zu Ruhm und Ehren. Allerdings kam der introvertierte Vordenker mit dem Erfolg nicht sonderlich gut klar. Nicht lange nachdem Anfang 1998 das bahnbrechende zweite Album seines Quartetts, "In An Aeroplane Over The Sea", erschienen war, verschwand er von der Bildfläche. Weitere Platten hat er seitdem nicht veröffentlicht, seine Konzerte im neuen Jahrtausend konnte man lange Zeit an einer Hand abzählen. Dafür machten Geschichten von Nervenzusammenbrüchen und Schlimmerem die Runde. Doch auch wenn Mangum lange Zeit verschollen war - der Kult um seine Band blieb quicklebendig. Ohne Neutral Milk Hotel würde es heute keine Arcade Fire geben, keine Decemberists, keine Franz Ferdinand, und Amanda Palmer müsste sich eine andere Lieblingsplatte suchen. Letztes Jahr geschah dann das eigentlich Undenkbare. Neutral Milk Hotel verkündeten ihre Reunion und starteten - noch dazu in Originalbesetzung - ihre erste Welttournee seit 15 Jahren. Anders als im September 1998, als in Deutschland lediglich Gastspiele in Hamburg und Berlin auf dem Tourneeplan standen, machten sie dieses Mal auch in Köln Station.

Eröffnet wird der auf Wunsch des Headliners komplett fotofreie Abend im gut gefüllten Gloria von Boogarins. Aus Brasilien stammt das blutjunge Quartett um die kreativen Köpfe Fernando Almeida und Benke Ferraz, das gerade drauf und dran ist, Tame Impala oder Foxygen den Rang abzulaufen. Ihr schwebender Psychedelic-Pop-Sound weist sie als Enkel der seelenverwandten Südamerikaner Os Mutantes aus und als Kinder der Generation Shoegaze, doch immer wieder mischen sich auch ungestüme Ausbrüche zwischen Garagen- und Blues Rock unter die flirrenden, effektbeladenen Gitarrensounds und sorgen für stimmige Kontrapunkte. Einzig und allein für das an diesem Abend etwas dünn klingende Stimmchen Almeidas gibt es Abzüge in der B-Note. Verdienten Applaus von den Zuschauern bekommen die vier dennoch.

Richtig vorbereitet auf das, was folgen sollte, ist das bunt gemischte Publikum (20-Somethings und Midager halten sich ungefähr die Waage) damit aber dennoch nicht, denn die spielerische Leichtigkeit, mit der Neutral Milk Hotel die atemberaubend elektrisierende Energie der sanft psychedelisch umspülten Songs ihrer legendären Platten 1:1 auf die Bühne übertragen, ist kaum in Worte zu fassen. Dass harte Zeiten hinter Mangum liegen, mag man an seiner Zottelfrisur, seinem Rauschebart und seiner dezenten Obdachlosenoptik ablesen können, musikalisch dagegen dreht er an diesem Abend die Zeit zurück. Zur Seite stehen ihm dabei Musiker, die keinesfalls nur des Meisters Staffage, sondern allesamt comictaugliche Charaktere sind. Der ungemein energische Drummer Jeremy Barnes rangiert mit seinem Schnäuzer irgendwo zwischen Mafia und Monty Python, der wohlgenährte Multiinstrumentalist Scott Spillane, der jede einzelne Zeile auch ohne Mikro aus vollem Hals mitsingt, könnte sich mit seinem weißen Vollbart und seinem Outfit glatt als Großvater bei "Ein Duke kommt selten allein" bewerben, und der dauerlächelnde Bassist Julian Koster besticht nicht nur mit Freizeitpark-T-Shirt und Narrenkappe, sondern geht vollkommen in der Musik auf und dreht sich dabei praktisch ununterbrochen um die eigene Achse. Nur der neu hinzugekommene Tourmusiker Jeremy Thal fällt ein wenig aus der Rolle: Geradezu normal wirkt er, wenn er versteckt am rechten Bühnenrand steht.

Mit einem ganzen Arsenal zumeist zirkustauglicher Instrumente (Tuba, Banjo, elektrischer Dudelsack, Glöckchen, drei singende Sägen und gleich vier Akkordeons sind nur die Spitze des Eisbergs) stürzen sich Neutral Milk Hotel kopfüber in brillante Antihymnen wie die "King Of Carrot Flowers"-Trilogie oder "Holland, 1945", und selbst die sagenumwobene Debütsingle "Everything Is" ist mitsamt ihrer B-Seite "Snow Song Pt.1" im Programm! Zwischen den Bandnummern streut Mangum immer wieder Solostücke ein, begeistert mit "Oh Comely" und brilliert bei seinem vielleicht berühmtesten Song, "Two-Headed Boy", das er in Köln praktisch genauso leidenschaftlich singt wie bei der in ihrer Intensität kaum zu überbietenden LP-Version. Neue Lieder gibt es nicht zu hören, dafür bleiben beim Querschnitt durch "In An Aeroplane Over The Sea" und das genauso beeindruckende Debüt "On Avery Island" kaum Wünsche offen. Sogar "Naomi", Mangums Ode an Galaxie-500-Bassistin Naomi Yang, ist dabei!

Die unbändige Power - hier spielt offenbar jeder Musiker so laut und inbrünstig wie er nur kann! - und die schier unfassbare Dynamik der unwirschen, aber gerade deshalb perfekten Performance bleiben beim immer wieder im Moshpit tobenden Publikum nicht ohne Wirkung. Gleich mehrfach hindert ein ekstatischer Beifallsorkan die Band am Weiterspielen. Eine Premiere selbst für die erfolgsverwöhnten Rückkehrer, wie Spillane stellvertretend für seine Kollegen bei der Zugabe sichtlich ergriffen gesteht. Ganz offenbar war dieser Hammerauftritt nicht nur für die Zuschauer ein einmaliges Erlebnis!

Surfempfehlung:
www.walkingwallofwords.com
en.wikipedia.org/wiki/Neutral_Milk_Hotel
www.boogarins.com
www.facebook.com/boogarinsmusic

Text: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
 

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