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23.07.2003
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SCHTIMM

Go East, young band!

Schtimm
Und noch eine Band aus Norwegen, mit der keiner hat rechnen können. Schon gar nicht mit einer, deren Mitglieder sich hinter Buchstabenkürzeln verstecken, deren Scheiben seltsame Titel haben (wie z.B. "Plays Mrakoslav Vragosh") und deren Artwork und Texte aus kryptischen Botschaften an das Unterbewusstsein zu bestehen scheinen. Musikalisch tummeln sich Schtimm auf dem düsteren, melancholisch-tragischem Terrain des Slow-Core. Das tun viele andere auch (sogar norwegische Acts wie Ai Phoenix oder Midnight Choir) - was Schtimm aber abgrenzt, ist das strenge Konzept (s.u.), der Wille zur Natürlichkeit und dann wieder die prinzipielle stilistische Offenheit innerhalb des Genres.

Vielleicht aber gehen wir mal der Reihe nach vor, und fragen Schtimm Mastermind E. nach den wesentlichen Dingen - z.B. dem seltsamen Namen. "Nun, der Zischlaut 'sch' ist ein Klang, der zum einen recht beruhigend klingt, und auch so, als sei man betrunken", meint er und macht dabei unwissentlich einen halben Witz: Ein in Norwegen lebender amerikanischer Songwriter erzählte uns mal, dass es nichts schlimmeres gebe, als einen betrunkenen Norweger. Denn wenn der Norweger betrunken sei, fange er an zu philosophieren - und der Norweger habe keine Philosophie. Wie also passt dann der Zischname Schtimm - womöglich noch im besoffenen Kopf dahingeschlurrt - philosophisch ins Konzept? "Das Wort 'Schtimm' klingt für uns Norweger ziemlich deutsch", erklärt E. nicht unbegründet, "vielleicht wie in dem Wort 'Stimmung', in dem Ausdruck 'das stimmt' und so weiter. Das Wort ist auch eine Ableitung aus dem Begriff 'Selbststimulation' - was ziemlich genau das ist, was wir tun..." Was immer das jetzt bedeuten mag. Da wollen wir lieber nicht weiter nachbohren! Fragen wir statt dessen lieber, was es mit der Vorliebe des Russischen auf sich hat, die sich im Umfeld der Band auch immer wieder manifestiert - sei es im Artwork oder z.B. im CD-Titel. "Das ist nicht politisch gemeint, wie viele Leute immer denken", schwenkt E. auf den Gedankengang ein, "wir denken aber, dass Russland ein in vielerlei Hinsicht faszinierendes Land ist. Die Sprache ist wunderschön - sowohl im geschriebenen, wie auch im gesprochenen Wort - obwohl wir beides nicht können. Außerdem kamen viele große Komponisten (Mrakoslav Vragosh, zum Beispiel), Schriftsteller und Theaterpioniere aus Russland. Und warum solle man denn nicht nach Russland schauen? Wir sind doch heutzutage vielzusehr von der amerikanischen Kultur überwältigt. Da scheint Russland doch die reizvollere Alternative zu sein: Relativ abstrakt, groß, vielfältig und mit einem Hauch des Geheimnisses umgeben. Wir waren zwar noch nie dort (wollen aber unbedingt mal hin) und können somit keinesfalls behaupten, uns authentisch russisch ausdrücken zu können - das liegt aber auch gar nicht in unserer Absicht".

Was liegt denn in der Schtimm'schen Absicht? Warum gibt es keine Namen? Warum diese Geheimniskrämerei? "Also die Sache mit den Namen machen wir nicht etwa darum, weil wir uns interessanter machen möchten", beharrt E., "die Wahrheit ist vielmehr, dass wir niemals Namen im Zusammenhang mit unserer Musik verwenden. Wir haben auch niemals Bilder von uns auf den Covern. Es mag sich vielleicht wie ein überholtes Klischee anhören, aber es ist die Musik, die wir im Blickwinkel haben - und nicht wie wir aussehen und was unsere Namen sind. Weil das in Bezug darauf, wie die Musik klingt eh keinen Unterschied macht. Wenn jemand wirklich unsere Namen herausfinden möchte, denke ich, dass er das auf die eine oder andere Weise auch kann..." Wenn E. sagt, es ginge um die Musik, so meint er das in einem ganz bestimmten Sinn: Schtimms Songs sind so pur belassen, wie das bei einer Plattenaufnahme überhaupt nur möglich ist. Es gibt kaum Overdubs, wenig Effekte - und überhaupt nichts, was die Band nicht auch live reproduzieren könnte. Was ist denn der Grund für diese organische bis spartanische Vorgehensweise? "Wir sehen keinen Sinn darin, unserer Musik ohne Grund etwas hinzuzufügen - nur um sie aufzupeppen", sagt E. recht bestimmt, "jeder Teil eines Songs ist Teil eines größeren Ganzen, hinter dem wiederum eine bestimmte Idee oder eine Stimmung steckt, die wir gerne ausdrücken möchten. Das Live-Feeling, das das Album ausstrahlt, liegt vielleicht darin begründet, dass wir das meiste live eingespielt haben. Das meint, dass jeder im Studio gespielt und gesungen hat, anstatt seine Sachen separat einzuspielen. Einige Stücke sind in der Tat auch in einem Take aufgenommen worden. Wir haben uns bemüht, so wenig wie möglich zu schneiden und zu editieren. Es geht darum, die Magie der Original-Aufnahme nicht zu zerstören. Das ist Teil der Regeln, die wir uns vor den Aufnahmen selbst auferlegt hatten. Einige dieser Regeln waren: Keine Equalizer, kein digitaler Hall (analoger schon), nicht mehr Tracks als Schtimm auch live spielen können und nie mehr als zwei Effekte pro Song. Es ging darum, uns in diesem Rahmen selbst herauszufordern und es eben 'live' klingen zu lassen. Wir waren im Übrigen auch nie daran interessiert, alles perfekt klingen zu lassen. Man kann so etwas immer versuchen: Editieren, Tonhöhen angleichen, Tempo angleichen etc. - indem du das aber tust, kannst du eine Scheibe auch töten. Aber die Weise in der wir arbeiten, ist nicht festgefahren. Auf unserer nächsten Scheibe könnten wir es schon wieder ganz anders machen. Wir sind immer auf der Suche nach Wegen uns oder unsere Musik in einer Weise auszudrücken, die uns am besten geeignet erscheint. Und dieses Mal war es eben diese..."

Schtimm
Und wie passen die Texte in dieses Konzept? Ohne Erklärungen ergeben sie ja keinen direkten Sinn. E. scheint sich durch diese Aussage leicht angegriffen zu fühlen. "Es ist in der Tat so, dass die Worte genau so wichtig sind, wie die Musik", stellt er fest, "die beiden Komponenten sind eng miteinander verbunden. Allerdings: Zu versuchen, unsere Musik oder die Texte zu erklären wäre, als es mit anderen Worten zu sagen, als wir es bereits getan haben - und zwar mit nicht so guten Worten! Wenn wir unsere Texte und die Musik geschrieben haben, ist unsere Arbeit eigentlich bereits getan. Es fühlt sich nicht richtig an, den Leuten, die unsere Musik anhören zu sagen, was sie daraus entnehmen sollen und welche Gefühle sie dabei empfinden sollen. Unsere Interpretation ist nicht wichtig. Musik ist in vielerlei Hinsicht individuell und persönlich und es liegt am Hörer, sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Genauso wie sie es auch tun, wenn sie ein Buch lesen. Momentan haben wir sogar einen Wettbewerb auf unserer Website, bei dem es darum geht, den Text zu dem Song 'The Hardcore Waving Of Happy Flags' zu interpretieren. Es gibt aber hierzu keine allgemeingültige Auflösung!" Nun gut: Wie findet E. denn die Themen und Titel? "Das ist eine ziemlich gute Frage", räumt E. ein, "die Texte sind so eine Art Szenario: 'Die Welt, wie Schtimm sie sieht'. In den Texten geht es so ziemlich darum, erlebte Erfahrungen, Vorgänge oder Gedanken zu verarbeiten - nur eben in einem anderen Medium als der Realität. Und die Songtitel versuchen ungefähr etwas über den ganzen Song auszusagen." Wie soll es denn musikalisch mit Schtimm weitergehen? "Wir arbeiten am nächsten Album und werden mit den Aufnahmen im Herbst beginnen. Es ist ein bisschen schwer zu beschreiben, wie es werden wird, aber wir werden uns nicht völlig umkrempeln. Alles was wir sagen können, ist, dass wir keinen Plan haben. Wenn wir anfingen, berechenbar zu sein, würden wir wahrscheinlich auch anfangen, schlechte Scheiben zu machen. Wir versuchen nur wir selbst zu sein und die Dinge auf unsere Art zu machen. Weil wir nun nur wissen, wie wir sind, müssen andere entscheiden, ob wir anders als andere sind. Das Gute an der Musik ist, dass du deine Vision erfüllen kannst. Bisher haben wir das Glück gehabt, nur mit Leuten arbeiten zu können, mit denen wir auch arbeiten wollten - und wir konnten auch tun, was wir wollten." Mit Schtimm haben wir also nicht nur eine weitere höchst eigenständige, ungewöhnliche Band aus dem hohen Norden zu verzeichnen, sondern auch eine, die eine Vision verfolgt und sich offensichtlich obendrein Gedanken um ihr Tun macht.

Weitere Infos:
www.exposia.no/cgi-bin/schtimm/site?page=0
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Schtimm
Aktueller Tonträger:
Plays Mraksolav Vragosh
(Make My Day/Zomba)
 

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