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30.09.2011
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JULIA MARCELL

Der Lieder neue Kleider

Julia Marcell
Als Julia Marcell ihr erstes Album, "It Might Like You", über die Internet-Plattform Sellaband feilbot, hatte wahrscheinlich nicht ein Mal die smarte Polin selbst eine Ahnung davon, was daraus erwachsen wurde. Nicht nur, dass das (noch neue, aber sich immer mehr durchsetzende) Prinzip funktionierte, und sie so mit Hilfe ihrer Fans die Produktion der CD finanzieren konnte - so wurde auch der Produzent Moses Schneider auf sie aufmerksam, der immerhin schon den Beatsteaks und Tocotronic unter die Arme gegriffen hatte. Das erste Album komponierte Julia auf dem Klavier - wohl nicht zuletzt als Trotzreaktion, denn ihr Musiklehrer hatte ihr Talentfreiheit auf diesem Instrument bescheinigt. Ein Vorwurf, den Julia nicht auf sich sitzen lassen wollte und der sie in ihrer Abneigung gegen eine klassische Musikausbildung bestärkte. Das nun vorliegende, zweite Album hat mit diesem kammermusikalischen ersten Werk (das mit Stimme, Klavier, Streichern und wenigen rhytmischen Impulsen auskam) schon kaum noch etwas gemein. Mit Riesenschritten und einem ganz neuen Ansatz entwickelte sich Julia hier zur modernen Artpop-Queen. Aber lassen wir sie doch mal selbst erzählen, wie das alles zusammenhängt...

"Ich komme aus Olsztyn, einer kleinen Stadt im Norden Polens", erzählt Julia, die heutzutage in Berlin lebt, "dort bin ich aufgewachsen und habe auch dort begonnen, zu musizieren. Mein musikalischer Background ist ziemlich heimelig. Mein Vater war zwar in einer Band, aber er ist ein Professor an der Uni - hat also mit Musik beruflich nichts zu tun. Aber er und meine Mutter lieben beide Musik. Ich wollte aber immer etwas in Richtung Musik machen. Heutzutage spiele ich Piano und Gitarre, etwas Geige und Drums. Ich mag es, verschiedene Instrumente auszuprobieren." Auf der Bühne spielt Julia selbst aber keine Instrumente? "Nicht für diese Scheibe", führt Julia aus, "ich habe hier dieses Keypad, mit dem ich Samples meiner Vocals abrufe, die gedoppelt und mit Effekten versehen sind. Das ist einfach eine Möglichkeit, mehr Stimmen auf der Bühne zu verwenden. Ich kann diese Samples dann quasi als Instrument oder sogar Rhythmusmaschine verwenden."

Woran denkt Julia denn dann, wenn sie ihre Songs vorträgt? Songwriter, die einen bewusst autobiographischen Ansatz verfolgen, tendieren ja dazu, die von ihnen erzählten Geschichten Abend für Abend neu zu durchleben. "Ich denke gar nicht, wenn ich singe", meint Julia, "denn sobald ich beginne, nachzudenken, irritiert mich das eher. Wenn ich einen Song singe, versuche ich, meinen Verstand abzuschalten und mich nur dem Song oder der Musik hinzugeben. Ich versuche also nicht, einen Charakter darzustellen." Das erklärt vielleicht auch, dass Julia auf der Bühne eher mit ihren Musikern oder den Instrumenten "kommuniziert" als mit dem Publikum. "Ja, das mag wohl sein", räumt Julia ein, "mit der letzten Scheibe war das noch anders, weil ich da am Klavier saß. Aber dieses Mal wollte ich lieber einfach herum tanzen und die ganze Sache weniger bewusst und kontrolliert anzugehen. Das ist ganz natürlich passiert und ich habe mich dem Fluss hingegeben und kann mich so in der Musik verlieren." Wie arbeitet Julia denn mit den Musikern zusammen, die heutzutage im Studio wie auf der Bühne ihre feste Band ausmachen? "Ob ich der Boss bin, willst du wissen?", fragt Julia. "Nun, ich weiß schon, was ich möchte", überlegt sie, "ich schreibe ja die Songs und ich arrangiere sie auch. Ich bringe meinen Musikern dann immer die Arrangements und bitte sie, dieses und jenes zu spielen. Aber ich mag sie ja auch sehr und sehe sie als meine Familie. Ich mag es auch, wenn sie ihre eigenen Ideen einbringen. Das ist schön, weil es auch die Performance jedes Mal lebendig und neu macht." Und wie entstanden die Songs? "Ich schrieb am Computer und baute die Stücke dort Ebene für Ebene um Rhythmen herum auf. Es war, als hätte ich einer Puppe immer mehr neue Kleider angezogen. Die letzte Scheibe habe ich mit dem Klavier oder der Gitarre geschrieben - aber dieses Mal wollte ich einen neuen Ansatzpunkt." Dazu gehören auch Samples, die die Band selbst erstellt. "Ja, wir haben einige Samples im Studio selbst aufgenommen. Sie werden dann überarbeitet und mit Effekten versehen - aber wir machen schon alles selbst." Zuweilen schleichen sich in Julias Arrangements Elemente ein, die sich fast wie liturgische Kirchengesänge anhören. Woher kommt denn das? "Ich denke, das kommt davon, dass meine Eltern viel Klassik hörten, als ich aufwuchs. Die Einflüsse liturgischer Elemente sind in der Tat absichtlich gewählt, weil für mich diese neue Scheibe spirituelle Elemente enthält. Zwar nur andeutungsweise, aber die Einflüsse von Kirchenmusik sind schon vorhanden. Ich kann so die Songs besser erzählen." Das hat also musikalische Gründe? "Ja - obwohl natürlich Spiritualität auch wichtig für mich ist. Als Mensch bin ich da schon interessiert. Aber inhaltlich wollte ich das nicht thematisieren, weil ich nicht genug darüber weiß bzw. mir selbst über meine Gefühle diesbezüglich nicht ganz klar bin. Aber natürlich ist das ein Teil des Lebens, dem ich mich nicht entziehen kann und natürlich fließt das manchmal ein und natürlich versuche ich, meinen Frieden damit zu machen und meine Gedanken dazu auszudrücken."

Was ist denn das, was Julia als Songwriterin inspirierte? "Was mich anregt, einen Song zu schreiben, ist ein inneres Gefühl, dass es wieder so weit ist. Das ist eine Sache, die ich weder kontrollieren noch abschalten kann. Ich habe es versucht und es hat nicht funktioniert. Was mich hingegen inspiriert, sind in der Tat ziemlich kleine Dinge, die ich so gar nicht erwartet hätte. Die eigenen Ideen zu verstehen, ist ziemlich spannend. Es mag vielleicht ein Detail in einem Werbespot sein, das eine Idee auslöst, die ich dann auslote. Es sind kleine, dumme Dinge, die ich mir bewusst gar nicht aussuchen würde und die ich manchmal nicht mal mag - es sind einfach Dinge, die auf mich einwirken. Es ist aber gut so, da ich nicht von einer einzigen Idee oder einem einzigen Künstler beeinflusst sein möchte." Was ist dann die größte Herausforderung dabei? "Also für dieses Album war die größte Herausforderung, es anders und unterschiedlich zum ersten zu machen. Es war schwierig, die ganzen Elemente zu kombinieren. Wir hatten zum Beispiel die ganze Zeit zwei Drummer. Es war eine Menge Arbeit und zuweilen hatten wir - also ich, die Band und die beiden Produzenten Moses Schneider und Ben Lauber - uns ganz schön festgefahren. Wir haben einige Monate damit verbracht, die Songs zu formen. Es war ein ziemlicher Aufwand, der zwar anstrengend war, sich aber gelohnt hat." Und was machte am meisten Spaß? "Die neue Musik live im Studio zu spielen und zu hören und zu feiern, was dabei herausgekommen war." Wie wichtig ist Drama für Julia Marcell - ihre Musik tendiert zuweilen ja schon zu dramatischen Momenten. "Ja, ich weiß", räumt sie ein, "aber das ist kein geplantes Element. Ich sehe mich nicht als dramatische Person oder eine, die das Drama genießt. Ich versuche eigentlich sogar immer einen anderen Weg zu gehen - am Ende klingt es dann aber doch immer wieder dramatisch. Das liegt einfach außerhalb meiner Einflussmöglichkeiten." Muss Musik denn größer als das Leben sein? "Nein - natürlich nicht", meint Julia sehr bestimmt, "ich meine, dass ich mich auch an kleinen Dingen erfreuen möchte, die nicht die Welt verändern wollen, aber ihre Berechtigung haben und genau das sind, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt haben möchte. Nein - Musik muss nicht größer als das Leben sein." Das Ergebnis dieser Herangehensweise sind immer wieder Passagen in Julias Musik zu entdecken, die man so tatsächlich noch nicht gehört hat. Ist das ein bewusster Ansatz? "Ja, denn das ist mein Ziel als Songwriterin. Ich suche immer nach Dingen, die frisch und neu für mich sind. Ich erhebe gar nicht den Anspruch, selber etwas erfunden zu haben - vielleicht hat im 12. Jahrhundert ja schon mal jemand dieselbe Idee gehabt wie ich oder es gibt sie schon auf Scheiben, die ich nicht kenne. Musik ist ja so groß und organisch und Dinge kommen und gehen. Für mich ist es aber neu und frisch - und das ist es, was zählt." Gibt es eine generelle Zielrichtung für Julia? "Ja - und zwar in der Art, die ich gerade beschrieb. Ich möchte mich immer wieder verändern. Mein größtes Ziel ist es, zur Musik etwas eigenes beizutragen. Etwas, das Bestand hat und das andere Leute inspiriert. Es mag zwar ein großes, mutiges Ziel sein. Aber man muss ja schließlich große, mutige Ziele im Leben haben." Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen - außer vielleicht dass Julia Marcell diesbezüglich sicher schon auf einem guten Weg ist...

Weitere Infos:
www.juliamarcell.com
www.myspace.com/juliamarcell
en.wikipedia.org/wiki/Julia_Marcell
www.facebook.com/pages/Julia-Marcell/89480464974
Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Ullrich Maurer-
Julia Marcell
Aktueller Tonträger:
June
(Haldern Pop Recordings/Cargo)
 

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