Wie Bob Dylan oder David Bowie vor ihr, war auch Polly Jean Harvey in ihrer inzwischen mehr als 30-jährigen Karriere noch nie daran interessiert, am Status quo festzuhalten. Trotzdem hat sie sich selten für ein Album so stark neu orientiert, so sehr neu erfunden wie für "I Inside The Old Year Dying". Sieben Jahre sind seit ihrer letzten LP "The Hope Six Demolition Project" vergangen, und in der Zwischenzeit hatte es ein wenig so ausgesehen, als hätte die heute 53-jährige Britin das Interesse verloren, Musik in klassischen Formaten zu schreiben und zu veröffentlichen. Lieber wandte sie sich zuletzt Poesie und Soundtrackarbeiten zu, und beides hat auch spürbar auf "I Inside The Old Year Dying" abgefärbt. Die zwölf Songs des Albums sind inspiriert von Harveys letztem Gedichtband, "Orlam" aus dem Jahr 2022, und letzten Endes vertonte Gedichte, die sie betont freigeistig inszeniert.

Mit den Liedern des Albums zeichnet sie den steinigen Weg durch Kindheit und Jugend der jungen Ira-Abel Rawles nach. Es sind gleich mehrfach um das Thema Tod kreisende Texte, die vollgestopft sind mit autobiografischen Anspielungen und literarischen wie historischen Verweisen, die oft nur schwer zu entwirren oder gar zu entschlüsseln sind. Das spiegelt auch die klangliche Umsetzung wider: Eigensinnig, ja, sperrig waren Harveys Songs auch schon früher, nie allerdings klangen sie freier (und oft auch unheilvoller) als hier. Bisweilen sind ein einsames Klavier oder eine zarte Gitarre und eine Menge atmosphärischer Geräusche und Fieldrecordings alles, was diese hörbar handgemachten, praktisch ausschließlich aus spontanen Improvisationen heraus entstandenen Tracks brauchen, um unbequem und betörend zugleich zu sein. Auch stimmlich betritt Harvey Neuland und singt diese Lieder in tieferer oder höherer Stimmlage, als man das sonst von ihr gewohnt ist - auch das ein Kunstgriff, um das Band zur Vergangenheit zu kappen.

Ein wenig drängt sich dabei der Eindruck auf, dass für Harvey und ihre langjährigen Mitstreiter John Parish und Flood dieses Mal die spannende Entdeckungsreise unterwegs wichtiger war als die Perfektion am Ziel. Vielleicht auch deshalb ist "I Inside The Old Year Dying" ein Werk, dessen Größe sich bisweilen nicht sofort offenbart, all diejenigen, die tiefer eintauchen, am Ende aber reich entlohnt.