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Schlangenlinien

Reeperbahn Festival 2021 - 2. Teil

Hamburg, Reeperbahn
24.09.2021/ 25.09.2000

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William Fitzsimmons
Nach einer Pause im letzten Jahr gab es nun auch wieder einen "Schweizer Tag" auf dem Reeperbahn Festival; sogar wieder inklusive des berühmt/berüchtigten Raclette-Empfangs für Fachbesucher, vor allen Dingen aber einem ganzen Line-Up aus Schweizer Acts auf der Spielbude XXL.
Den Anfang machte die junge Pop-Elevin Ilira Gashi, die nach ersten Erfahrungen beim ESC schließlich mit einer Reihe von Hitsongs wie "Royalty", oder "Dynamite" reüssierte und über das Projekt Alle Farben als Sängerin bei dem Song "Fading" auch bei uns Bekanntheit erlangte. Zwar lebt die Frau mit den Kosovo-Albanischen Wurzeln in der Schweiz - um Kulturen geht es in ihren Songs aber weniger. Vielmehr verarbeitet Ilira in ihren R'n'B-Pop-Songs ihr wohl recht chaotisches Liebesleben - wie das ja auch Usus ist in diesem Genre. Freilich tut sie das mit einer fast schon kindlichen Naivität und Offenheit, sodass es sie gleich schon wieder sympathisch macht. Natürlich klingt Pop-Musik wie diese - die ja alleine vom Produktionsvolumen und vom stilistischen Zeitgeist lebt - in akustischen Solo-Versionen schon recht seltsam, aber als unverfängliche Einstimmung auf den Festivaltag, war Iliras Show durchaus zu gebrauchen.

Eine lange Anreise hatten Black Sea Dahu um die Geschwister Janine, Vera und Simon Cathrein hinter sich, wie Vera Cathrein dem inzwischen zahlreich angetretenen Publikum im Folgenden erklärte. Drei Filme hätte man sich auf der Reise angeschaut - und alle seien schlecht gewesen, und dennoch habe es sich zweifelsohne gelohnt, die zehn Stunden Fahrt auf sich zu nehmen, um in Hamburg endlich mal wieder vor Publikum auftreten zu können. Black Sea Dahu hatten ja eigentlich als Projekt im Rahmen der Matura-Arbeit Janines begonnen. Doch im Laufe der Jahre hat sich die Band von den ursprünglichen Folk-Roots weitestgehend abgesetzt und einen stets interessanten und abwechslungsreichen Crossover-Stil entwickelt, der sich gar nicht recht kategorisieren lässt, aber äußerst förderlich für die komplexen Kompositionen Janines sind und (zumindest bei längeren Konzerten wie jenem auf der Spielbude) zuweilen für eine regelrecht spirituelle Stimmung und ausgedehntes musikalisches Miteinander sorgt. Inzwischen können Black Sea Dahu auf eine echte Fangemeinde zählen - was dazu führte, dass bei diesem Konzert der Platz auf dem Spielbudenplatz langsam eng wurde.

Eine echte Überraschung war der Auftritt der dänischen Songwriterin Sofie Dopha Daugaard Andersen und ihrer Band auf dem Lattenplatz vor dem Knust. Denn präsentiert sich Dopha im richtigen Leben als sympathische, ein wenig schüchterne Person, die ihre autobiographisch geprägten Pop-Songs ohne großen Anspruch als musikalische Tagebucheinträge verkauft, so präsentiert sie sich als Live-Musikerin im Leder-Outfit, Bad-Girl-Make-Up und gekonnt implizierten Stadien-Posen als Rock-Queen mit Attitüde und präsentierte die Songs ihres Debüt-Albums "The Game" dann zumindest im knackigen Power-Pop-Modus - teilweise aber auch mit einer Prise Punk-Power. Auf der Scheibe deutete sich Dophas Vorliebe für rockigere Töne bestenfalls an - auf der Bühne lebt sie diese Vision aber konsequent aus.

Einer ganz anderen Vision konnte man dann im großen Saal der Elbphilharmonie beiwohnen - Inéz Schaefer und Demian Kappenstein aka Ätna zusammen mit der NDR Bigband. Zwei Welten, scheinbar schwierig zu vereinen? Elektronik auf der einen, Bigband und Jazz auf der anderen Seite? Das passt schon zusammen, wie dieser Abend zeigte. Die Ätna-Songs wurde so um einige Dimensionen erweitert, natürlich wurde auch der Bigband gestattet, sich musikalisch auszutoben, während Ätna eher die Begleitung spielte. Da fügten sich die berühmtem Rädchen bestens ineinander und die vielen Menschen auf der Bühne schienen bei bester Laune. Natürlich sollte man schon Ätna-Fan sein, um das alles richtig genießen zu können, denn Inéz' Vorliebe, ihren Gesang mit unzähligen Effekten zu versehen und dadurch nicht mehr ihre eigene Stimme erkennen konnte, ist vielleicht nicht für jeden Geschmack geeignet - und warum sie ausgerechnet bei diesem Auftritt eine meterlange Rapunzel-Haarverlängerung mit sich herumtragen musste (und sich des Öfteren bei Tanzeinlagen darin herhedderte), bleibt wohl ihr Geheimnis.

Die inzwischen in Berlin heimische Songwriterin Ava Vegas, die anschließend im Indra-Club im Rahmen eines internationalen Showcases auftrat, gehört zu jener Spezies von Performerinnen, die sich noch die Mühe machen, auf der Bühne etwas mehr als eine Projektionsfläche für das Publikum zu präsentieren. Es mag daran liegen, dass Ava gewisse Erfahrungen als Schauspielerin, eine stilsicheren visuelle Vision oder die richtigen Inspirationsquellen hat - jeden traut sie sich, die brillanten Songs ihres selbst betitelten Debüt-Albums - sowie einen neuen Song und das Carly Simon-Cover "You're So Vain" mit ihren Musikern nicht einfach nur einfach vorzusingen, sondern mit eleganten, theatralischen Gesten zu illustrieren und sozusagen auszuleben. Und zwar vollkommen ohne Geschmäckle, unpeinlich und ganz so, als sei so etwas heutzutage noch normal. Dass das funktioniert, hängt auch damit zusammen, dass sie als lockere, sympathische Quasselstrippe das Publikum mit kleinen Anekdötchen (wie zum Beispiel der Geschichte von der stechfreudigen Wespe im Portemonnaie ihrer Keyboarderin) auf ihre Seite zieht. Schön, dass es sowas jenseits des klassischen, unnahbaren Mainstream-Pops überhaupt noch gibt.

Mitten in der Pandemie veröffentlichte die englische Songwriterin Katy J. Pearson ihr Solo-Debüt-Album "Return", das sie geschrieben hatte, nachdem ein schiefgegangener Major-Deal (den sie zusammen mit ihrem Bruder hatte einstielen wollen) sie fast den Glauben an das Gute in der Musikbranche gekostet hatte. Offensichtlich ist es Katy aber gelungen, diese Erfahrungen songwriterisch in pure musikalische Lebensfreude umzumünzen. Jedenfalls wenn man nach dem gehen darf, was sie und ihre inspirierte Band auf der Bühne des Imperial-Theaters zum Abschluss des dritten Festivaltages hinzauberten (für den sie eigens den Weg über den Kanal gesucht hatten). Da folgte ein genial hinkomponierter und beseelt zu epischer Form aufgebohrter Power-Pop-Hit dem nächsten, wurde abgerundet mit dem M. Ward-Cover "Poison Cup" und ließ kein Auge trocken. Der dezente Americana-Touch und das Folk-Flair einiger Songs, die auf der Konserve noch eine gewisse Rolle gespielt hatten, waren schnell vergessen: Das war eine gut gelaunte, spielfreudige Rock-Show, die den begeistert herumhampelnden Musikern mindestens genauso viel Spaß machte wie den Zuschauern (die freilich maskentragend auf ihren Sitzen verharren mussten). Kurz gesagt: Das war dann sicherlich ein Highlight des Festivals - und musste bei der Auswahl der Bewerber für den Anchor-Award schlicht übersehen worden sein.

Der letzte Festival-Tag begann mit einer eher unschönen Episode. Aus irgendwelchen Gründen hatte man sich entschlossen, an diesem Tag (in "normalen" Jahren der Tag mit dem dichtesten Besucherandrang und dem reichhaltigsten Angebot) tagsüber kaum Musikacts zu buchen, so dass für das Fachpublikum im Prinzip bis zum Nachmittag Gelegenheit bestand, sich ungestört mit Meetings und Vorträgen zu beschäftigen. Leider fiel in diesen Zeitraum dann auch eine Demonstration von Coronaleugnern, Impfgegnern und anderen Egoisten, die mit einem Autokorso den innerstädtischen Verkehr um die Reeperbahn nicht unerheblich behinderten. Unschön war das insbesondere unter dem Aspekt, dass die Festivalbesucher unter gerade jenen Einschränkungen zu leiden hatten, derentwegen die Schwurblerblase die uneingeschränkte persönliche Freiheit für sich reklamieren.

In den letzten Jahren vor der Pandemie war es eine fast schon liebgewonnene Tradition, dass es auf dem Festival immer wieder zu spontan inszenierten, zusätzlichen Programmangeboten kam - wofür teilweise sogar Guerilla-Spielorte entstanden. An so etwas war in Pandemiezeiten ja nun wirklich nicht zu denken, so dass es Thala umso höher anzurechnen war, dass sie vor ihrer regulären Show im Michel am Abend noch eine kleine Solo-Session in dem Hotel, in dem sie mit ihren Musikern residierte, angesetzt hatte. Dort gab es dann auch für jene Fans, die die Shows von Thala auf dem Festival abonniert hatten, eine schöne Überraschung. Denn neben einigen Tracks ihres Debütalbums, die Thala auf ihrer mit Hall- und Delay-Effekten gewohnt psychedelisch augmentierten E-Gitarre in einfühlsamen Solo-Versionen präsentierte, auch neue Songs zu hören. Das erklärte Thala so, dass sie auf Open Mic-Veranstaltungen am liebsten ihr neues Material testete, da sie dort mit einem redlichen Feedback rechnen könne und nicht darauf angewiesen sei, das normale Publikum mit unfertigen Songs konfrontieren zu müssen. So kamen die Anwesenden dann in den Genuss eines zwar fertigen neuen Songs, der aber noch keinen Titel hatte - wenngleich der Text die eigentlich Titel-heischende Redewendung "To Die For" enthielt (nur mal so als Tipp) und einen noch in der Entstehung befindlichen neuen Track, den Thala erst am Abend zuvor erfunden hatte, der aber bereits einen (Arbeits-)Titel namens "On The Windowsill" hatte. Beide Songs machten in diesem Setting deutlich, dass Thala tatsächlich Phoebe Bridgers' Art des Flüster-Harmonierens sehr verinnerlicht hat. Wie gesagt: Früher gab es solche Festival-Perlen mehr und öfter. Hoffen wir, dass das in Zukunft auch wieder so sein wird.

Teil des regulären Programmes am letzten Festival-Tag war dann der Auftritt von Balbina auf der arte Concert-Stage auf dem Heiligengeist-Feld. Balbina hatte bereits am Tag zuvor einen Gig im aus allen Nähten platzenden Grünspan-Club gespielt. Deswegen überraschte es eher, dass sich bei der Show am Samstag nur eine überschaubare Zahl von Zuschauer(innen) auf der größten Spielfläche verloren. Balbina konnte ihre Erleichterung darüber, dass es ihr nun endlich wieder möglich war, auf einer größeren Bühne vor Publikum aufzutreten, dennoch kaum verbergen. Schließlich war Balbina besonders hart von der Pandemie getroffen worden, da es ihr ja nicht möglich gewesen war, die Produktionskosten ihres kurz vor der Pandemie erschienenen, independent realisierten vierten Albums "Punkt" auf einer Tournee wieder einzuspielen. Auf der arte Stage präsentierten sich die Künstlerin und ihre bis auf den Gitarristen Leo Eisenach elektronisch agierende Band im Vergleich zu den theatralischen optischen Konzepten der Vergangenheit vergleichsweise neutral in schlichten weißen Hemden und schwarzen Hosen - was sich aber insofern positiv bemerkbar machte, als dass so automatisch der Fokus auf die schnörkellos inszenierten Songs und die Texte gelegt wurde. Balbina ließ es sich nicht nehmen, auf die Wichtigkeit der für den nächsten Tag anstehenden Wahlen aufmerksam zumachen und nutzte auch die Gelegenheit, trotz allem ihre Dankbarkeit für die Freiheiten, die ihr in unserem - wie sie sagte - privilegierte Lande möglich sind, zum Ausdruck zu bringen. Der geradlinige Modus, in dem die Songs dargeboten wurden, führte dann dazu, dass das Publikum die Künstlerin nochmals für eine Zugabe auf die Bühne locken konnte. "Warum so fröhlich ein Set abschließen, wenn man man die ganze Stimmung noch mal so richtig runterziehen kann, oder?", kündigte sie selbstironisch ihren Publikums-Hit "Kaputt gehen" an und setzte damit einen nachdenklichen Schlusspunkt.

Laura Lee hatte ja schon in verschiedenen Inkarnationen auf dem Reeperbahn Festival gespielt. 2016 erstmalig und 2019 letztmalig mit ihrer Freundin Andreya Casablanca und dem gemeinsamen Projekt Gurr und im letzten Jahr mit einer Vorstufe ihres aktuellen Projektes, das bis letztes Jahr noch Jettes und ab sofort nun Laura Lee & The Jettes heißt. Der Grund, warum sie in diesem Jahr nochmals auf dem Festival auftrat ist der, dass das erste Album von Laura Lee & The Jettes - "Wasteland" - nun fertig ist und noch dieses Jahr erscheinen wird. Das aus einem Duo-Side-Projekt mit Melody Connor hervorgegangene Ensemble hat sich mittlerweile zu einer eingespielten Band mit druckvollem Sound entwickelt, an dem der in vielen Berliner Band als graue Eminenz tätige Gitarrist Mark Lewis (der auch die erste Jettes-EP produziert hatte), nicht ganz unschuldig ist. Laura Lee & Co. haben sich einen interessanten Mix aus Grunge-Rock und Power-Pop US-amerikanischer Prägung auf der einen Seite und urtypischen Deutsch- und Krautrock-Elementen auf der anderen ausgesucht. Mit "Absolut" gibt es - ähnlich wie bei Gurr auch - sogar einen Song, der auf Deutsch gesungen wird. Einen ersten Gig hatten Laura Lee & The Jettes noch im Molotow Backyard gespielt und auch wenn das Ganze als rockiger Festival-Schlusspunkt für das Festival-Village durchaus geeignet erschien, war der zweite Auftritt auf der Fritz-Bühne dann doch eher undankbar, denn weiter war die Band noch nie von ihrem Publikum entfernt (wie Laura Lee meinte). Auch wenn der Funke in solcher Situation nicht so recht überspringen konnte: Der manischen Energie, den knackigen Power-Chords und der motorischen Unerbittlichkeit des Ensembles konnte man sich als Zuschauer dann doch nicht ohne weiteres entziehen.
Auf seinem aktuellen Album "Ready The Astronaut" beschäftigt sich der große Melancholiker William Fitzsimmons (neben Scott Matthew der einzige US-Songwriter, der den Weg auf das Festival gefunden hatte) im übertragenen Sinne mit dem Thema Eskapismus - nach eigener Aussage, um seinen unzähligen musikalischen Beziehungsdramen, Testamenten falscher Entscheidungen, Entschuldigungen und Liebesbeweisen mal eine andere Perspektive abgewinnen zu können. Nicht, dass sich das bei seinem abschließendem Solo-Auftritt im Imperial Theater irgendwie bemerkbar gemacht hätte. Während er auf dem Tonträger noch mit Synthesizern und Elektronika arbeitete, brachte er sein Anliegen auf der Bühne ziemlich ungefiltert zum Vortrag. Bewaffnet alleine mit einer akustischen und einer elektrischen Gitarre und einem kleinen Effektgerät, mit dem er seine Stimme doppeln konnte, lebte William die Nachwehen seiner letzten Scheidung ebenso aus, wie die versöhnlichen Seiten seiner Beziehungs-Chroniken und auch den Status der Beziehung zu seiner inzwischen dritten Ehefrau und zu seinen Kindern. Da all das wenig Anlass zum Lachen bietet, spielte William in den Ansagen sein komödiantisches Talent aus, mit dem er die melancholische Grundtendenz seiner Songs auf kurzweilige Weise zu konterkarieren wusste. Und mit der Wahl seiner Cover-Versionen - "I Want It That Way" von den Backstreet Boys und "The King Of Wishful Thinking" von Go West aus dem Film-Soundtrack von "Pretty Woman" (den seiner Meinung nach besten modernen Popsong ever) - gab William erstaunliche Eindrücke in seine musikalischen Vorlieben, die sich ansonsten ja eher auf Kollegen wie z.B. Sufjan Stevens bezieht. In gewisser Weise war dieses friedfertige, entspannte Konzert des sympathischen Meisters der schwelgerischen Melancholie dann der ideale Ausklang für ein Festival, das ansonsten nicht frei von stressigen Situationen gewesen war.

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Text: -Ullrich Maurer / David Bluhm-
Foto: -Ullrich Maurer-


 
 

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