Die Mainzer Nordmole bietet Konzerte direkt am Wasser. Im Hintergrund erinnern vor sich hin rostende Ladekräne an die besseren Zeiten unten am Hafen, die neu angelegten, frisch asphaltierten Zufahrtswege dagegen verheißen, dass dieses Open Air-Venue in Kürze irgendwelchen Bürotürmen mit Rheinblick wird weichen müssen. An diesem Abend wird es allerdings noch einmal richtig voll vor der Bühne, und sogar der Wettergott spielt mit. Es ist zwar kühl, aber der befürchtete Regen bleibt aus. Doch nicht nur deshalb ist die Stimmung vor dem Konzert relaxt. Die Tatsache, dass alle Eingeweihten wissen, was kommt (oder zumindest meinen zu wissen), nimmt dem Abend zunächst etwas von der nervösen Energie, die früher vor Dylan-Auftritten immer im Publikum spürbar war. Als allerdings erst die Roadies rauskommen, um mit Edding auf der Setlist herumzumalen, und nicht viel später auch noch ganz neue Setlisten gebracht und Songtexte für Dylan aufs Klavier geklebt werden, ist klar: Heute wird alles anders.
Als es um 21.35 Uhr und damit deutlich später als angekündigt endlich losgeht, gibt es dennoch zunächst einmal Erwartbares. Die erste halbe Stunde ist identisch mit dem Beginn praktisch aller Konzerte seit Herbst 2013. Die Oscar-prämierte Großtat "Things Have Changed" macht den - wenngleich in Mainz unerwartet leblosen - Auftakt, "Workingman's Blues #2" glänzt mit neuem Arrangement und teilweise neuen Zeilen, und mit "Duquesne Whistle" und "Pay In Blood" gibt es zwei der besten Songs aus "Tempest", Dylans bislang letztem Album mit eigenen Songs, kurz hintereinander. In dem Moment allerdings, als Gitarrist Stu Kimball eigentlich zur Akustikgitarre hätte greifen müssen, um "Tangled Up In Blue" zu beginnen, schnappt er sich die Halbakustische und begleitet Dylan und den Rest der Band bei einer Weltpremiere, denn zum ersten Mal überhaupt gibt es an diesem Abend "Full Moon & Empty Arms" aus Dylans Anfang des Jahres veröffentlichtem Sinatra-Covers-Album "Shadows In The Night" zu hören - noch dazu in einer Version, in der Dylan genauso schön singt wie bei der Studioversion. Die Standing Ovations dafür gibt's sogar schon eine Strophe zu früh...
Einmal in die Welt von Swing und Jazz eigetaucht, zaubert Dylan danach zum ersten Mal in diesem Jahr "To Ramona" aus dem Hut, mehr noch, er verpasst dem Country-Walzer von 1964 erstmals seit Menschengedenken wieder ein wirklich schönes Arrangement und gewinnt dem Stück zwischen Jazz und lateinamerikanischem Flamenco-Flair ganz neue Seiten ab. Einmal warm geworden, dauert es auch nicht lange bis zur nächsten Weltpremiere: Passend zu gleich zwei Walzern im Programm covert Dylan erstmals überhaupt Willie Nelsons "Sad Songs And Waltzes" und gibt dabei seinem Pedal-Steel-Gitarristen Donnie Herron die Chance, ganz tief in den Country-Bunker hinabzusteigen. Überhaupt ist die Band einmal mehr der heimliche Star der Veranstaltung. Während Dylan früher oft gegen seine Musiker anspielte, macht er nun merklich mit ihnen gemeinsam Musik. Alleingänge kommen dabei in Mainz fast ausschließlich von der Country-seligen Pedal-Steel, während Stu Kimball zumeist an der Akustikgitarre die Struktur vorgibt und Charlie Sexton ohne großes Aufhebens als Sologitarrist ohne Soli die Lücken füllt, wenn Dylan am Klavier mal vom Weg abkommt. Statt lauter Blues-Rock-Shuffles gilt das Hauptaugenmerk nun Jazz und Western Swing, und dazu passt es, dass Dylan immer wieder hinter dem Flügel hervorkommt, um sich in der Bühnenmitte ohne Instrument als mit dem Mikroständer spielender Crooner alter Schule zu präsentieren - als wirklich passabler sogar, denn seine Stimme klingt gar nicht so zerschossen wie bei vielen anderen Konzerten der letzten Jahre.