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Pop-Kultur Festival 2023 - 1. Teil

Berlin, Kulturbrauerei
30.08.2023

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Anika
Zum neunten Mal bereits stand die Berliner Kulturbrauerei im Zeichen der inklusiven, multikulturellen, barrierefreien und geschlechtsgerechten Kulturförderung im Rahmen des Pop-Kultur Festivals, das nach wie vor so viel mehr ist, als ein weiteres Musikfestival im Sommer. Nachdem das Festival bereits in den letzten Jahren mit seinem Mix aus Konzerten, Theater-Performances, Commissioned Works, Film-Screenings, Vorträgen und Diskussionsrunden beeindruckte, kam in diesem Jahr mit der Aufnahme des Rahmen-Formates "Can You Kick It - Yes We Can!" noch eine weitere Dimension mit einem Fokus auf die anstehende Fußball-EM im nächsten Jahr hinzu. Um das mal so auszudrücken: Zwingend notwendig wäre das nicht gewesen, denn das Pop-Kultur Festival gehört aufgrund des überwältigend komprimierten Angebotes mit hunderten von möglichen, dicht getakteten Themenpunkten an drei Tagen zu jenen seiner Art mit dem höchsten FOMO-Faktor überhaupt - aber es zeigt den Weitblick der Veranstalter, Kuratoren und ihrer (politischen) Verbündeten.
Diese luden zunächst zur Eröffnungsveranstaltung am ersten Tag, bevor es dann erst am Abend mit ersten öffentlichen Konzerten los ging. Hier spielte Charlotte Brandi zur Einstimmung ausgerechnet ihr Lied vom "Ekel" - aber wohl nicht, um ihre Abscheu zum Ausdruck zu bringen, sondern weil dieses aufgrund der interessanten, dramatischen und melodischen Strukturierung ziemlich viel von dem in sich vereint, was Charlotte heutzutage in ihren deutschsprachigen Songs anzubieten hat. Danach erklärte Katja Lucker - Kuratorin und Geschäftsführerin des Music Board Berlin - noch ein Mal das inzwischen komplexe Geflecht aus Zuständigkeiten, Organisationen, Unterstützern und Politik, das dem Festival seine vielfältige Angebotspalette überhaupt erst ermöglicht - und hatte dazu aus der Politik den Berliner Kultursenator Joe Chialo und die Kultursprecherin der FDP, Anikó Glogowski-Merten eingeladen, die ihrerseits noch ein Mal auf die Wichtigkeit der Beziehung zwischen Kultur und Politik hinwiesen. (Claudia Roth, die im letzten Jahr diese Adresse übernommen hatte, sollte später zum Thema "Fußball" sprechen.) Und nicht überraschend wies Pamela Owuse-Brenyah (neben Christian Morin und Yesim Duman Teil des dreiköpfigen Programm-Teams) darauf hin, dass es mit einen mit einem Fokus auf afrikanische KünstlerInnen einen weiteren Schwerpunkt auf dem Festival geben sollte. Ein weiterer, übergeordneter Schwerpunkt brauchte gar nicht mehr adressiert zu werden, weil er so offensichtlich ist: Das Pop-Kultur Festival ist das Festival mit dem höchsten Frauenanteil auf den Bühnen. Wer wollte, konnte sein Programm im Rahmen des Keychange Akzentes sogar ganz in dieser Hinsicht ausrichten.

Ganz gut los ging es in dieser Richtung dann auch gleich mit dem Auftritt von T'neeya im Maschinenhaus. Die aus Kamerun stammende Berlinerin hat sich das musikalische Brückenbauen auf die Fahnen geschrieben. Dabei halfen ihr zugleich das Gitarrenspiel ihres kamerunischen Vaters, wie auch die Gospel-Affinität ihrer deutschen Mutter wie es in der Bio heißt. Offensichtlich gehören dazu aber auch selbst erworbene Kenntnisse in Sachen R'n'B, Jazz und Soul. All das verquickt T'neeya - unterstützt von einer slicken Band und mit mehrsprachigen Ansagen - zu einem attraktiven Mix, den man als Crossover Afro-Beat-R'n'B-Pop bezeichnen könnte. Das Label ist dabei aber weniger wichtig, als die echt starken Songs und die vor Empowerment-Attitüde strotzende Bühnenpräsenz T'eenyas. Kurzum: Ein starker Einstieg, wie man ihn sich für ein Festival dieser Art gar nicht effektiver vorstellen hätte können.

Mit Anikas Commisioned Work "Lost Voices" ging es dann auch gleich im Kesselhaus weiter. Ursprünglich war das Projekt bereits für das letzte Jahr angekündigt gewesen - war aber wohl noch nicht reif für die Präsentation. Im Wesentlichen bestand die Performance dann aus einem Live-Konzert, bei dem Anika mit ihrer Band im Wechsel die Songs ihrer aktuellen LP "Change" vortrug und vor einem beeindruckenden Backdrop Gedichte zum Thema aller verlorenen Stimmen rezitierte, deren Texte parallel dazu auf die Wand des Kesselhauses projiziert wurden. Ursprünglich war geplant gewesen, das in einem Kopfhörer-Setting zu präsentieren - was aber zugunsten einer größeren Reichweite in diesem Jahr aufgegeben wurde. Denn mittlerweile hat sich Anika - nicht zuletzt aufgrund eines gefeierten Band-Auftrittes auf dem Synästhesie-Festival und einer anschließenden, wenngleich Pandemie-bedingt verschobenen Tour - einen echten Rockstar-Status erworben - auch wenn sie das selbst sicherlich nicht so sieht. Das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass Anika als Performerin ihre Schüchternheit in therapeutischer Hinsicht ausnutzt und das Publikum heutzutage auch immer öfter aktiv mit auf die Reise in ihre musikalischen Schattenreiche einlädt. Das war dann - auch atmosphärisch und visuell - stimulierendes Erlebnis für die Zuhörer.

Auch im RambaZamba-Theater gab es dieses Jahr wieder Commissioned Works zu bestaunen. Back to Back gab es hier im Haupt-Saal und auf der Probebühne zwei sehr unterschiedliche Acts zu begutachten. Zusammen mit dem multidimensional arbeitenden Elektronik-Spezialisten Neil Mendoza präsentierte die unter ihrem Projektnamen Portrait XO agierende, in Berlin ansässige visuelle Künstlerin und Musikerin Rania Kim eine Installation im Grenzbereich zwischen Projektion, Improvisation, Avantgarde, künstlicher Intelligenz und nicht zuletzt Musik - denn wenn sich Portrait XO auf konventionelle Songstrukturen und Gesang einlässt; was sie gelegentlich tatsächlich tut, kommen dabei zugängliche, fast poppige Momente zustande. Parallel zur Performance entstanden im Hintergrund dabei der Musik bzw. den Geräuschen angepasste, durch AI erzeugte Visuals, mit denen Portrait XO dann wiederum interagierte.

Die Performance der ebenfalls in Berlin lebenden Konzeptkünstlerin Krista Papista auf der Probebühne des RambaZamba war dabei im Vorfeld als "queerfolkloristisches Punkspektakel" mit dem malerischen Titel "Fucklore:Bellringers" ausgelobt worden. Der Gedanke dabei war wohl, das Thema von Kristas letztem Album "Fucklore" auf ein ganz primales, archaisches Level herunterzubrechen - und zwar ausgerechnet mit Kuhglocken, die sich Krista um den Körper gebunden hatte. Das war dann kreative Anarchie im Urstadium. Die Performance bestand aus verstörender Destruktivität (es ging so einiges zu Bruch), viel Geschrei, noch mehr rhythmischer Gewalt, schrägen Gitarrensounds und einem allgemeinen, provokativen, performerischen Pandämonium. Die Mühe, einzelne Stücke namentlich und inhaltlich anzukündigen, hätte sich Krista eigentlich sparen können - unterhaltsam war das aber natürlich schon. Und so etwas bekommt man auf "normalen" Festivals gewiss niemals zu Gesicht.

Natürlich geht es bei dem Pop-Kultur-Festival nicht darum, konventionelle Acts zu präsentieren, die gerade sowieso auf Tour sind - zuweilen passt das dann aber dennoch ins Bild, nur dass dann stets genau die richtigen KünstlerInnen verpflichtet werden. Im letzten Jahr begeisterte die Australierin Grace Cummings mit ihrer im Vergleich zum sonstigen Programm konventionellen, aber brillanten Americana-Rock-Show - und in diesem Jahr war es ihre (inzwischen in den USA lebende) Landsfrau Indigo Sparke, die mit ihrer beeindruckenden Solo-Show die Fahne klassischer Songwriter im ansonsten eher experimentell ausgerichteten Festival-Setting aufrecht erhielt. Ganz nach dem Motto "weniger ist mehr" präsentierte Indigo ihre Songs im reduzierten Folk-Setting, bat darum, das grelle Licht herunterzufahren und begeisterte alleine mit dem Songmaterial ihrer beiden LPs "Echo" und "Hysteria" und natürlich ihrer hypnotisch einfühlsamen Stimme - übrigens in einem klangtechnisch perfekt austarierten Setting. Interessanterweise setzte sie dabei nicht alleine auf die Balladen aus ihrem Programm, sondern präsentierte auch Rocknummern wie "Golden Ribbons" im Folk-Setting, auch wenn Elegien wie "Sad Is Love" eher am Herzen rühren. Eine neue LP ist gerade in Arbeit - die Fans werden sich allerdings bis nächstes Jahr gedulden müssen.

Rockmusik ist ja für gewöhnlich kein zentrales Thema auf dem Pop-Kultur Festival - dennoch finden sich immer wieder einige exemplarische Beispiele aus diesem Sektor. In diesem Jahr etwa nutzte der schwedische Wahlberliner Leonard Kaage mit seinem aktuellen Bandprojekt Errorr (zu dem auch André Leo c/o Lucy Kruger/Medicine Boy gehört) die Erfahrungen die er als Berliner Staple-Musikus bei Acts wie Brian Jonestown Massacre, Tess Parks oder Swans gesammelt hatte, um seinem Verständnis von krachig/psychedelischen Power-Pop-Hits Vortrieb leisten zu können. Und davon haben Errorr jede Menge im Gepäck - und dazu Rockstar-Sendings-Bewusstsein inkl. stadienreifer Gesten, Krautrock-Unerbittlichkeit und wohl dosierter psychedelischer Feedback-Orgien. Die Jungs rockten mit echten Star-Qualitäten zur großen Begeisterung des Publikums - darunter einer ganzen Sektion von Fans des Orange Blossom Festivals - den Frannz-Club als gäbe es kein Morgen mehr. Erkennen ließ sich das leider nur im Gewittersturm gelegentlicher Stroboskop-Impulse, denn das Licht blieb in der Tradition des Clubs dann eher aus.

Im Grunde genommen machen auch die Cumgirl8 (die "8" dient nur der Abgrenzung und wird "s" gesprochen) aus New York Rockmusik. Aber mit einer ganz anderen Attitüde als die Errorr-Rocker. Bei den Damen um die sympathisch unsortierte Gitarristin Veronika Vilim geht es mindestens genauso viel um Showwomanship, Glamour, Vaudeville, Empowerment, Romantik, Hedonismus, Attitüde und Gender/Sex-Politics wie um musikalische Provenienz irgendwo zwischen Postpunk, Schrammelpop, Dekadenzrock und Electro-Clash vs. Glamrock. Da geht es dann vor allen Dingen darum, cool auszusehen und dem Publikum den matriarchalischen Stinkefinger zu zeigen bzw. dem Patriarchat musikalisch in den Popo zu treten. Das ist natürlich alles politisch ziemlich aufgeladen - macht aber auf jeden Fall dennoch auch Spaß - auch deswegen, weil das simpel strukturierte Material im ausnahmsweise gut ausgeleuchteten Frannz-Club sehr gut funktioniert.

Im Palais-Club war im Folgenden dann noch die Show des Kreuzberger Crossover Rappers BRKN in vollem Gange. Der Mann mit türkisch/armenisch/kurdischen Wurzeln hatte das Publikum fest in der Hand und machte dann auch das Beste daraus - beispielsweise indem er rappend/singenderweise die Treppe zum Backstage-Bereich erklomm und einen Song von der Balustrade performte, so dass sich das Publikum komplett umdrehen musste, um dem Vortrag zu folgen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, versteht BRKN auch etwas von Musik, arbeitet mit einer Band statt mit Backing-Tracks, spielt selber auch Klavier und - auf der Bühne - auch Saxophon. Das war alles in allem genresprengend unterhaltsam.

Im Anschluss an die Show von BRKN war die der norwegischen Elektronik-Spezialistin und Pop-Songwriterin Ary angesetzt. Aufgrund dessen, dass die Technik-Crew für den Umbau der Bühne - auf der eine Podest für die Performance aufgebaut werden musste - und dem Aufhängen eines riesigen Vorhanges ganze 40 Minuten brauchte, konnte Ary mit ihren Tänzerinnen technisch gesehen erst am frühen Donnerstagmorgen mit ihrem Set beginnen. Ariadne "Ary" Loinsworth gehört zu jener Sorte von Selfmade-Women, die von einer fremdbestimmten Inszenierung als pflegeleichte Pop-Prinzessin nicht so viel hält und hatte sich nach dem tragischen Tod ihres Zwillingsbruder (dem sie bis heute musikalisch und spirituell Tribut zollt) dazu entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, die Musik-Produktion von der Pike auf gelernt und schließlich auf ihren im letzten Jahr erschienenen Debüt-Album "For Evig" in Sachen Songwriting, Produktion, Sounddesign und nicht zuletzt dem Einspielen aller musikalischen Elemente alles alleine gemacht. Auf der Bühne verzichtet Ary zwar auf Live-Musiker - hat dafür die Arrangements ihrer Songs für die Live-Shows komplett neu ausrichtet, auf links gedreht und mit deutlich mehr Ohrenmerk auf die rhythmischen Aspekte in Richtung Club-Ästhetik aufgebohrt. Dass die Show dann trotzdem nicht steril als Playback-Event daher kommt, liegt vor allen Dingen daran, dass sich Ary zusammen mit ihren vier Tänzerinnen eine faszinierende Live-Dramaturgie ausgedacht hat, die sie (mit Hilfe eines professionellen Choreographen) dazu einsetzt, wiederum ihre eigenen Stücke auf der Bühne neu zu interpretieren und in gewisser Weise auch auf tänzerische Weise neue Geschichten dazu erzählt. Trotz der späten - bzw. frühen - Stunde gehörte diese Show dann zu den lebhaftesten und kurzweiligsten des ersten Festivaltages; nicht zuletzt auch deswegen, weil sich Ary und ihre Damen mit sympathischem und ergo ansteckendem Enthusiasmus in ihr Tun hineinsteigern. Dass Ary sich auf der Bühne glücklicher fühlt, als im "richtigen Leben" nimmt man ihr gerne ab.
Surfempfehlung:
www.pop-kultur.berlin
www.instagram.com/popkulturberlin
www.facebook.com/popkulturberlinfestival
www.youtube.com/c/Pop-kulturBerlin
Text: -Ullrich Maurer-
Foto: -Ullrich Maurer-


 
 

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