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Take Root Festival

Groningen, De Oosterpoort
04.11.2017

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Tift Merritt
"Warum kommt ihr denn aus Deutschland nach Groningen zum Take Root Festival?", wollte ein interessierter Niederländer gerne wissen, "gibt es denn in Deutschland keine solchen Festivals?" Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Nein, die gibt es nicht - jedenfalls nicht in dieser Konsequenz. Auf fünf Bühnen spielen an einem Tag 20 Acts aus dem sogenannten Americana-Sektor. Das bedeutet dann ungefähr acht Stunden kumulierten Musikgenuss mit allen Schattierungen des Genre-Sammelbegriffs: Roots Rock, Folk, Country, Rock'n'Roll, Blues, Gospel und immer wieder zeitloses, klassisches Old-School-Songwriting standen ergo auf dem Menü. Und das von Acts, die in den meisten Fällen nie oder nur selten den Weg über die Landesgrenze auf unsere Bühnen finden. (Was sich aber für diese auch kaum auszahlen würde, denn die Generation, die sich in den Niederlanden für diese Art von Musik begeistert, hat sich in Deutschland nahezu geschlossen ins vernunftbegabte Privatleben zurück gezogen, in dem Musik keine gewichtige Rolle mehr zu spielen hat.)
In diesem Jahr fand bereits die 20. Auflage dieser Traditionsveranstaltung statt, die schon seit einigen Jahren im Kongresszentrum De Oosterpoort residiert, das in diesem Jahr auch restlos ausverkauft war. Wohl auch aus diesem Grund war das Programm so gestaffelt, dass stets mehrere Veranstaltungen parallel stattfanden. Der Gedanke, den Besucherstrom auf diese Weise zu entzerren, schlug indes grandios fehl: Alle Shows waren jeweils dergestalt gut besucht, dass diejenigen, die nicht rechtzeitig zum jeweiligen Wunschort migriert waren, das Nachsehen hatten. Selbst die beiden großen Spielstätten - mit 1.150 bzw. 450 Sitzplätzen - platzten zuweilen aus allen Nähten. Die Konsequenz dieses Interesses war dann, dass das ganze Festival am Ende eine unglaublich hektische Angelegenheit wurde, denn neben den Spielstätten gab es noch Dependancen diverser lokaler Plattenläden, Merchstände und diverse Restaurationen zu begutachten. Gänzlich ausgeschlossen war es z.B., alle Shows aufzusuchen (geschweige denn etwa anzuschauen). Freilich: Diesen Stress dann auf sich zu nehmen, lohnte sich insbesondere für Genrefreunde dann schon, denn das breit gefächerte Angebot bot schlicht für jeden Americana-Freund unzählige potentielle Highlights.
Los ging es mit einem Auftritt von Laura und Lydia Rogers aus Muscle Shoals, Alabama. Die beiden raumgreifenden, stimmgewaltigen Secret Sisters werden schon mal als weibliche Variante der männlichen Harmonie-Gesangs-Duos der 60s verglichen (also den Everly Brothers zum Beispiel) und haben sich auf die folkigen Aspekte des Songwriter-Genres spezialisiert. Obwohl sie ihre Roots durchaus im gospel-geprägten Kirchenumfeld sehen - und eben aus der Heimstatt des Memphis-Soul kommen -, halten sich Soul- und Gospel-Elemente in ihrem Tun in Grenzen. Stattdessen setzen die Mädels auf eher poppige Folksongs, in denen natürlich die Gesangsparts im Zentrum stehen. Zwischen den Stücken werfen sich Laura und Lydia dann spitzzüngige Bonmots zu. Eigenartig: Lydia Rogers platziert ihr Gesangsmikro vor der Nase und singt von unten in dieses hinein, während Laura Rogers vorwiegend mit geschlossenen Augen singt.

Tift Merritt ist gerade als Support von Jason Isbell auf Tour und trat - wie dieser - auch beim Take Root-Festival auf. Anfang des Jahres veröffentlichte Tift ihr siebtes Album "Stitch Of The World", auf dem sie sich nach dem ruhigeren "Traveling Alone" auch wieder fülligeren Band-Arrangements widmete. Freilich überwogen bei ihrem Solo-Auftritt in Groningen wieder die ruhigen Töne. Begleitet von einem Pedal-Steel-Gitarristen wechselte Tift dabei nonchalant zwischen akustischer Gitarre, Flügel und zuweilen (für "Traveling Alone") einer Telecaster-Gitarre hin und her. Gewandet in ein offensichtlich selbst gefertigtes Retro-Kleid dominierte Tift den zweitgrößten Saal des Oosterpoort alleine mit ihrer enorm tragfähigen, wandlungsfähigen Stimme und jenen fahrig/nervösen Gesten, die sie im Laufe der Zeit zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Leider war diese Show eine der letzten Möglichkeiten, Tift Merritt live zu erleben, da sie sich nun zunächst dem Wohlergehen ihrer inzwischen 18 Monate alten Tochter widmen wird.

"Wir sind Amerikaner aber wir kommen in Frieden", begrüßte im Anschluss Alynda Segarra - besser bekannt als Hurray For The Riff Raff - das Publikum von der Bühne des großen Saals. Besonders friedlich war das anschließende Set dann - zumindest musikalisch, aber auch inhaltlich - nicht wirklich. Mit einer unglaublichen Energie stürzte sich insbesondere Alynda selbst ins Geschehen - während die ausgezeichnete Band vergleichsweise cool im Hintergrund agierte und für eine mehr als solidem druckvolle Basis sorgte. Während Alynda nominell die Geschichte des aktuellen Albums The Navigator als Basis hernahm, wechselte sie spätestens, als sie die Gitarre beiseite stellte und zum Gesangsmikro griff, in den voll orchestrierten Agitprop-Modus, den sie insbesondere zur Beginn ihrer Karriere noch als Folksängerin zum Mittel ihrer Wahl gemacht hatte. Sagen wir mal so: Die junge Patti Smith hätte eine Show wie diese auch nicht wesentlich effektiver hinbekommen. Poesie hingegen gibt es bei Alynda nur im übertragenen Sinne. Stattdessen gab es einen variantenreichen musikalischen Frontalangriff, den man in dieser druckvollen, rockigen Form dann vielleicht doch nicht erwartet hätte.

Page Burkum und Jack Torrey aus Minnesota, die ihr Bandprojekt The Cactus Blossoms nennen, sind zwar nur Brüder im Geiste - dass der Conferencier die Herren aber mit den Everly Brothers verglich, lag nicht nur an den stolz zur Show getragenen Retro-Outfits der Band und den angenehm austarierten Gesangsharmonien der beiden Frontleute, sondern auch an der Vorliebe für Retro-Harmonien, Old-School-Akkordfolgen und klassischen Songformaten aus den Bereichen Folkpop, Country-Gospel, Rockabilly oder Tex-Polka, die die Jungs allerdings druckvoll rockend und durchaus mit Schmackes präsentierten. Der eigenartige Mix aus orthodoxen Retro-Elementen und einem durchaus zeitgemäßen Sound führte übrigens dazu, dass David Lynch die Cactus Blossoms für einen Cameo-Auftritt in der aktuellen "Twin Peaks"-Staffel verpflichtete.

Die Cordovas aus Nashville sind eine klassische Southern-Rock-Band der jüngeren Generation. Obwohl die Band im Rolling Stone auf der aktuellen Liste "10 New Country Artists You Need To Know" gelistet wird, beschränkt sich das Quintett konsequent auf die Tugenden des Southern Rock-Genres. Die Allmann Brothers, Dickie Betts oder Little Feat quillen da zwischen allen Saiten (und Tasten) hervor, ohne dass die Herren das verleugnen würden oder sich gar dafür schämten, die Idole so konsequent zu verehren. Dazu gibt es allerdings auch gar keinen Grund, denn die Cordovas schreiben ausgezeichnete Songs, gefallen durch ihre auf den Punkt eingekochte musikalische Virtuosität und den ausgefeilten, zuweilen fünfteiligen Harmoniegesang. Außerdem haben sie das Songformat im Griff: Während die Altvorderen selbstverliebt zum ziellosen Gegniedel tendierten, haben die Cordovas stets den Bogen raus und bringen Songs auch mal zu Ende, wenn sie fertig sind.

Margo Price ist die ungekrönte Königin des politisch motivierten Country-Protestsongs. Wo andere Vertreter "ihrer" Musikgattung sich gerne in sentimanetalen, kitschigen Herzschmerz-Thematiken verlieren (und gefallen), legt Margo Price die Finger gerne in die offenen Wunden des sozialen und politischen Zusammenlebens. Bei ihr gibt es Songs zum Thema Cocaine-Cowboys, Gleichberechtigung, Equal-Pay, Date-Rapes oder andere Themen, die die arbeitende Normal-Bevölkerung betreffen könnten. Obwohl Margo den Großteil ihrer Show damit verbrachte, ihre brillante Live-Band Pricetags (in der auch ihr Gatte Matt Ivey mitspielt) zu dirigieren, brachte sie "ihre" Thematik mit einer eindrucksvollen Solo-Performance des Titeltracks ihrer zweiten LP "All American Made" auf den Punkt. In dem Song, den sie zuvor bereits mit ihrer Band Buffalo Clover spielte, listet sie all das auf, was Amerika groß machen könnte, wenn es denn nicht immer alles in die falsche Richtung ausgelegt würde. Eine Prise Soul und eine souveräne Präsentation des Songmaterials machten diese Show zu einem echten Highlight - insbesondere für die deutschen Fans, denn relativ geradlinige Country-Mucke wie diese findet auf unseren Bühnen so gut wie nicht statt.

Chuck Prophet ist natürlich ein Haudegen der alten Schule. Nicht umsonst nannte er sein letztes Album "Bobby Fuller Died For Your Sins". Insofern durften sich die Fans, die sich in einer unglaublichen Anzahl vor der offenen Bühne im Foyer des Oosterpoorts versammelt hatten, natürlich auch auf eine solide Old-School-Rockshow freuen. Mit der aktuellen Besetzung seiner Band The Mission Express (aber ohne Gattin Stefanie Finch) stürzte sich Chuck in bewährter Manier in ein rockiges Set, in dem er seine Faible für musikalische Maßlosigkeit erstaunlich gut im Griff hatte. Zwar gab es das eine oder andere Solo zu bestaunen und auch das eine oder andere Duell mit seinem Gitarristen James Prato - aber viertelstündige Endlos-Orgien suchte man zum Glück vergeblich. Da es Chuck - tagesformabhängig - ja ansonsten nicht so mit der Einhaltung von Zeitplänen hat, hatte er sich einen Trick ausgedacht und eine Wanduhr mit der Aufschrift "Chucks Clock" auf den Boden gelegt.

Im Falle von Eilen Jewell war die Sache dann nicht mehr so ganz einfach: Die "Queen Of The Minor Key" hatte zuletzt das Country-Album "Sundown Over Ghost Town" vorgelegt, dem dann das aktuelle Werk "Down Hearted Blues" folgte - eine Sammlung von Blues-Songs, die sie mit ihrer Band dann allerdings auf der Scheibe mit Rhythmn'n'Blues-Treatments aufnahm. In Groningen präsentierte sie sich allerdings (bis auf Gitarrist Jerry Miller) in einem akustischen Setting in der Optik einer klassischen Jazz-Band. Sei es drum: Es ging hier auf der Bühne eindeutig um den Blues. Anhand des Titeltracks erläuterte Eilen dann auch, wie sie zu dieser Musik gekommen sei: Im Alter von 19 habe sie zu ersten Mal Liebeskummer gehabt. Auf der Suche nach einer Art von Trost sei sie dann auf eine LP von Bessie Smith gestoßen, auf der sich auch die Originalversion von "Down Hearted Blues" befunden habe. Auf dieser Scheibe habe Bessie viel über Gin gesungen - also habe sie angefangen Gin zu trinken und dadurch sei ihr Liebeskummer dann verflogen. "Ich bin Bessie Smith unendlich dankbar, weil sie mir beigebracht hat, Gin zu trinken", erklärte Eilen dann mit einem Augenzwinkern. Musikalisch gab es klassischen, elektrischen Blues zu hören, dem freilich durch das ansonsten akustische Umfeld jegliche Rock-Assoziationen entzogen wurden (obwohl Jerry Miller durchaus druckvoll spielt). Und zum Schluss gab es noch eine kleine Jam-Session am Rande der Bühne, bei der Eilens Gatte Jason Beek vom Drumkit ans Waschbrett wechselte und einige Songs im Ragtime-Format dargeboten wurden.

Sam Outlaw ist der Vertreter einer bei uns nicht so gängigen Country-Stilrichtung, die man SoCal-Country nennt. Das ist eine vergleichsweise sonnig angelegte Variante dieser Musik-Gattung, die von Los Angeles (der Hauptstadt dieser Bewegung, wie Outlaw erklärte) mit Westcoast-Inspirierten Vibes aufwartet. Ursprünglich inspiriert von Western Swing, Klassikern wie George Jones und der christlichen Musik, die in seinem Elternhaus gespielt wurde, entwickelte Outlaw seine eigene Variante dieser Art von Musik - die vor großen Gefühlen, tränendrüsigen Geschichten und einer gehörigen Portion Schmalz nicht zurückschreckt, aber andererseits auch rockige Töne mit einschließt. So gab es denn ein ständiges Auf und Ab zwischen sentimentalem Sülz a la "Angeleno" und eher mitreißenden, düster geprägten und druckvoll vorgetragenen Nummern wie "Ghost Town". Musikalisch gab es da freilich nichts zu meckern. Sam Outlaws Band besteht aus versierten, virtuosen Szene-Cracks aus L.A. Und New York und obendrein hatte er sich mit gleich zwei Damen verstärkt: Keyboarderin Michaela Anne, eine Songwriterin in eigenem Namen, von der Outlaw auch einen Song ins Programm aufnahm und Gitarristin/Sängerin Molly Jensen sorgten mit ihren Hi-Lonesome-Harmonie-Vocals für eine interessante gesangliche Verstärkung Outlaws. Da saß am Ende jeder Ton, jede Nuance, jeder Break und jeder Schlenker genau dort, wo er auch hingehörte, so das unter dem Strich - und ungeachtet der schwankenden Qualität des Songmaterials - ein positiver Gesamteindruck der Show zum Abschluss des Festivals zurück blieb. Keine Frage: Bands wie diese, die erkennbar ihre ganze Freizeit im Übungskeller verbringt, findet man nur in den USA. Oder auf dem Take Root Festival.

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Surfempfehlung:
www.takeroot.nl
www.facebook.com/TakeRootFestival
Text: -Ullrich Maurer-
Foto: -Ullrich Maurer-

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