Fenster schließen
 
15.09.2017
http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=1708
 
EMILY HAINES & THE SOFT SKELETON

Die Perlentaucherin

Emily Haines & The Soft Skeleton
Eigentlich könnte Emily Haines ihr Leben als Popstar in vollen Zügen genießen. Mit dem Dance-Pop-Quartett Metric füllt die auch bei Broken Social Scene aktive Kanadierin seit Jahren in Nordamerika die großen und ganz großen Hallen, aber Glück bedeutet für sie heute nicht Ruhm und Reichtum, sondern eher, mit ihrem drei Monate alten Hundewelpen Romeo in den Tag leben zu können. Gleichzeitig ist sie auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrer ersten Solo-Veröffentlichung immer noch Künstlerin mit Leib und Seele, die Musik stets über ihr häusliches Glück gestellt hat. Einen intimen Blick in das Seelenleben der sympathischen 43-jährigen Singer/Songwriterin gewährt nun "Choir Of The Mind", ihr erster Alleingang in elf Jahren, auf dem sie sich, charakterstark und selbstbewusst in sanfte Melancholie gehüllt, ganz auf sich und ihren ambitionierten Kammer-Piano-Pop konzentriert. Zwar sind auch dieses Mal Mitstreiter aus dem Metric-Umfeld beteiligt (allen voran Jimmy Shaw, der das Album auch abmischte), dennoch fand Emily spannend-innovative Möglichkeiten, die neue Platte noch stärker auf ihre eigene Person zu fokussieren - inhaltlich, aber auch handwerklich. Im Gaesteliste.de-Interview verriet sie, wie es dazu kam.

GL.de: Emily, dein erstes Soloalbum, "Cut In Half And Also Double", erschien vor mehr als 20 Jahren, auch der viel gelobte Nachfolger "Knives Don't Have Your Back" ist bereits elf Jahre alt. Was hat sich in der Zwischenzeit verändert?

Emily: Als ich mein erstes Soloalbum veröffentlichte, hatte ich noch gar nichts erlebt und wohnte noch zu Hause. Das ist für mich heute so weit weg, dass ich mich gar nicht mehr richtig daran erinnern kann. Wenn ich an "Knives…" zurückdenke, kommt mir als Erstes in den Sinn, was für eine unglaublich schwierige Zeit das damals für mich war. Nicht lange zuvor hatte ich meinen Vater verloren, er starb an dem Tag, an dem wir das erste Metric-Album "Old World Underground" in L.A. fertigstellten. Gleichzeitig gingen all meine Beziehungen in die Brüche, und in gewisser Weise schien die Welt, die ich zu kennen glaubte, plötzlich zu verschwinden. Was sich nicht verändert hat, ist die Beziehung zu meinem Instrument. Wenn ich allein mit einem Klavier in einem Raum bin, habe ich das Gefühl, dass ich schlichtweg alles durchstehen kann. Auch wenn ich im letzten Jahrzehnt mit Metric viel Zeit in Hotels, Flugzeugen und seltsamen Hockey-Arenen verbracht habe, bin ich doch immer noch dieselbe.

GL.de: Statt deines neuen Soloalbums sollte ursprünglich erst einmal eine weitere Metric-Platte, ein Schwester-Album zu "Pagans In Vegas" von 2015, erscheinen. Vor zwei Jahren hatte Jimmy im Gaesteliste.de-Interview sogar schon haarklein beschrieben, wie die Platte klingen würde. Was ist passiert?

Emily: Nun, ich bin überzeugt, dass die Karriere einer Band nicht vollkommen ist, wenn du nicht ein verlorenes, verworfenes Album vorweisen kannst und deshalb finde ich es gut, dass wir jetzt eins haben. Bei den Aufnahmen zum "Lost Metric Album" haben wir das gemacht, was wir immer tun: Wir sind einfach losgelaufen, ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommen würde, und haben uns erst anschließend Gedanken darüber gemacht, was mit den Ergebnissen passieren soll. In diesem Fall war es so, dass dabei großspurige Lieder herausgekommen sind, die klangen, als seien sie ein James-Bond-Soundtrack - orchestrale Kompositionen, die meiner Meinung nach am besten in Filmen oder im Fernsehen aufgehoben wären. Sie klangen ein wenig so wie unsere frühere Zusammenarbeit mit Howard Shore und David Cronenberg. Sie waren weder aus dieser Zeit noch von dieser Welt. Uns war klar, dass sie weder das nächste Metric-Album noch meine nächste Solo-Platte sein konnten, weil sie ein ganz spezielles Eigenleben hatten. Dass wir jeden Cent, den wir verdienen, wieder in unser Studio stecken, gibt uns die Freiheit, Songs wie diese aufzunehmen und anschließend zu sagen: "Nee, weiß nicht, lass uns lieber an etwas anderem weiterarbeiten!" Jetzt ist mein Soloalbum fertig und wir haben schon 20 neue Stücke für das nächste Metric-Album geschrieben, das wieder ganz anders klingen wird.

GL.de: Gilt das nur für Metric oder bist du auch überrascht gewesen, in welche Richtung sich "Choir Of The Mind" entwickelt hat?

Emily: Ja, das war an dem Punkt, als mir plötzlich klar wurde, wohin ich klanglich und ganz generell produktionstechnisch mit dem Album gehen wollte. Mir wurde klar, dass es eine Menge Songs geben würde, die nichts mehr brauchten als meine Stimme und das Klavier, aber die größte Überraschung war sicherlich, dass ich meine orchestralen und rhythmischen Ideen nicht auf andere Instrumente und Mitstreiter verteilte. Ich habe sie stattdessen einfach internalisiert und sie als geatmete Percussions und als Gesangarrangements mit allen möglichen Farbschattierungen angelegt. Der Albumtitel "Choir Of The Mind" kam mir etwa zur gleichen Zeit in den Sinn, und damit waren die Umrisse abgesteckt!

GL.de: War der verstärkte Einsatz deiner Stimme eine völlig neue Idee oder hattest du etwas Vergleichbares schon länger im Hinterkopf und hast dich zuvor nur nicht getraut, es umzusetzen?

Emily: Schwer zu sagen! Ich hab ja in der Vergangenheit sowohl mit Metric als auch solo schon viel mit traditionellem Harmoniegesang gearbeitet, aber meine Stimme als strukturelles Stilmittel einzusetzen und mit ihr verschleierte Klanglandschaften zu gestalten, war mir zuvor nie in den Sinn gekommen. Dass die Melodien, die ich im Kopf hatte, gewissermaßen in meinem Körper bleiben könnten, hatte ich nie in Erwägung gezogen. Ich dachte immer, sie müssten draußen ihren Platz finden.

GL.de: Die Klavierparts hast du auf einem fast 200 Jahre alten Flügel aufgenommen. Wie viel macht das wirklich aus? Taylor Goldsmith von Dawes erzählte uns vor einiger Zeit, dass seine sündhaft teure Vintage-Gitarre eigentlich nicht anders klinge als die billigen Nachbauten, es ginge ihm mehr um das Gefühl, etwas Besonderes in Händen zu halten. Wie ist das bei dir?

Emily (lacht): Ich kann mit allem arbeiten! Das gebieten die Punkrock-Ursprünge meiner Geisteshaltung! Aber die Möglichkeit zu haben, ein solch majestätisches altes Instrument zu spielen... Es ist schon verrückt mit den Konzertflügeln und ganz besonders mit dem von 1850, den ich für die Aufnahmen gespielt habe - er hat so viel Charakter, fast wie ein alter Wein! Letztlich geht es vor allem darum zu vermeiden, dass die Aufnahmen gewöhnlich und austauschbar klingen, und dabei hilft es, wenn du wie ich in diesem Fall eine echte Verbindung mit deinem Instrument spürst. Ich habe es "The Matriarch" getauft!

GL.de: Apropos, mit den Texten der Platte beleuchtest du einmal mehr die Welt aus einer starken weiblichen Perspektive. Jimmy hat dich bei unserem letzten Gespräch als "Fahnenträgerin für all die Menschen, die sich den Problemen in der Welt nicht verschließen" beschrieben. Ist die damit verbundene Erwartungshaltung beim Publikum für dich eher Segen oder Fluch?

Emily: Nun, ich fühle mich niemandem verpflichtet, aber wenn ich die Entscheidungen treffe, was es aufs Album schafft und was nicht, dann habe ich schon das Gefühl, dass ich eine Leistung erbringen möchte - für mein Instrument, aber auch für die Zuhörer. Für jeden Song, den ich veröffentliche, gibt es zehn, die es nicht schaffen. Die Lieder, die ich herausbringe, müssen einen gewissen Wert haben und eine bestimmte Funktion erfüllen. Wenn ich mich in düstere Gefilde begebe, ist es mir wichtig, daraus etwas ins Licht zurückzubringen, damit das Ganze etwas Sinnhaftes hat. Ich möchte nach Perlen tauchen, anstatt das Publikum nur mit mir in die dunkle Tiefe zu ziehen (lacht). In Zeiten, in denen wir fortwährend von allen Seiten mit Meinungen attackiert werden und ständig gezwungen sind, mit unserer eigenen Meinung dagegenzuhalten, bin ich sehr froh, die Kunst des Songwritings nutzen zu können, um mich auf ganz andere Art und Weise auszudrücken. Ich möchte, dass mein Album ein Rückzugsort für die Hörer ist, anstatt sie mit noch mehr Inhalt zuzuwerfen! Das Album soll eine Atempause sein - wortwörtlich!

GL.de: Stichwort Atempause, eine Frage noch: Im Sommer warst du als Sängerin von Broken Social Scene auf Tour. War das wie Urlaub vom Tagesgeschäft, wie ein Sommer-Ferienlager?

Emily (lacht): Ja, das war haargenau so, wie du es beschreibst. Wenn wir mit Metric unterwegs sind, haben wir zwei Busse, und nur wir vier sind im ersten Bus. Wir haben einen bestimmten Standard, nach dem wir vorgehen. Als ich mit Broken Social Scene in Europa auf Tournee war, waren wir mit 18 Leuten in einem Bus und es flogen ungefähr 100.000 Paar Turnschuhe rum - es war großartig und in der Tat, wie du sagst: Es war ein Rock'n'Roll-Ferienlager - mit einem Haufen brillanter, wirklich liebenswerter Menschen!

Weitere Infos:
www.emilyhaines.com
facebook.com/EmilyHaines
de.wikipedia.org/wiki/Emily_Haines
Interview: -Simon Mahler-
Foto: -Justin Broadbent-
Emily Haines & The Soft Skeleton
Aktueller Tonträger:
Choir Of The Mind
(Last Gang/SPV)
 

Copyright © 2017 Gaesteliste.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Gaesteliste.de