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Konzert-Bericht
 
Von Sitzpinklern, Schiesser-Unterhosen, Sozialismus und Schweinsteiger

Billy Bragg
Anaïs Mitchell

Bochum, Zeche
22.05.2012

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Brilly Bragg
Billy Bragg ist ein Phänomen. Seit 30 Jahren predigt der scheinbar ewig junge Punkrocker aus Barking, Essex, nun schon seinen Sozialismus der Herzen und schafft es dabei immer wieder, mit viel Humor seine altbekannte Botschaft neu zu verkaufen und selbst bei seinen politisch aufgeladenen Songs der Thatcher-Zeit Verbindungen ins Hier und Jetzt zu knüpfen. Fast zwei Stunden lang unterhält und begeistert er - solo und mit Stromgitarre - an diesem Dienstagabend ein ihm gewogenes Publikum in den besten Jahren in genau dem gut gefüllten Laden, in dem er zu Beginn seiner Karriere praktisch auf jeder Tournee aufgetreten war: der Zeche in Bochum.
Den Auftakt macht an diesem Abend ein Auftritt der kanadischen Singer/Songwriterin Anaïs Mitchell, der irgendwie überflüssig ist. Dass Bragg an seinen Idealen und der Ästhetik der 80er festhält, ist nachvollziehbar, bei der erst 1981 geborenen Mitchell, die sich seit Jahren im Umfeld von Ani DiFranco tummelt, wirkt das Ganze dagegen seltsam altbacken. Für ihr Bemühen, alle Ansagen auf Deutsch zu machen, erntet sie zwar Bonuspunkte, doch obwohl ihr Deutsch sicherlich gut genug ist, um Interessierte zum Zuhören zu bringen, reicht es nicht ganz, um in der Zeche die Beachtung des wegen der Hauptattraktion gekommenen Publikums zu erhaschen. Der Gesprächspegel der Zuschauer wächst mit jedem weiteren ihrer Songs doch merklich. Dass Bragg seinen Supportact später mit keiner Silbe würdigt und Mitchell auch schon um 19.40 Uhr auf die Bühne musste, obwohl die Tickets Live-Musik erst für 20.00 Uhr angekündigt hatten, unterstreicht, dass die Dame sicherlich kein Wunsch-Support war.
Ohne große Worte zu machen, lässt Bragg nach einer unnötig langen Umbaupause ohne Umbau zu Beginn seines Programms die Songs sprechen: "The World Turned Upside Down" macht den Anfang, "To Have And To Have Not" schließt sich nahtlos an. Als er sich danach erstmals ans Publikum wendet, tut er das in typischer Bragg-Manier. Seine ersten Worte sind: "You know... Bastian Schweinsteiger..." Nach der brillanten Kunstpause, die folgt, hätte er sich den ellenlangen Fußballmonolog ("It could not have happened to a nicer bloke!") eigentlich sparen können, aber dass auf einem Billy Bragg-Konzert genauso viel gequasselt wie Musik gemacht wird, gehört schließlich einfach dazu. Der nächste Song ist die soulige Ballade "From Red To Blue", und Bragg ist wohl der Einzige im Raum, der darin keine Anspielung auf das Fußballspiel des zurückliegenden Wochenendes zwischen Bayern und Chelsea gesehen haben will. Die folgende Nummer wartet dann wieder mit offensichtlicheren Fußball-Referenzen auf, doch bevor Bragg das herrliche "Greetings To The New Brunette" spielt, lässt er sich noch ausführlich über sein deutsches "Wort des Tages" (es ist "Sitzpinkler") aus, erläutert seine Verwunderungen über die deutschen Vatertagsbräuche ("In England haben wir auch einen Tag, an dem betrunkene Männer durch die Straßen torkeln. Bei uns nennt man das Samstag!") und erzählt lang und breit von seiner Begegnung mit dem "Unterhosenmeister" in der Unterbekleidungsabteilung der Berliner Galeria Kaufhof, schließlich sei es das Größte für Engländer, echte deutsche "Scheisser"-Unterhosen zu kaufen. Erst ein Lied später fügt er hinzu: "Bitte kommt später am T-Shirt-Stand nicht zu mir und versucht mir zu erklären, dass es 'Schiesser-', nicht 'Scheisser-Unterhosen' heißt, das war ein WITZ!"

Danach wird es dann kurzzeitig etwas ernster, denn mit dem folkigen "Tomorrow Is Going To Be A Better Day", einem Song im Geiste Woody Guthries aus Braggs aktueller Tour-CD "Fight Songs", widmet sich der Brite seiner Abneigung gegen das Internet. Bruchlos geht es danach mit zwei neuvertonten Guthrie-Texten von "Mermaid Avenue" weiter, bevor Bragg für "Sexuality" und "The Space Race Is Over" zur Wandergitarre greift, denn "ich muss mindestens einen Akustiksong pro Abend spielen, um nicht aus der Singer/Songwriter-Gewerkschaft zu fliegen!" Für das einmal mehr als beeindruckend rauer Rock'n'Roll-Song interpretierte "NPWA" und "There Will Be A Reckoning" (neu, aber im Stile von Braggs besten Kampfhymnen aus dem dritten Album) greift er danach wieder zur elektrischen Gitarre. Dann erzählt er, dass sein Konzert in Berlin in der Karl-Marx-Straße stattgefunden habe, er uns nun aber auf die Smokey-Robinson-Straße mitnehmen wolle: "Must I Paint You A Picture" klingt gefühlvoll wie immer. Einmal auf heimeligem Terrain angekommen, erzählt Bragg auch noch von seinem Sohn Jack, der inzwischen selbst Musik macht und dabei nicht immer mit Daddy auf einer Wellenlänge surft. So verbat sich der Sohnemann zum Beispiel, dass Bragg senior zu seinem ersten Konzert kommt. "Hat dein Vater deine Auftritte besucht?", soll Jack seinen Vater gefragt haben. Der konterte nur lässig: "Nein, aber er hat auch nicht meinen verdammten Verstärker benutzt!" Eine weitere Vater-Sohn-Story hängt er gleich noch dran. Als sein Sohnemann wieder mal seine Gitarre im Elternhaus mit maximaler Lautstärke spielte, schickte Braggs Ehefrau Juliet ihren Mann nach oben, um für Ruhe zu sorgen. "Also zog ich die Gummihandschuhe aus, legte den Wischmob zur Seite und ging zu Jacks Zimmer, um ihm zu sagen, dass er den Scheiß leiser spielen soll, bis ich auf halbem Wege erkannte, was für einen 'Scheiß' er da spielte!" Es war Daddys "Milkman Of Human Kindness" - das Bragg dem Bochumer Publikum danach natürlich sofort vorspielt, bevor "Power In A Union" und "Waiting For The Great Leap Forward" (inklusive aufs aktuelle politische Tagesgeschehen umgedichteten Strophen und einem etwas schwer verständlichen deutschsprachigen Finale, das mit '...Chelsea hat gewonnen' endet) der reguläre Teil des Konzertes seinen Höhepunkt findet.

Mit "Tank Park Salute" schaltet Bragg danach beim ersten Zugaben-Song einen Gang zurück, und hätte er sich an die Setlist vom Konzert in Wiesbaden vor wenigen Tagen gehalten, wäre anschließend "I Keep Faith" aus dem 2008er-Album "Love & Justice" zum Zuge gekommen, doch in Bochum spielt er lieber die elektrisierendste all seiner Gänsehautnummern, "Levi Stubbs' Tears", bevor er, von rechts nach links über die Bühne wuselnd, das Publikum bei "A New England" (wie schon anfangs bei "To Have And To Have Not") die Refrains allein singen lässt und das Konzert so, vorhersehbar zwar, aber dennoch mit einem letzten Highlight, zu Ende geht. Wir würden ihn dann bei der Fußball-EM im Sommer in Polen oder der Ukraine wiedersehen, am liebsten bei einem Finale England gegen Deutschland, gibt uns Bragg noch mit auf den Weg. "Schweinsteiger darf dann ruhig wieder einen Elfer schießen!"

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Surfempfehlung:
www.billybragg.co.uk
de.wikipedia.org/wiki/Billy_Bragg
www.anaismitchell.com
en.wikipedia.org/wiki/Anaïs_Mitchell
Text: -Simon Mahler-
Foto: -Simon Mahler-

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