Los ging es mit dem offiziellen musikalischen Programm am 25.08. mit einem R'n'B-Set von
Kaleo Sansaa auf der sogenannten Pavillon-Bühne. Das Pavillon war dabei eine nicht überdachte Open-Air-Bühne im Eingangsbereich des Festivals - was sich im Folgenden aufgrund der Regen-Breaks noch als Problem erweisen würde. Kaleo - die sich selbst als Experimentalistin bezeichnet - spielte ein auf Soul und R'n'B basierendes, elektronisches Downtempo-Set mit HipHop-Anleihen und widmete sich dabei inhaltlich den auch Festival-übergreifend angesagten Leitmotiven Awareness, Empowerment und Gender-Identity - wobei sie ihre Songinhalte mit ihren unnötig provozierenden Ansagen gleich wieder relativierte.
Albertine Sarges ist ja sowieso gerade mit ihre Band
Sticky Fingers auf Tour - da nahm es natürlich kein Wunder, dass sie in ihrer Heimatstadt dann auch bei dem Festival mitmachte. Das machte auch Sinn, weil Albertine a) bei Max Riegers Projekt All diese Gewalt mitgemacht hatte, das später am Abend dann auch eine Performance absolvierte und b) ihr Drummer Robert Kretschmar einen Tag später auch bei seiner "anderen Chefin" Masha Qrella spielen würde. Albertine Sarges gehört dabei zu jener Spezies von Künstlerinnen, die sich ihren Spaß an der Freude über ihr Tun noch nicht mit lässiger Routine und durchkalkulierter Professionalität verdorben hat. Logischerweise überträgt sich dann die Begeisterung der Musiker auch auf das Publikum - selbst im Sitzen. Alleine die Möglichkeit, mit der ganzen Band auf der großen Bühne im Kesselhaus performen zu können, wirkte sich dabei förderlich auf die Spielfreude der beteiligten Musiker aus.
Andreya Casablanca erzählt ja gerne unüberlegten Quatsch ohne Punkt und Komma (Wie z.B. "Ich habe gerade gerülpst") und versprüht dabei dabei jede Menge Spaß und Lebensfreude. Das war schon bei Gurr so und das ist auch bei ihrem Solo-Projekt nicht anders. Anders als ihre Gurr-Freundin Laura Lee, die sich mit ihrem Projekt Jettes auch weiterhin der Rockmusik verpflichtet hat, ist Andreyas DIY-Programm jedoch wesentlich experimenteller ausgelegt. Zwar spielte Andreya die meisten Tracks schon auf der Gitarre - ließ sich dabei aber von elektronischen Beats und Grooves aus der Loop-Station und dem Computer unterstützen. Gelegentlich kamen dabei sogar Disco-Knaller heraus - und hohe Kunst: "Das nächste Stück ist eine Cover-Version. Wenn ihr erratet, was das ist, könnt ihr ja mitsingen", kündigte sie etwa eine auf Latein dargebotene Darkwave-Version des Gebetes "Ave Maria" an.
Dann ging es mit dem Auftritt der Elektronik-Künstlerin
Apex Anima und der Pole-Dancerin
FRZNTE auch schon los mit den "Commissioned Works". Dabei ging es - wie erwähnt - um Auftragsarbeiten, die den üblichen Konzert-Anspruch durch die Vermischung von Genre- und Disziplin-übergreifende Kunstformen deutlich erweitern sollten. In diesem Fall trafen die Dark-E-Pop-Songs von Andrea "Apex Anima" Einarsdóttir auf die von einer kunstvoll vernebelten Light- und Projektions-Show unterstützte Pole-Performance von FRZNTE - bei der es vor allen Dingen darum ging, die voyeuristischen Elemente dieser Kunstform durch eine geschickte Dramaturgie in eine "Geste des Empowerment" umzudeuten.
Der Kopenhagener R'n'B-Songwriterin
Erika de Casier gebührte danach die Ehre, die Regenzeit mit ihrer Performance auf der Pavillon-Bühne zu eröffnen. Offensichtlich irritiert durch den unerwartet großen Zuspruch Schirm-tragender Fans, die sich im strömenden Regen vor der Bühne ballten (was dazu führte, dass an den Folgetagen dort Absperrungen aufgestellt wurden), musste Erika einen Song abbrechen und neu starten, bis sie dann in den Groove finden konnte. Feinheiten wie z.B. der Umstand, dass Erika mit einem Perkussionisten und einer klassischen Akustik-Gitarristin auftrat (was ja für ihren souligen, elektronischen Produktionsstil eher atypisch ist), gingen dabei ein wenig unter, während ihr souliger Gesang schon für die eine oder anderen Gänsehaut sorgten. Nun ja - es war dann auch ganz schön kalt...
Auf der Flucht vor dem Regen hatten sich dann im Palais einige Interessierte versammelt, um sich das Commissioned Performance-Werk "4 Walls" des vielseitig tätigen Musikers, Tänzers, Choreographen, Regisseurs und Poeten
Flockey Ocscor (und seines Partners
Kodia Funk) anzuschauen. Wegen einer Verspätung waren zu diesem Zeitpunkt die belgische
Choolers Divsion auf der Bühne tätig. Die Choolers Division sind dabei ein HipHop-, E-Pop- und Rap-Ensemble, das den integrativen Charakter des Festivals dadurch repräsentierte, dass die beiden MCs des Projektes - die Gründungsmitglieder Kostia Botinke und Philippe Marien - beide von Trisomie 21 beeinträchtigt sind (was man deren Auftritt aber nun wirklich nicht anmerkt). Die Show von Flockey Ocscor war dabei weniger als Musik-Konzert gedacht, sondern offenbarte sich als spannender Mix aus Tanzperformance, Pantomime, Spoken-Word-, Gesang- und Rap-Vortrag, einem eingespielten Video-Musik-Clip in dem Flockey mehrere Rollen spielte und einem erstaunloich zärtlich aus der Gitarre gekitzelten Live-Blues-Instrumental von Flockey's Tanzpartner Kodia Funk zum Thema "Liebe und Hoffnung").
Mit einer weiteren Auftragsarbeit von Max Riegers Projekt
All diese Gewalt im Kesselhaus endete der erste Tag des Festivals dann. Eigentlich hatte der Nerven-Sänger All diese Gewalt als Solo-Projekt losgetreten, um dort andere Dinge ausprobieren zu können als den IndieRock seiner Mutterband. Für das Pop-Kultur Festival gab es jedoch ein besonderes Konzept: Zum einen agierte Rieger hier mit einer kompletten Band, die für geradezu hypnotische, orgiastische Soundkaskaden sorgte, die seinen doch sehr melancholisch (wenn nicht sogar desolat) angelegten Selbstbespiegelungs-Elegien den notwendigen Live-Punch verpassten. Es war dann allerdings die optische Umsetzung, die aufmerken machte. Denn die Musiker waren gar nicht klar zu sehen, sondern während der ganzen Show hinter Stoffbahnen verborgen, die von der Deckenkonstruktion des Kesselhauses hingen und als Projektionsfläche für die Schatten der von hinten beleuchteten Akteure herhalten musste.
Auch der zweite Tag begann mit einem Open-Air-Set beim Pavillon. Bei
JAN handelt es sich nicht um eine Person, sondern um ein Projekt aus London und Warschau, das elektronische Club-Tracks aus vorhandenem Material und Effekten remixt und neu gestaltet. Unterstützt wurde JAN dabei von dem Künstler, Lyriker und Musiker
Wojchech Bqkowski mit einem Spoken Word-Beitrag. Da es zum Konzertbeginn um 18 Uhr noch taghell war, war nicht so ganz zu erkennen, was man als Zuschauer mit einem offensichtlich für dunkle Clubs gemachtem Set wie diesem anfangen sollte.
Ebenfalls in das Festival integriert war das Ambient- und Esoterik-Projekt
Kollektiv Sexes, das mit Yoga-Übungen, Vorträgen, Tanz- und Bewegungs-Performances und ein wenig Klangkunst - nun ja, wie soll man sagen - einen Ruhepol auf dem Gelände bildete. In einem durch transparente Vorhänge unterteilten Raum präsentierten sich z.B. Acts wie das Damen Duo
Lonely Boys, das mit Stimmen und Effekten auf betont autistische Manier entspannte Klangflächen erzeugte. "Lonely Boys erzeugen Cyborg-Emotionen, die das Gefühl vermitteln, unerbittlich menschlich zu sein", hieß es im Ankündigungstext. Hm.
Das "Düster-Post-Punk" Trio
Paar sorgte dann erst mal für einen Zeitverzug - einfach weil Ly Nguyen, Rico Sperl und Matthias Zimmermann eine halbe Stunde zu spät auf dem Gelände eintrudelten. Paar machen mit ihren manischen Performances vor allen Dingen deutlich, wovon sie sich musikalisch beeinflusst sehen - und das sind die druckvoller agierenden Darkpop-Bands der ausgehenden New Wave-Phase der 80er Jahre - wie z.B. Sisters Of Mercy, March Violets oder Joy Division. Allerdings geht es Paar nicht darum, diesen Musikstil zu recyclen, sondern mit neuem Leben und frischer Energie zu befeuern. Insbesondere der Umstand, dass Paar mit Ly Nguyen eine charismatische Frontfrau haben, die die Band ständig mit ihrem bewegungsintensiven Tambourin-Spiel antreibt und vor allen Dingen indem sie darauf verzichten mit einem Live-Drummer zu arbeiten (dafür aber einer hypraktiv programmierten Rhythmus-Maschine) verleiht ihrem Stakkato-Rock eine gewisse Unerbittlichkeit, die keinen Widerstand duldet.
Auch die in Berlin ansässige Amerikanerin JJ Weihl hatte es sich nicht nehmen lassen, mit ihrem Projekt
Discovery Zone eine Auftragsarbeit anzunehmen. Nun ist das ja so, dass Live-Shows von Discovery Zone eh schon immer einen Mix aus Live-Performance, programmierter Musik, Field Recordings und vor allen Dingen Video-Projektionen darstellen. Demzufolge konnte es bei ihrem Projekt "Cybernetica" eigentlich nur darum gehen, nochmal ordentlich eins draufzusetzen. So wurde die Projektions-Technik mit einer Art 3D-Effekt mit eigens angefertigten Animationen und Computergrafiken aufgebohrt und die Science-Fiction- und Phantasieszenarien, die JJ eh immer schon verwendet, durch Fake-Adverts und einer ziemlich persönlichen Collage mit visualisierten Kindheits- und Jugenderinnerungen JJs ergänzt. Verstehen muss man nicht immer alles, was JJ Weihl macht - unterhaltsam und interessant war aber auch dieses Projekt.
Das Debüt-Album der auf Ibiza aufgewachsenen, aber inzwischen auch in Berlin ansässigen studierten Architektin (sowas kann man sich nicht ausdenken)
Ava Vegas war bereits im letzten Jahr erschienen - aber erst jetzt kann sie daran gehen, ihren bemerkenswert eigenständigen Mix aus englisch- und deutschsprachigen Singer-Songwriter-Pop-Songs auch mal in angemessenem Rahmen im Live-Kontext zu präsentieren. Ava ist übrigens etwas sehr Bemerkenswertes gelungen: Denn ohne das irgendwie herauszustellen, haben sie und ihre Musiker einen ganz eigenen Stil gefunden, ihre angenehm unkonventionell komponierten Songs jenseits von klassischen Americana- und Folk-Konventionen in leichtfüßigen, originellen, organischen Arrangements zu verpacken. So auch auf der Bühne des Kinosaals 3. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Ava schlicht die richtigen Inspirationsquellen ausgesucht hat - wie etwa die coolen Coverversionen von Velvet Undergrounds "I'll Be Your Mirror" oder Carly Simons "You're So Vain" eindrucksvoll belegten. Außerdem hat Ava eine angenehm charmante Art, sich in ihrer Performance auf träumerische Art zu verlieren. Das machte ihre Show dann zu einem echten - weil in dieser Form unerwarteten - Highlight.
Auch
Masha Qrella war noch nicht dazu gekommen, das Material ihrer letzten LP "Woanders" live zu präsentieren und war nun freudig angespannt, ihre Show im Kino 3 als Aufwärmgig für ihre anstehende Club-Tour nutzen zu können. "Woanders" ist bekanntlich ein besonderes Projekt für Masha - weil sie hier erstmals nicht mit eigenen Texten, sondern mit deutschsprachigem Material des verstorbenen Schriftstellers Thomas Brasch arbeitete, zu dem sie eine emotionale Verbindung verspürt hatte, die sie dazu bewogen hatte, ausnahmsweise mal nur die Musik für dieses Projekt zu schreiben. Wie sich auch bei diesem Trio-Konzert herausstellte, führte das aber zu interessanten, unerwarteten Ergebnissen - denn indem Masha ihre Musik inspiriert von den Texten Braschs schrieb, entstanden dabei selbst für sie unerwartete Ergebnisse. Bestes Beispiel dafür ist der Club-Track "Geister", in dem sie die von Brasch beschriebene, aber von ihr selbst nicht erlebte Situation eines Disco-Besuches in Form eines elektronischen Dancetracks wiedergibt und so in die eigene Vergangenheit eintaucht. So oder ähnlich ist das auch bei den anderen Tracks von "Woanders" - weswegen sich Masha dazu entschloss, ausschließlich die neuen Songs zu spielen. Musikalisch offerierte sie das Material in einem lebendigen Mix aus organischen und elektronischen Bestandteilen mit improvisatorischen Elementen. Gerne hätte man dem Treiben noch etwas länger zugeschaut - aber um Mitternacht war dann erst mal Schicht im Schacht.
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