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02.12.2016
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HALEY HEYNDERICKX

"Ich liebe den menschlichen Kontakt"

Haley Heynderickx
Außergewöhnlich - dieses Adjektiv beschreibt Haley Heynderickx am besten. Denn mit all den anderen jungen Singer/Songwriterinnen, die mit Gitarre und Stimme über den begrenzten Erfahrungsschatz ihres kurzen Lebens schwadronieren, hat die zierliche, sensible Dame aus Portland, Oregon, nur wenig gemein. Sie selbst beschreibt sich als sprunghaft und wäre gerne ein bisschen gradliniger in ihren Gedanken und ihrem Tun, dabei begeistert sie auf ihrer Debüt-EP "Fish Eyes" und nun auch auf ihrer laufenden ersten Europa-Tournee gerade mit ihrer schwer in Worte zu fassenden Melange aus niedlicher Verschrobenheit, unbedingter Ehrlichkeit und einer erstaunlich großen musikalischen Bandbreite, die vermutlich genau das Ergebnis der fehlenden Fokussierung ist. Dabei wirkt sie bei allem, was sie tut, hochintelligent und schnappt scheinbar mit Leichtigkeit alle möglichen Details um sich herum auf, ganz egal, ob es Beobachtungen bei Weihnachtsmarktbesuchen sind oder deutsche Wortfetzen, die sie immer wieder in die Unterhaltung einstreut, als wir sie nach ihrem atemberaubenden Konzert in der Kölner Wohngemeinschaft treffen. Ihre im Folk verwurzelten Songs voller Sehnsucht sind zerbrechlich, aber trotz eines Hangs zu einer gewissen Düsternis auch oft augenzwinkernd humorvoll. Klanglich streift sie dabei Elliott Smith und Angel Olsen, doch als Performerin ist Haley eine echte Naturgewalt, die nicht mehr braucht als eine Akustikgitarre, oft abenteuerliche Tunings und ihre einnehmende Stimme, mit der sie bisweilen sogar an Nina Simone erinnert. Virtuos als Instrumentalistin, immens abwechslungsreich und feinsinnig als Songschreiberin und höchst amüsant als herrlich ungekünstelte Entertainerin - es ist kaum zu glauben, wie viel Talent in dieser kleinen, sensiblen Person steckt.

Allerdings dauerte es eine Weile, bis Haley als Musikerin ihren Weg gefunden hatte. Mit elf Jahren fing sie an, Gitarre zu spielen, aber dass der einzige Gitarrenlehrer in ihrer kleinen Heimatstadt Forest Grove in Oregon ein Bluegrass-Enthusiast war, gefiel ihr zunächst gar nicht, denn ihre Liebe zu traditioneller Musik entflammte erst deutlich später. "In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, war Popmusik mein einziges Ventil", erzählt sie. "Ich begann mich damit in einer Phase zu beschäftigen, in der ich ein ziemlich geringes Selbstwertgefühl hatte und mein Leben nicht besonders mochte. Die Musik war da eine willkommene Abwechslung, und mir meine eigenen Lieder auszudenken, machte mich glücklich und zeigte mir, was es heißt, ein Individuum zu sein, anstatt nur der Popkultur hinterherzuhecheln. Mein Date im College hat Popmusik und alles Moderne vollkommen abgelehnt und ausschließlich Musik aus den 60ern und 70ern gehört. Da ist mir erstmals bewusst geworden, wie sehr ich die Musik dieser Ära liebe. Sie ist so simpel und sie löste in mir ein Gefühl der Verletzlichkeit aus, sie machte mich sichtbar und sie ließ mich menschlicher sein." Deshalb covert sie bei ihren Konzerten auch Oldschool-Folkies wie Bob Dylan oder Jackson C. Frank und schafft dabei das Kunststück, selbst zigfach interpretierten Songs wie "Girl Of The North Country", "It Ain't Me Babe" oder "Blues Run The Game" mit feinem Fingerpicking und viel Gefühl neue Seiten abzugewinnen. Die heutige Popmusik findet sie dagegen ziemlich enttäuschend, weil es ihr an Identität und Kultur fehlt, ganz abgesehen davon, dass inzwischen niemand mehr die Augen davor verschließen kann, dass es sich alles nur noch ums Geschäft dreht. "Ich liebe Musiker, die sich mit einer Gitarre in ein Wohnzimmer setzen, wo alle Beteiligten den Moment gemeinsam erleben", sagt sie bestimmt. "Das finde ich viel spannender als einen Popstar, der Hunderttausende Dollar mit einem Song verdient, den er nur ein paar Jahre spielt, bis seine Karriere vollkommen am Boden ist."

Haley Heynderickx
Bevor nächstes Jahr ihr Album-Erstling entstehen soll, tingelt Haley deshalb nun selbst durch die Bars, Cafés und Theater Europas, verschwitzt und lange Stunden eingepfercht in ein kleines Auto, aber dennoch glücklich, Teile der Welt zu besuchen, die sie wohl nie gesehen hätte, wenn ihr die Musik nicht die Gelegenheit dazu gegeben hätte. "Ich fühle mich wie ein kleines Kind, das herumläuft und sich die Nase an einer Glasscheibe platt drückt", sagt sie lachend. "Es klingt wie ein kitschiger Werbespruch, aber die Musik hat mir viele Abenteuer beschert. Sie hat mir die verschiedensten Beziehungen ermöglicht, mit kreativen Quellen, mit meinen Musikern, mit immer neuen Fremden an jedem Abend auf Tour, und sie hat mir die Möglichkeit gegeben, neue Länder und dadurch verschiedene Facetten von mir selbst zu entdecken."

Ihre laufende Gastspielreise ist nicht ihr erster Abstecher nach Europa. Auch schon bei einem Auslandsstudienaufenthalt in Prag hatte sie hier vereinzelte Auftritte, doch die Möglichkeit, kreuz und quer über den Kontinent zu touren, hat sie erst jetzt - und nutzt deshalb die einzelnen Stopps auch dazu, die Sehenswürdigkeiten zu sehen und lokale Atmosphäre zu schnuppern. "Glücklicherweise reise ich mit einem sehr auf Pünktlichkeit bedachten Freund", verrät sie. "Wir stehen jeden Morgen zeitig auf, frühstücken und gucken uns immer noch ein paar Sachen an, bevor wir ins Auto springen und stundenlang zum nächsten Auftrittsort fahren. Weil wir gestern in Düsseldorf waren, konnten wir uns heute richtig gehen lassen und mussten erst um 9.00 Uhr aufstehen. Wir sind dann nach Köln gefahren und haben den ganzen Tag auf dem Weihnachtsmarkt verbracht. Der größte Energieschub auf einer anstrengenden Tour ist es aber immer, neue Leute zu treffen. Manchmal übernachten wir privat, beim Besitzer des Ladens, und das gibt immer neue Kraft und sorgt für die Geschichten, an die man sich später erinnert." Geschichten, die mitunter auch die Grundlage für neue Lieder sein können, denn Haley scheut nicht davor zurück, auch private Dinge in ihren Texten zu verarbeiten. Sogar aus dem ersten Treffen ihrer Eltern machte sie einen Song. Feste Vorgaben, was in ihren Liedern auftauchen darf, hat sie allerdings nicht. "Ich bin sehr unentschlossen und meine Gedanken schweifen gern wild umher", gesteht sie. "Deshalb vertraue ich ganz darauf, dass mir meine Intuition irgendwann sagt: 'Ah, das ist gut!' Oft habe ich nur eine Melodie und es dauert sehr lange, bis mir klar wird, welche Art von Stimmung die Melodie beschreibt. Manchmal platzt auch einfach eine Zeile aus mir heraus und ich denke: 'Gott sei Dank, jetzt weiß ich endlich, wovon das Lied handelt!'"

Haley Heynderickx
Ihre Songs beschreibt Haley als Selbsttherapie. Sie helfen ihr, bestimmte Ereignisse und Phasen in ihrem Leben zu verstehen, Selbstzweifel auszuräumen, unerfüllte Wünsche zu thematisieren und womöglich auch mal an die eigene Sterblichkeit zu denken. Dennoch dienen ihre Lieder nicht nur diesem Selbstzweck. Genauso wichtig ist ihr, dass sie mit ihren Songs eine emotionale Verbindung zum Publikum aufbauen kann. Deshalb testet sie ihre neuen Stücke in der Regel zunächst einmal bei Open-Mic-Abenden auf ihre Bühnentauglichkeit, wo ihr die Reaktionen helfen zu entscheiden, ob ein Lied nur ihr wichtig ist oder ob es auch für andere Bedeutung haben kann. Doch selbst dann sind die Stücke nicht in Stein gemeißelt. "Songs sind wie Tonerde", glaubt Haley. Natürlich kommt es manchmal vor, dass du einen von ihnen ins Feuer wirfst und sagst: "Ich habe so lange daran gearbeitet, ich werde ihn nie wieder anfassen", aber weil ich daheim ja auch viel mit Bands spiele, haben meine Songs bereits alle möglichen Formen angenommen. Kurz bevor ich zu dieser Tour aufgebrochen bin, habe ich zum Beispiel mit einem Jazz-Ensemble zusammengearbeitet, und es war ein Riesenspaß, die Lieder dafür zurechtzubasteln." Haley weiß, dass alles seinen Platz hat. Sie ist flexibel und passt sich und ihren musikalischen Vortrag den Gegebenheiten an. "Auf der aktuellen Tour muss ich die Leute mit nur einer Gitarre und meiner Stimme unterhalten, und natürlich werde ich das Publikum dabei nicht mit meinem 15-Minuten-Gitarren-Instrumental foltern. Ich konzentriere mich auf die Melodien, um zu den Emotionen vorzudringen, die ich gerne mit den Menschen teilen möchte. Das ist das Tolle am Songwriter-Dasein: Du kannst entscheiden, welche Identität du annehmen willst. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich zu Menschen eine Verbindung aufbauen kann. Ich liebe den menschlichen Kontakt."

Auch wenn sie fraglos bereits jetzt eine ungewöhnlich komplette Songwriterin und Performerin ist, hat Haley stets das Gefühl, zu jung und unerfahren zu sein, um wirklich ernst genommen zu werden. Während andere mit ihren Erfolgen in jungen Jahren hausieren gehen, möchte Haley ihr Alter am liebsten nicht an die große Glocke hängen, denn sie kann es kaum erwarten, älter zu sein. "Mein heimliches Ziel als Musikerin ist es, dass ich langsam zu der alten, weisen Frau werde, die reich an Lebenserfahrung ist und deshalb noch kreativer und unterhaltsamer selbst mit nur einer Gitarre und einer Stimme sein kann", erklärt sie abschließend. "Für den Moment aber erlaubt mir die Musik, einfach ehrlich zu mir zu sein und auf Entdeckungsreise zu gehen."

Weitere Infos:
www.haleyheynderickx.com
www.facebook.com/haleyhannahheynderickx
haleyheynderickx.bandcamp.com
www.youtube.com/user/haleyheynderickx
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Ullrich Maurer-
Haley Heynderickx
Aktueller Tonträger:
Fish Eyes EP
(Eigenvertrieb)
 

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