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13.01.2003
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KETTCAR

Die große Kunst der Reduktion

Kettcar
Um es schwarz auf weiß zu bekommen, dass "Du und wieviel von deinen Freunden", das erste Album von Kettcar, die beste deutschsprachige Platte des abgelaufenen Jahres ist, muss man nur die Gaesteliste.de-Endjahrescharts konsultieren. Oder wahlweise die Bestenliste jeder x-beliebigen anderen Publikation zwischen Flensburg und Passau, denn selten war sich die hiesige Journaille in der Bewertung eines Albums so einig. Das Tolle an Kettcar ist allerdings nicht nur die über jeden Zweifel erhabene Musik, sondern der bruchlose Übergang von der Kult- zur Konsensband. Ähnlich wie die Kiddies, die heute mit Nirvana-Shirts durch die Gegend rennen, aber Hüsker Dü für eine ansteckende Kinderkrankheit halten, oder der Popkultur-Nachwuchs, der Rival-Schools-Poster an der Wand hat, aber keinen Song von Quicksand nennen könnte, auch wenn das eigene Leben oder zumindest die Versetzung in die 9. Klasse davon abhinge. Kettcar - Marcus Wiebsuch, Reimer Bustorff, Frank Tirado-Rosales, Lars Wiebusch und Erik Langer - werden nicht nur von den paar verstreuten Seelen geliebt, die schon die Vorgängerbands ...But Alive und Rantanplan für die besten Bands der Welt gehalten haben. Kettcar werden einfach von allen geliebt. Und das ist ausnahmsweise mal kein Hype-mäßiges Journalisten- oder Plattenfirmengeschwafel, sondern schlicht und ergreifend die Wahrheit, die uns auch Sänger und Gitarrist Marcus Wiebusch beim Gespräch mit Gaesteliste.de vor dem ersten Konzert des Jahres in Bochum bestätigte.

"Ja, wir haben einen Lauf, wie man so schön sagt. Es läuft sogar unfassbar gut. Die Medien lieben uns, die Leute lieben uns, wir verkaufen für Independent-Verhältnisse sehr viele Platten - es läuft einfach sehr gut." Dabei war das Projekt Kettcar lange ein Wagnis, künstlerisch wie finanziell, und die Wende zum Guten kam erst ziemlich spät. "Ein künstlerischer Wendepunkt war sicherlich, als wir die Platte fertig gemastert gehört haben. Da haben wir uns gesagt: 'Alles klar, das waren zwei Jahre Arbeit, aber das haben wir geschafft, das kann uns auch niemand mehr wegnehmen!' Da war der Druck dann erst einmal weg. Dann gab es noch so etwas wie einen medialen Wendepunkt, denn einige wichtige Blätter haben uns sehr, sehr wohlwollend besprochen. Aber immer, wenn man denkt, das Limit ist nun erreicht, kommt wieder etwas: Am 04.01. hatten wir einen Artikel in der FAZ, in dem auch stand, dass wir das beste deutschsprachige Album des Jahres gemacht haben! Ich meine, die FAZ!" Dabei stimmen die Medienvertreter die Lobeshymnen natürlich völlig zu Recht an. Vor allem, weil die Texte zwar deutsch sind, aber dennoch "im Geiste" englisch bzw. amerikanisch gefärbt sind, ohne dabei in irgendeinen dusseligen Slang zu verfallen. Und dass die für sich schon unglaublich guten Texte auch noch mit der Musik eine geradezu perfekte Symbiose bilden, verdient ohne Zweifel höchsten Respekt. "Man muss es so sehen: Wir hatten eine Vision, wie deutschsprachige Musik auch klingen könnte. Wir wollten etwas finden zwischen dem ganzen Schlager- und Deutschrock-Müll, dem sehr schlauen Ansatz, der ja ursprünglich auch aus Hamburg kam, und dem Prolligen des HipHop, wo die Texte viel zu viele Wörter haben. Wir wollten versuchen, gute britische oder amerikanische Popmusik mit guten deutschen Texten zu versehen." Neu bei den Texten ist die Beschränkung aufs Wesentliche, ohne dabei den Blick für's Detail zu verlieren. Die Texte sind zwar vergleichsweise kurz, beschränken sich aber dennoch längst nicht nur darauf, erzählerisch auf dem schnellsten Weg von A nach B zu kommen. "Die Texte sollen einen emotionalen Kern haben, und wir versuchen dann, die Leute zu finden, die dem würdig sind, den zu erfassen. Für mich ist Popmusik auch immer Reduktion. Im Gegensatz zur Literatur muss man dabei immer sehr viel weglassen. In einem Song muss man sich auf den Kern beschränken." Und obwohl dieser Ansatz auf "Du und wieviel von deinen Freunden" ohne Frage verwirklicht ist, ist auf der Platte dennoch Platz für große Gesten, für selbstbewusste Aussagen, weitab von den Shoegazern, die für gewöhnlich das Feld der smarten Popmusik für sich beanspruchen. "Das klingt jetzt vielleicht eitel, aber ich denke, was uns von den meisten anderen Bands unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir uns bis zur Besinnungslosigkeit den Arsch aufreißen, um die deutsche Sprache zum Klingen zu bringen", findet Marcus. "Bevor ich mit einem Text in den Proberaum gehe und ihn dann singe, habe ich ihn Tausende von Malen vor mich hin gesprochen und ihn auf Phonetik und Struktur abgeklopft. Es muss halt klingen. Ich würde nie und nimmer die Melodie aufgeben, nur um ein schlaueres, vielsilbigeres Wort in einem Text unterzubringen. Die Einheit von Text und Musik, die Schlüssigkeit, das ist das Wichtige, aber das ist auch hart erarbeitet." Ein wenig scheint es so, als hätten Kettcar, um die Texte noch mehr in den Mittelpunkt zu stellen - auf der Platte mehr als auf der Bühne -, die Lautstärke absichtlich ziemlich zurückgeschraubt. Was in früheren Bands der Protagonisten Punk war, ist jetzt Pop - von der raffinierten Sorte, versteht sich. "Dass wir auf die Lautstärke verzichten, liegt daran, dass wir mit den Songs ein Gefühl rüberbringen wollen, und dazu gehört nun einmal eine bestimmte Musik. Aber das war ja auch bei der letzten ...But Alive schon so. Ich bin ja nicht mehr der junge, zornige Mensch, der ich mal war", erklärt Marcus. "Deshalb hab ich schon bei der letzten ...But Alive für mich als Künstler die Reißleine gezogen und habe einen anderen musikalischen Weg eingeschlagen, und den werde ich auch weitergehen. Es wird keine Punkrock-Platte mehr von mir geben. Punk und dieses ganze zornige Ding ist mir heute einfach auch zu eindimensional. Es geht nur um den Transport von Wut und Zorn, und so etwas wie Facettenreichtum hat da keinen Platz. Das finde ich langweilig. Erstens, weil ich heute nicht mehr so zornig bin, und zweitens, weil es viel zu viele Bands gibt, die zu lange zusammen bleiben und ewig den alten Schrott spielen, den sie mit 16, 17 geschrieben haben. Darauf habe ich keine Lust!"

Kettcar
Konsequenterweise hat Marcus passend dazu auch gleich seine Plattensammlung ausgetauscht. Von einer neuen Gemütlichkeit kann trotzdem keine Rede sein, denn statt als Thirty-Somethings mal langsam am großen Geld zu schnuppern, machten Marcus und Reimer zusammen mit Tomtes Thees Uhlmann unlängst das Label Grand Hotel Van Cleef auf, dessen erste Veröffentlichung das Kettcar-Album ist. Frei nach dem Motto: Statt Major-Vorschuss knietief im Dispo. "Unter dem Strich bin ich trotzdem sehr froh, dass wir das gemacht haben", erklärt Marcus, "denn wir konnten so alles selber in die Hand nehmen. Wir mussten, um mal Klartext zu reden, zum Beispiel nicht mit jedem Arsch reden. Bei einer großen Plattefirma wären sie da immer mit der Keule gekommen: 'Aber wir haben dir doch das Geld gegeben', und wir hätten dagegen nichts wirklich sagen können, schließlich wäre das die Hand gewesen, die uns füttert." In vielen Artikeln über Kettcar wird die Labelsituation allerdings ein bisschen verklärt dargestellt, vielleicht, weil derzeit viele Menschen in der Musikbranche vom 80er-Jahre-Geist umweht werden und viele wehmütig an die Zeiten zurückdenken, in denen kleine Indie-Firmen gute Gitarrenbands noch in die Top 10 der Charts hieven konnten. Marcus dagegen sieht die Sache ziemlich realistisch: "Ab einem gewissen Punkt hätten wir die Platte auch an den Meistbietenden verkauft, weil wir einfach komplett pleite waren. Wir haben ausgerechnet, dass sich von uns in den nächsten fünf Jahren niemand mehr einen Urlaub wird leisten können, weil wir alle so verschuldet sind. Das war ganz und gar nicht lustig, und mit den finanziellen Sorgen hatten wir immer sehr zu kämpfen." Zum Schluss hätten wir gerne gewusst, ob es dennoch etwas gibt, das Kettcar unbedingt erwähnt wissen wollen? "Die Frage, die ich am liebsten gestellt bekomme, ist: 'Wann gibt's denn das nächste Album?'", erwidert Marcus und lacht. "Dazu kann ich nur sagen: Auf gar keinen Fall 2003! Auf gar keinen Fall. Die Kreativität von Reimer und mir kommt nicht so in Schüben, dass wir in absehbarer Zeit schon wieder ins Studio gehen könnten. Was die Kreativität am meisten hemmt, ist die Labelarbeit. Es gibt kaum einen Tag, an dem wir nicht von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends arbeiten." Aber den Lohn für die harte Arbeit ernten Kettcar ja bereits. Und "nebenbei" haben sie mit "Landungsbrücken raus" einen Song für die Ewigkeit geschrieben. Und wie viele Bands können das schon guten Gewissens von sich behaupten?

Weitere Infos:
www.kettcar.net
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Pressefreigaben-
Kettcar
Aktueller Tonträger:
Du und wieviel von deinen Freunden
(Grand Hotel van Cleef/Indigo)
 

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