Fenster schließen
 
12.10.2012
http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=1441
 
TIM BURGESS

Spitze Winkel und neblige Hintergründe

Tim Burgess
Lange Jahre war Tim Burgess in erster Linie Frontmann von The Charlatans, dieser unkaputtbaren britischen Institution, die alle Moden des Britpop in den letzten 25 Jahren miterlebt und vor allem erfolgreich überlebt hat. In letzter Zeit übt sich der sympathisch bodenständige Musiker allerdings im Multitasking: Mit seiner alten Band absolvierte er sowohl Akustiktourneen in kleiner Besetzung als auch große Festivalshows, schrieb und veröffentlichte seine viel diskutierte Autobiografie "Tellin' Stories", gründete das Connaisseur-Label O Genesis Recordings und veröffentlicht nun mit "Oh No I Love You" sogar ein weiteres Soloalbum, sein zweites nach "I Believe" vor neun Jahren.

Ein Blick auf Tims Facebook- und Twitter-Account legt die Vermutung nahe, dass es dieser Tage vor allem die Labelarbeit bei O Genesis ist, die dafür sorgt, dass sein Energielevel dieser Tage gleichbleibend hoch ist. Mit fast kindlich anmutendem Enthusiasmus stürzt er sich auf die Promotion der feinen Releases und freut sich wie ein Schneekönig über jeden einzelnen positiven Review - und davon gibt es inzwischen viele. Anfangs kaum mehr als ein spaßiger Zeitvertreib, ist Tim das Label inzwischen merklich wichtiger geworden. "Mit der Single von Nik Colk Void und der R. Stevie Moore/Vaccines-Splitsingle begann es, ernster zu werden", erinnert er sich im Gaesteliste.de-Interview. "Das R. Stevie Moore-Album hat dann dafür gesorgt, dass OGen weltweit vertreten ist, und das allein finde ich wirklich beeindruckend. Mir gefällt der Gedanke sehr, dass ich bei dem Label an Platten arbeiten kann, die nicht meine sind. Ich mag die Rolle des Produzenten und Plattenfirmen-Moguls." Spricht's und muss lachen. Dabei hat die Betätigung noch einen ganz anderen Hintergrund, wie er verrät: "Mein Freund Bruce Mitchell von Durutti Column hat mir mal gesagt: 'Tim, du musst das Musikbusiness von allen Seiten kennenlernen.' Deshalb war ich zuletzt auch als Roadie für meine Freunde von Factory Floor tätig. Zum einen, weil sie meine Lieblingsband sind, zum anderen, weil ich das Ganze auch aus dem Blickwinkel desjenigen kennenlernen wollte, der auf der Treppe hinter einem Turm Marshall-Verstärker hockt." Unkonventionell war auch Tims Herangehensweise an seinen neuen Alleingang, der in Kollaboration mit Lambchops Kurt Wagner in Nashville entstand.

Anstatt sich wie seit mehr als 20 Jahren bei den Charlatans auf die Texte zu stürzen, schrieb Tim die Musik, während Kurt, auf dem Papier eigentlich der kompetentere Musiker der beiden, die Texte verfasste. Eine Arbeitsteilung, die die beiden bereits vor Jahren beschlossen hatten, nachdem sie sich im Jahr 2000 in Manchester erstmals persönlich über den Weg gelaufen waren. Lediglich die Umsetzung ließ lange Jahre auf sich warten. "Ich habe von Lambchop zuerst 1998 gehört, kurz nachdem die Charlatans 'Tellin' Stories' veröffentlicht hatten", erinnert sich Tim an den ersten Kontakt. "Zu dem Zeitpunkt hatte ich Britpop ziemlich satt und Lambchop brachten frischen Wind. Die ersten Alben, die ich hörte, waren 'Thriller', 'Jacks Tulip' und 'How I Quit Smoking', und sie hatten direkten Einfluss auf die Songs, die ich für das folgende Charlatans-Album 'Us And Us Only' geschrieben habe. Die Musik von Lambchop hat viele spitze Winkel und neblige Hintergründe. Darunter verbirgt sich in vieler Hinsicht ein sehr traditioneller Sound - Old Skool Nu Country Punk. Okay, das Genre habe ich gerade erfunden, aber die genannte Mischung macht den Reiz der Musik aus. Abgesehen davon beweist Kurt mit seinen Texten einen tollen Sinn für Humor."

Herausgekommen ist dabei eine herrlich abgehangene Platte, deren unaufdringlicher, zeitloser Sound nicht zuletzt von den Akustik-Tourneen der Charlatans beeinflusst wurde, wenngleich Tim die Idee eines dezenteren Sounds schon länger im Kopf herumspukte. Entstanden ist die Platte in Nashville, unter der Regie von Lambchop-Produzent Mark Nevers, der die besten Musiker der Music City zu den Sessions einlud. "Ich wollte mit meinem nordenglischen Akzent zu amerikanischer Südstaaten-Musik singen", erklärt Tim seinen Plan. "Ich nenne das Genre Northwestern!" Die Dualität passt nicht nur gut zu Tims breit gefächertem Musikgeschmack, sondern spiegelt auch sein eigenes Leben in den letzten Jahren wider: Nachdem er lange an der US-Westküste gelebt hatte, zog es ihn nach seiner Scheidung vor wenigen Jahren wieder zurück in die englische Heimat.

Großartig ist an "Oh No I Love You" auch, dass hier mehr als bei praktisch allen Charlatans-Platten Tims riesige Leidenschaft für alle erdenklichen Arten und Stile von Musik durchscheint. Der im positivsten Sinne Musikverrückte lässt ständig in kleinen Details große Künstler, Songs oder Genres anklingen, ganz einfach, weil er hier stärker seinem eigenen Instinkt folgen konnte, größere Freiheiten besaß und nicht zuletzt unter weniger Erwartungsdruck stand. "Das war ganz definitiv so", bestätigt er. "Ich habe einfach die Gunst der Stunde genutzt. Ich bin aus einer Laune heraus nach Nashville gereist", erklärt er. "Noch nicht einmal Kurt wusste, dass ich komme. Wir haben uns dann einfach morgens zusammengesetzt, und aus den Geschichten, die ich ihm beim Kaffee erzählt habe, formte Kurt dann bis zum darauffolgenden Morgen Songtexte. Den Rest des Tages und die Nacht über verbrachte ich in meinem Hotel, um Musik und ein paar Textfragmente zu schreiben, um die musikalischen Ideen zu untermauern. Einige davon übernahm Kurt, andere ließ er fallen. Ich habe meine Ideen mit meinen Telefon aufgezeichnet und sie Kurt per eMail geschickt. Er wohnte zwar nur ein paar Straßen weiter, aber der Songwriter in mir fand es romantischer, jemandem etwas zu schicken, anstatt es ihm in die Hand zu drücken. Kurt tat das Gleiche mit seinen Texten. Dieser Arbeitsprozess hat mir wirklich gefallen."

Obwohl es bei den Charlatans stets fünf Meinungen unter einen Hut zu bringen galt, hatten gleich mehrere der letzten Platten auf die ein oder andere Weise einen konzeptionellen Überbau, mal textlich, mal klanglich. So wurde auf dem letzten Album, "Who We Touch", beispielsweise das Thema Winter umgesetzt. Obwohl Tim bei "Oh No I Love You" sein eigener Herr war, verfolgt er hier interessanterweise kein stringentes Konzept. "Das stimmt haargenau", nickt er. "Ich hatte das Gefühl, dass dieses Album kein Konzept benötigte, weil seine Geschichte schon interessant und originell genug war, wenngleich ich damit nicht sagen will, dass es 'Who We Touch' an Originalität gemangelt hätte. Die Idee, einen Sound zu schaffen, der eine Jahreszeit repräsentiert, war toll. Bei meinem Soloalbum hatte ich ein Bein in Los Angeles, der Stadt, die ich hinter mir ließ, und eins in London, der Stadt, in die ich mich neu verliebte. Während diese Metamorphose stattfand, sagte Kurt zu mir: 'Tim, ich werde dein Spiegel sein.'"

Das klingt nach der perfekten Zusammenarbeit. Gab es denn trotzdem Dinge, die Tim nicht erwartet hatte? "Die größte Überraschung war der Text für 'A Case For Vinyl'", erinnert sich Tim an die Entstehung seines Lieblingssongs des Albums. "Der hat mich echt umgehauen - und dabei lag ich bereits!"

Weitere Infos:
www.timburgessmusic.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Tim Burgess
Aktueller Tonträger:
Oh No I Love You
(O Genesis Recordings/Rough Trade)
 

Copyright © 2012 Gaesteliste.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Gaesteliste.de