Zugegeben, die Idee, 60s-Folk und herrlich altmodischen Country als Inspirationsquelle zu nutzen, klingt im ersten Moment nicht allzu originell. Doch Joan Shelley gelingt es auf ihrem famosen, im Vergleich zu den beiden Vorgängern noch minimalistischer und fokussierter ausgefallenen dritten Album unter eigenem Namen, die altbekannten Zutaten mit so viel Gefühl, Seele und Anmut zu versetzen, dass man als Rezensent gar nicht anders kann, als begeistert zu sein. Denn auch wenn auf "Over And Even" bisweilen das Echo von großen Vorbildern wie Linda Thompson, Joni Mitchell, Sandy Denny oder Vashti Bunyan zu vernehmen ist, gelingt der jungen Dame aus Kentucky und ihrem brillanten Gitarristen Nathan Salsburg hier das Kunststück, in alten Traditionen verwurzelt, aber dennoch nicht typisch rootsy zu klingen. Denn anstatt eine betont heimelige Atmosphäre zu kreieren, setzen Shelley, Salsburg und ihre vereinzelt auftauchenden Gäste an Tasteninstrumenten und Percussion (darunter der frühere Sophia/May-Queens-Kollaborateur James Elkington) hier zumeist auf eine sagenhaft gespenstisch-kontemplative Geisterstimmung. Wo bei vielen ähnlich gestrickten Künstlern schnell Bilder von knackenden Holzscheiten im wärmenden Kamin vor dem inneren Auge des Hörers auftauchen, sind die Assoziationen hier eher Morgentau, Nebelschwaden und ein wohliges Frösteln an einem winterlichen Sonntagmorgen irgendwo tief im Süden der USA. Dazu singt Shelley mit der Reverb-getränkten Stimme einer alten Frau in einem jungen Körper, bei der Zartheit, Wärme und Liebreiz zusammenkommen, und fesselt mit schnörkellosen, aber dennoch poetischen Texten. Das begeistert auch den ebenfalls aus Kentucky stammenden Genre-Großmeister Will Oldham alias Bonnie "Prince" Billy, der hier bei gleich drei Songs die zweite Stimme beisteuert. Das Ergebnis ist eine ruhige und doch intensive Großtat von zeitloser Schönheit.