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Multidimensional - Teil 2

Synästhesie Festival

Berlin, Kulturbrauerei
11.11.2023

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Synästhesie Festival
Das Programm des zweiten Festivaltages begann am späten Samstagnachmittag - wie schon so oft an dieser Stelle - mit einer schönen Überraschung im Kesselhaus. Das isländische Virgin Orchestra ist im eigentlichen Sinne natürlich kein Orchester, sondern ein Trio, das sich den Slowcore-Traditionen des Inselstaates auf eine recht originelle Weise verpflichtet fühlt. Mit der Besetzung Cello, Gitarre, Gesang und Elektronica aller Art bewegen sich Stefanía Pálsdóttir, Starri Holm und Rún Árnadóttir auf einer musikalischen Dreampop-Basis an der Schnittmenge zwischen Trip Hop, Darkwave, Shoegaze und Neo-Psychedelia und lassen dabei die Charakteristika ihrer individuellen Disziplinen durchscheinen. Rún Árnadóttir etwa ist eine klassisch ausgebildete Cellistin, Stefanía Pálsdóttir eine Songwriterin/Komponistin und Tontechnikerin und Gitarrist Starro hat ein eigenes, experimentelles Industrial-Projekt. Zusammen ergibt das eine durchaus eigenständige Version skandinavischer Melancholia. Schade nur, dass in klassischer Darkwave-Manier wieder mal wenig bis kaum etwas vom Treiben auf der Bühne zu sehen war.
Besser ausgeleuchtet war in dieser Hinsicht zum Glück die Show von Lucy Kruger und der aktuellen Inkarnation ihres Lost Boys-Projektes im Kesselhaus, zu der neben ihrer Partnerin Liú Mottes auch ihre Landsfrau, die Viola-Spielerin Jean Louise Parker gehört. Lucy hatte sich vor einigen Monaten den Spaß gemacht, zusammen mit Liú eine ganze Show mit ausschließlich neuen, unveröffentlichten Tracks zu spielen (die vermutlich auf dem kommenden Album "A Human Home" zu hören sein werden). So weit ging sie in diesem Fall natürlich nicht, sondern basierte den Großteil des Sets auf dem Material ihrer brillanten aktuellen LP "Heaving". Früher waren Konzerte von Lucy Kruger stets eine recht meditative Angelegenheit. Seit Lucy indes mit Liú Mottes zusammenarbeitet, die mit ihren psychedelischen Effekten das Sounddesign der Lost-Boys-Projekte deutlich ausgeweitet hat, hatte Lucy beschlossen, ihre Performance diesem neuen Sounddesign anzupassen und die Tugend "Zorn" zum Hintergrund vieler ihrer Stücke zu machen. Letztlich äußert sich das durch eine leicht bedrohlich wirkende, manische Performance, die auch auf größeren Bühnen wie der des Kesselhauses ihre hypnotische Wirkung nicht verfehlt. Kurzum: das war dann eine der Shows, für die das Synästhesie-Festival gemacht zu sein scheint.

Die Berliner Musikerin Neta Polturak hat mit ihrem sperrig/unerbittlich/sprödem Psych-Rock- und Kaputnik-Blues-Ansatz - wie es in der Info heißt - versehentlich die Berliner Post-Kraut-Szene wieder aufs Tablett gebracht. Das ist insofern erklärlich und nachvollziehbar, wenn man weiß, dass Neta in der Berliner Szene und mit Musikern der Neubauten, The Fall oder Faust in dieser Hinsicht bereits seit längere Zeit tätig ist. Vergleiche mit Songwriter-Kollegen laufen aufgrund des avantgardistischen Ansatzes Netas ziemlich ins Leere. Auf der ebenerdigen Bühne des RambaZamba-Theaters gab es da eine radikale Implementation des des No-Nonsense Sounds des Neta Polturak Trios.

Im Maschinenhaus war derweil wieder eine Darkroom-Veranstaltung der besonderen Art. Das französische Ensemble Tentative um die charismatische Frontfrau Charlie Perillat und den Soundfrickler Karel Hotchkine musste das ganze Set mit einem attraktiven Mix aus Cold Wave, E-Pop, und Shoegaze-Sounds fast ohne Beleuchtung und in dichte Kunstnebelschwaden gehüllt absolvieren. Dabei hätte es durchaus etwas zu sehen gegeben, denn die Tentative-Bühnenshows sind für ihren Happening-Charakter geradezu berüchtigt. So arbeitete die Band bei dieser Show mit einer quirligen Go-Go-Tänzerin, die aber ebenso in den Schatten herumwerkelte wie auch die mit weit ausholenden Gesten und dramatischen Dance-Moves agierende Charlie Perillat. Und als dann die Gitarristin Alexia Charoud die "distribution de celery" ankündigte und Sellerie-Strünke im Publikum verteilt wurden, artete die ganze Veranstaltung in eine vegetativ motivierte Dance-Party aus, die - man ahnt es schon - auch nicht wirklich zu sehen war. Am Reiz der attraktiven Wave-Sounds des Ensembles an sich, änderte das natürlich nichts.

Wesentlich solider (und sichtbarer) ging es dann zu, als die Warlocks ihre Gitarren im Kesselhaus einstöpselten und dann eine solide Old-School-Psychedelia-Show hinlegten. Die Jungs aus L.A. sind ja schon etwas länger im Geschäft und absolvierten darob ihr Set mit einer Attitüde, die man wahlweise als coole Nonchalance oder standardisierte Routine auslegen konnten. Gemäß des von ihren gewählten Genres verstehen sich Bobby Heckscher und seine Mannen aber auch nicht als Innovatoren oder Entertainer sondern geben sich dem hypnotischen Flow ihrer Musik hin, der von einer ansprechenden Lightshow begleitet wurde. Bands in dieser Art sind ja eine feste Größe auf dem Synästhesie-Festival und die Warlocks reihten sich da - wie erwähnt solide - aber eher unspektakulär ein.

Nochmal im Maschinenhaus zeigte das New Yorker NoWave-TrioNoWave-Trio Pons dann, wo die Messlatte in Sachen explosiver Noise-Rock Attacken heutzutage liegt. Nachdem zunächst mal die Probleme mit einem Laptop auf der Bühne gelöst werden mussten (denn es gibt immer Probleme, wenn ein Laptop auf der Bühne ist), wurde das Licht ausgeschaltet und dann ging's los. Der Reiz des Trios liegt natürlich nicht bei subtilen Zwischentönen oder feinfühligen Lyrics (obwohl es die seltsamerweise durchaus gibt), sondern in der körperlichen Gewalt, mit der sich die drei Jungs da in ihr Material bohren. Das und die Tatsache, dass die Band mit Gitarrist Sam Cameron und den BEIDEN Drummern Jack Parler und Sebastien Carrot ja nun wirklich eigenartig besetzt ist. Musikalisch muss man sich eine Show der "kränksten Party-Post-Punk-Band Brooklyns" vorstellen wie rhythmisches musikalisches Holzhacken. Auch wenn das nun nicht unbedingt jedermanns musikalisches Lieblingsgenre ist, muss den Herren doch der unbedingte Wille zur totalen Verausgabung auf der Bühne anerkennend attestiert werden.

Mit einer ähnlichen Attitüde ging es dann - allerdings in einem konventionellen Band-Setting - im Kesselhaus mit dem Auftritt der Berliner Punk-Könige Die Verlierer weiter. Die Mitglieder der noch relativ neuen Band haben sich aus den etablierten Combos Maske und Chuckamuck rekrutiert - und so ziemlich alle Spielarten des Punk genaustens studiert. Mit einer gewissen Rotznasigkeit, aber auch einer Spur anarchistischer Routine spielten sich die Herren durch ein musikalisch erstaunlich abwechslungsreich strukturiertes Set mit deutschsprachigen Anti-Establishment-Songs. Punk eben - nur zeitgemäß angerichtet - und einer erkennbaren Hochachtung vor altehrwürdigen Vorreitern.

Etwas deplatziert wirkte im Folgenden das Darkwave-Kaputnik-Blues Ensemble The Midnight Audience. Nicht nur für die Band, sondern auch das Publikum schien das Ramba-Zamba-Theater etwa zu klein für die mit epischer Geduld entwickelten, epischen, sich langsam aufbauschenden Slowcore-Grinds, die die Band-Mitglieder als "eine klangliche Verfolgung bestehend aus existenziellen Echos" bezeichnen. Erst im Juli nahmen The Midnight Audience ihre ersten gemeinsamen Tracks "A Place Of Nestling Green" und "Foxglove" im Berliner Hinterraum-Studio auf. Vielleicht gerade deswegen wirkte die Show im Ramba-Zamba-Theater frisch und unverbraucht - auch wenn sich da unweigerlich Assoziationen zu allen möglichen großen Vorreitern der Darkwave-Szene aufdrängten (aber seltsamerweise nie für einen direkten Vergleich ausreichten).

Wie die Macher des Synästhesie-Festivals auf die Idee gekommen waren, ausgerechnet das französische Ensemble La Femme als Headliner für das Kesselhaus zu buchen, kann natürlich nur gemutmaßt werden, aber sagen wir mal so: Das war eine außerordentlich gute Idee. Und zwar deswegen, weil die Psych-Popper um Sacha Got und Marlon Magnée sich in Berlin schlicht als gut gelaunte Franco-Pop-Band mit Ye Ye-Touch und klar chansonesquem Grundgerüst präsentierten, anstatt das verquaste Konzept der letzten drei Studioalben - dem Psychedelia Trip "Paradigmes", dem komplett auf spanisch eingesungenen "Teatro Lucido" und dem musikalischen Reisebericht "Paris-Hawaii" auf der Bühne zu Implementieren. Das Setup bestand aus fünf Keyboards, zwischen denen Got und Magnée - vor allen Dingen aber die reizenden Chanteusen Nina Giangreco und Yse Grospiron - dann hin und her wuselten und je nach Bedarf auch bedienten. Got als Gitarrist und Magnée als Conferencier/Keytar-Player sorgten dabei für die (überhaupt nicht notwendige) Publikumsanimation, während die gleichberechtigt agierenden Damen für das klassische Franco-Pop-Feeling sorgten, während die auf den Studioproduktionen dominierend eingesetzten psychedelischen Spielereien praktisch keine größere Rolle spielten.

Eine Art Nachschlag gab es dann gegen Mitternacht abschließend im Ramba-Zamba-Theater, wo das Berliner Punk-Post-Punk-Quartett Sex Beat seinem Ruf als Abrissbirne einer Generation am Abgrund mehr als gerecht wurde. Frontal-Agitator Florian Pühs und seine Musikanten gaben sich dabei alle Mühe, eine direkte Verbindung vom klassischen Punk bis zum urbanen Rocksound unserer Tage herzustellen. Dass dabei das Instrument von Bassistin Rosa Merino Claros mitten im schönsten Geschrammel ausfiel und erst wiederbelebt werden musste, spielte keine große Rolle - denn sowas gehört ja zum Punk. Sicherlich wäre es der Band gelungen, selbst zu dieser späten Stunde das gesamte Auditorium in einen Mosh-Pit zu verwandeln - wenn denn nur genügend Platz für so etwas gewesen wäre. Sei es drum: Das war natürlich ein Abschluss, wie man ihn sich bei einem Festival dieser Art auch wünscht.
Fazit: Auch ohne offensichtlichen Mega-Headliner bot das Synästhesie Festival 2023 wieder so viel Abwechslung und unterschiedliche Acts, dass eigentlich für jeden etwas dabei gewesen sein müsste - und für viele eigentlich alles irgendeine Art von Reiz ausübte. In musikalischer Hinsicht spricht das natürlich für das Konzept, das Programm ohne Rücksicht auf kommerzielle Erwägungen nach rein persönlichen Gesichtspunkten subjektiv zusammenzustellen. Ob das ein tragfähiges wirtschaftliches Konzept ist oder sein soll, sei mal dahingestellt - für die Fans ist es jedenfalls ein Gewinn. Bitte weiter so im nächsten Jahr!

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Text: -Ullrich Maurer-
Foto: -Ullrich Maurer-

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