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15.11.2002
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The Piano Man

Bob Dylan

US-Tour 2002

Bob Dylan
Dass Bob Dylan gerade bei seinen Konzerten immer wieder für Überraschungen gut ist, ist hinlänglich bekannt und auch an dieser Stelle schon mehrfach erwähnt worden. Doch was die 61-jährige Singer/Songwriter-Ikone auf dieser gerade zu Ende gegangenen USA-Tournee veranstaltete, haute selbst langjährige Dylan-Fanatiker vom Schlitten. Als Anfang Oktober die ersten Setlists von den Shows an der Westküste bekannt wurden, fragte sich einer derer, die eigentlich nichts mehr überrascht, im Forum der offiziellen Dylan-Site sichtlich erstaunt: "What the friggin' hell is going on?" Denn anstatt wie seit Jahren üblich einfach nur Abend für Abend in identischer Besetzung mit seiner großartigen Band - Charlie Sexton und Larry Campbell an den Gitarren, Tony Garnier am Bass und George Receli am Schlagzeug - andere Songs aus seinem eigenen gigantischen Back-Catalog zu spielen, hatte Dylan für diese Herbst-Tour ganz einfach ALLES umgekrempelt. Da fiel ihm im 40. Jahr nach seinem Debütalbum plötzlich ein, anstatt Gitarre über weite Strecken der Shows Klavier zu spielen und manchmal gleich ein Viertel der Setlist mit Coverversionen zu füllen. Allerdings nicht mit den lange vergessenen Bluegrass- und Country-Songs, die in den letzten Jahren sporadisch aufgetaucht waren, sondern mit Songs, die einerseits politische Statements, andererseits eine Hommage an langjährige Freunde und Wegbereiter waren. Gaesteliste.de besuchte drei der letzten Shows an der Ostküste.

Philadelphia, PA, First Union Center, 15.11.2002

In Europa hat Dylan inzwischen Probleme, große Hallen allabendlich zu füllen, in Amerika dagegen strömen die Massen nach wie vor. So war die riesige 20 000-Sitze-Arena zu gut drei Vierteln gefüllt, zumeist übrigens mit jungen Leuten.Im Gegensatz zu so manchem Auftritt in unseren Breiten waren die Hippies und Alt-68er klar in der Minderheit. Los ging's kurz nach 20.00 Uhr ohne Vorgruppe mit einem Stück, das gleich alle Stärken der neustrukturierten Show offenbarte: "Maggie's Farm"! Jahrelang ein Stück, das Dylan und seine Band arrangement-technisch einfach nicht bändigen konnten, spielten sie es nun mit unglaublich viel Drive, Elan und Power. Endlich stand Dylan seinen beiden großartigen Gitarristen mit seinem alles andere als hochklassigen Gitarrenspiel nicht mehr im Weg - im Gegenteil, sein Klavierspiel ergänzte die Gitarrenparts nicht nur ausgezeichnet, auch seine Stimme schien bei den Klaviernummern wesentlich befreiter zu klingen. Mit "In The Summertime" folgte dann gleich danach eine echte Überraschung - vor dieser Tour war der Song 21 Jahre lang nicht zu hören gewesen.

Seit Jahren spricht Dylan davon, dass jeder Tourabschnitt sein eigenes Design, seinen eigenen roten Faden habe. Oft war der allerdings wohl nur für den Meister selbst zu erkennen. Dieses Mal jedoch gab sich Dylan wieder wesentlich deutlicher politisch zu erkennen, wenngleich nicht mit Parolen bei den Ansagen, sondern "nur" mit der Songauswahl. So spielte er in Philadelphia Don Henleys Cold-War-Hymne "The End Of The Innocence" (ziemlich perfekt noch dazu), das völlig neu arrangierte "It's Alright Ma (I'm Only Bleeding") lief wie an jedem Abend der Tour, und auch "High Water" (aus dem letztjährigen "Love & Theft"-Album) darf durchaus als Seitenhieb auf die Bush-Administration verstanden werden. Schade nur, dass Dylan und Band in Philly nach etwa der Hälfte der Show sichtlich müde waren und sich im zweiten Teil des Konzerts auf eine ganze Reihe (zu) oft gespielter Klassiker wie "Don't Think Twice", "The Times They Are A-Changin'" oder "Blowin' In The Wind" verließen. Songs, die die fünf auf Autopilot beherrschen. Einzig und allein "Po' Boy" (ebenfalls aus "Love & Theft") war eine echte Überraschung, spielte Dylan den Song doch erst zum zweiten Mal überhaupt und erstmals am Klavier!

Boston, MA, FleetCenter, 16.11.2002

Ohne einen Tag Pause wirkte Dylan bei der nächsten Show wie ausgewechselt. Zwar variierte die Setlist nicht so stark wie in den letzten Jahren üblich, aber die Songs, die Dylan jeden Abend spielte, saßen in der Tat wie eine Eins. "Tombstone Blues" zum Beispiel, jahrelang eher selten gespielt und jetzt in einer gestrafften, rifflastigen Version mit Klavierbegleitung eigentlich jeden Abend ein Highlight. Sogar "I'll Be Your Baby Tonight", ansonsten ein Garant für einen Tiefpunkt, klang im FleetCenter angenehm jazzig im Stile von "Love & Theft". Die wahren Knaller waren aber auch in Boston die Coverversionen. So gab's gleich zwei Songs von Dylans krebskrankem Freund Warren Zevon: "Accidentally Like A Martyr" mitwunderschönem Harmoniegesang und das großartig sanfte "Mutineer". Überraschender war jedoch Dylans krachende 1:1-Version des Rolling-Stones-Klassikers "Brown Sugar" (!) und das geradezu unfassbar gute Neil-Young-Cover "Old Man". Gerade bei den beiden letztgenannten konnte man auch der Band ansehen, wie viel Spaß sie bei der Sache hatte. Larry Campbells Gesichtsausdruck schien zu sagen: "Stehe ich wirklich mit BOB DYLAN auf der Bühne, spiele NEIL YOUNGS besten Song und kriege auch noch GELD dafür?" Göttlich! Apropos Spaß: Den hatten Dylan und Co. ohne Frage auch beim ausgewalzten "Summer Days", das sich innerhalb nur einen Jahres vom "Love & Theft"-Albumtrack zu einem sicheren Höhepunkt jeder Dylan-Show heraufgearbeitet hat. Die wohl gut zehnminütige Version an diesem Abend mit jeder Menge Gitarrenduelle und netten Jam-Parts dürfte wohl nur schwerlich zu toppen sein. Nicht nur deshalb: Ein fast perfektes Konzert, bei dem selbst eine Rarität wie "Every Grain Of Sand" (einmal mehr von Dylan wunderschön gesungen) nur beiläufig Erwähnung findet.

Hartford, CT, Civic Center - Veterans Memorial Coliseum, 17.11.2002

Dass sich Dylan nach der herausragenden Boston-Show am Tag darauf nicht noch würde steigern können, war zu erwarten, dennoch schlug er sich auch in Hartford achtbar. Dass die Show eher etwas gedämpfter werden würde, bestätigte auch gleich der Opener: Erstmals seit rund zehn Jahren fing Dylan wieder mit einem aktuellen Stück an, und obwohl "Tweedle Dum & Tweedle Dee" zu den besten Songs auf "Love & Theft" zählt, reißt er das Publikum nicht gleich von Anfang an so aus den Sitzen wie beispielsweise "Maggie's Farm". Wie das erste Lied, so war auch der Rest der Show: Sehr solide. Das neue Stop/Start-Arrangement von "Shelter From The Storm", das teils Bluegrass-, teils "Basement Tapes"-inspiriert zu sein schien, klang nach wiederholtem Hören noch besser, und mit Van Morrisons "Carrying A Torch" und dem seit dem "Formatwechsel" erstmals gespielten Alltime-Favorite "Visions Of Johanna" hatten sich auch einige willkommene Überraschungen auf die Setlist gemogelt. So war es dann kein rauschender Abend, aber trotzdem gingen alle zufrieden nach Hause, als Dylan nach mehr als zwei Stunden auch diesen Abend mit einer Hendrix'schen Version von "All Along The Watchtower" (und einem weiteren großartigen Charlie-Sexton-Solo) beendete. Auch dieser Song schien auf dieser Tour mehr Botschaft auszustrahlen als zuvor. Nicht nur ob des apokalyptischen Arrangements, sondern vor allem auch deshalb, weil Dylan zum Schluss die erste Strophe wiederholte und die Konzerte so mit der Zeile "None of them along the line know what any of it is worth" endeten. Der Vorhang zu und alle Fragen offen?

Das Fazit der Tour ist kurz und klar: Selten hat man Dylan und seine Band auf der Bühne so viel Spaß haben sehen, selten hat Dylan dem Publikum so viel - manchmal geradezu aberwitzigen - Spaß gemacht. Hut ab!

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Text: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -David Gahr-
 

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