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20.05.2005
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VIC CHESNUTT

Der König möcht' denken

Vic Chesnutt
Vic Chesnutt ist wieder da - jener lustige, kleine Mann aus Athens, Georgia, also, der mit seinen seltsamen, tiefgründigen und hintersinnigen Ideen schon so manches Unmögliche möglich machte - bzw. als möglich erscheinen ließ. So auch dieses Mal: Auf dem Cover seiner aktuellen CD, "Ghetto Bells", steht er (der seit seinem 18. Lebensjahr querschnittsgelähmt ist) vor einem Wohnwagen und hat zudem eine Krone auf. Muss man Vic jetzt etwa mit "Eure Majestät" anreden? "Oh, ich bin stets ein König meines Reiches", antwortet Vic ausweichend, nur um dann auf Nachfrage nachzuschieben, dass er am liebsten der König von Amerika wäre. Was würde König Vic denn als erstes machen, wenn er denn der König von Amerika wäre? "Oh, lass mich mal sehen", überlegt Vic - ziemlich lange, "das erste, was ich machen würde, wäre - ich weiß nicht - meine Truppen zurückziehen, vielleicht?"

Okay, nun aber mal Kekse beiseite: Was soll denn die Krone? (Und die Posaune, die neben Vic auf dem Cover an seinen Thron gelehnt zu sehen ist?) "Nun, die Krone ist natürlich ein Verweis auf mein altes Album 'West Of Rome'", erklärt Vic, auf dessen neuer CD sich zufälligerweise auch ein Track namens "Litte Ceasar" befindet, "und was die Posaune betrifft: Das Stück, auf dem ich Posaune spiele, ist leider nicht auf der CD. Aber, die Öffnung einer Posaune erinnert ja auch an eine Glocke. Und das wäre dann der Bezug zum Titel der CD, 'Ghetto Bells'." Nun, dazu wären wir auch noch gekommen: Was sind denn "Ghetto-Glocken"? "Das hat viele Bedeutungen", räumt Vic ein, "'Ghetto Bells' war immer schon der Name meines Verlages. Ich habe den Verlag damals so genannt als Hommage an einen kleinen Gemischtwarenladen in heruntergekommenen Teil meiner Nachbarschaft, der so hieß. Leider hat der 1988 zugemacht. Mir gefiel immer der Klang des Namens und ich liebte meinen Gemischtwarenladen. Hinzu kam, dass der Produzent des Albums, John Chelew, den Namen auch mochte. Es war nämlich so, dass seine Idee für das Album und die Art, in der er über meine Musik dachte, die war, dass hier das Klischee des alten Südens bedient würde. Weißt du: Tara, 'Vom Winde verweht' und so - große Dinge, die langsam verfallen. John dachte nun, dass 'Ghetto Bells' ein gutes Symbol dafür wäre. Lasst die Glocken des Ghettos erklingen..." Vics letztes Album hieß ja "Silver Lake", weil er das in einem Haus namens Silver Lake aufgenommen hatte. Das neue Werk ist nun auch in einem Haus - in dem Fall Don Heffingtons Gartenhaus - aufgenommen worden. Dennoch klingt es vollkommen anders. Das liegt sicherlich nur zum Teil an John Chelews Sound-Konzept, sondern auch an der beeindruckenden Musikerriege, die Vic hier aufgefahren hat. Neben Drummer Don Heffington (Jayhawks) sind dies Vics Nichte Liz Durrett, seine Partnerin Tina Chesnutt sowie keine geringeren als Van Dyke Parks, Bill Frisell und Jazz-Bassist Dominic Genova. Wie kam denn diese Crew zustande? "Also, das war eigentlich ein natürlicher Prozess", verrät Vic, "John Chelew kenne ich schon sehr lange. Er war nämlich der Booker von McCabes Guitar-Shop in Santa Monica, jenem Club, der mir meine erste Chance als Musiker gab - noch bevor 1990 meine erste Scheibe rauskam. John hat mich also immer unterstützt. Und er hat mich bereits zu jener Zeit auch Van Dyke Parks vorgestellt. Er hat auch damals schon vorgeschlagen, ein Album mit Van Dyke, Don Heffington, mir und Tina zu machen. Das Projekt ist also schon ziemlich lange in der Pipeline gewesen. Jetzt ist es uns also endlich gelungen, es durchzuführen. Bill Frisell kam dann noch dazu, nachdem ich ihn letztes Jahr traf, als ich in Deutschland die Ehre hatte mit ihm zusammen zu spielen. Er hatte dann eine Session mit Van Dyke und Don und sie haben ihm von der Idee für dieses Projekt erzählt. Da hat er sofort gesagt, dass er mitmachen wollte."

Hat Vic denn extra Songs für dieses Projekt geschrieben? "Nein, das waren Songs, die ich schon hatte", meint er, "ich habe John ca. 40 Songs zum auswählen gegeben und er hat sich dann 11 davon ausgesucht. Einige sind älter, aber einige sind auch brandneu." Nun passen diese Songs dann auch sehr gut zusammen. Wie entstand denn die sehr spezifische Atmosphäre des neuen Albums - die weniger Rock-orientiert ist, aber auch nicht so folky klingt, wie das, was Vic früher machte? "Nun, für mich fühlt sich dieses Album ziemlich wie eine Jazz-Scheibe an", überlegt er, "wir haben die Band einfach zusammengebracht und die Songs in einem Raum zusammen gespielt und aufgenommen. Die Arrangements haben sich während der Arbeit entwickelt. Es war für mich sehr aufregend und eine große Ehre mit Bill und Van Dyke zusammen zu spielen. Ich bin von fast jeder einzelnen Note weggeblasen worden." Das klingt ja so ähnlich, wie Vic die Sessions zum letzten Album beschrieb? "Ja, es war auch das gleiche Konzept wie beim letzten Album, es klingt nur anders, weil es andere Musiker waren, weißt du. Das ist es ja, was ich anstrebe und liebe - dass jedes Album anders klingen soll. Jedes Album ist jeweils eine Reaktion auf das vorangegangene für mich. Auch wenn diese CD viel mit dem letzten gemeinsam hat, ist es dennoch sehr verschieden. Als John Chelew z.B. über das Konzept nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass 'Silver Lake' ein Album für tagsüber war, während das neue eines für die Nacht sein sollte. Und das leuchtete mir ein. Ich selber wollte, dass die neue CD ein wenig langsamer und weniger knallig als das letzte Album werden sollte - das war mein Hauptziel. Und da passte Johns Ansatz sehr gut dazu." Ist das der Grund, warum einige der Stücke ziemlich lang geraten sind? "Das liegt an der Art wie wir die Songs aufgenommen haben und an der Band, die wir zur Verfügung hatten. Da fühlte es sich richtig an, diese Songs ein wenig zu strecken. Wir haben nicht sehr viel geprobt, sondern gleich aufgenommen - beim zweiten oder dritten Durchlauf. Da ist eigentlich alles improvisiert. Ich habe zwar meine Melodien und die Akkordwechsel vorher geschrieben, aber alles andere ist improvisiert. Sogar die Melodien entwickelten ein gewisses Eigenleben." Nun gibt es auf der Scheibe aber doch sehr ausgefeilte Vokal Arrangements, die Vic zusammen mit Liz Durrett, seiner Nichte, realisierte - beispielsweise auf dem Track "What Do You Mean". "Oh, Liz ist cool", verrät Vic, "sie hat mit 14 bereits Geige auf 'West Of Rome' gespielt, dann hat sie auf 'Is The Actor Happy' gesungen und jetzt hat sie gerade ein Album namens 'Husk' mit älteren Stücken aufgenommen, das ich produziert habe und sie arbeitet gerade an einem neuen Album mit aktuellen Stücken, das wir bereits fast fertig haben. Wir haben 'What Do You Mean' bei mir zu Hause aufgenommen - deswegen ist es etwas anders als die anderen Stücke. Ich habe das Stück mit ihr im Hinterkopf geschrieben. Ihre Stimme ist schon erstaunlich - ich vergleiche sie immer mit einer wunderschönen Gebläseorgel. Liz wird auch mit mir und Tina zusammen auf Tour gehen und Bass spielen. Vielleicht wird sie auch den Support spielen."

"What Do You Mean" ist auch ein schöner Platzhalter für die Bedeutung von Vics Texten. Wenn man sich heutzutage seine Texte anhört, dann scheint er fast so etwas wie eine eigene Sprache entwickeln zu wollen, oder? "Hm, das ist lustig", meint Vic, "ich denke, ich improvisiere gerne mit dem Gebrauch meiner Wörter und meiner Sprache. Es ist das Ziehen und Dehnen der Syntax, die mich fasziniert. Das ist so etwas wie mein Rhythmus. Das ist für mich das Aufregendste an meiner Musik überhaupt. Wenn ich mir Texte ausdenke, dann ist das fast noch spannender für mich als live zu spielen. Es ist fast so, als jamme ich hier mit mir selbst, als jamme ich mit dem Wörterbuch..." Verwendet Vic denn ein Wörterbuch beim Songschreiben? Zuweilen scheint es ja so. "Also ja, schon - wenn es darum geht, zu buchstabieren", räumt Vic ein, "das gilt auch für die Liner-Notes. Wenn es um das Buchstabieren geht, bin ich nicht besonders gut." Das hört man übrigens öfters von wortgewaltigen Songtextern. Dafür ist Vic aber ziemlich erfindungsreich, wenn es darum geht, neue Begriffe zu erfinden. In dem Song "To Be With You" heißt es z.B.: "I burned so many bridges to be with you - I Shermaned pretty much my entire adult life". Hier braucht man das Wörterbuch gar nicht zu bemühen: Sherman war jener General im amerikanischen Bürgerkrieg, der die Südstaaten-Metropole Atlanta niederbrannte. Das wurde z.B. in "Gone With The Wind" thematisiert - womit wir wieder beim Thema wären. "Siehst du, das ist ein gutes Beispiel", erklärt Vic, "das Wort entstand, weil ich versuchte, eine bestimmte Aktion zu beschreiben. Diese Person hat dieses ikonische Flair, wenn du weißt, was ich meine, das mit seinem Leben im Süden verbunden war, so dass es mir als die perfekte Art erschien, viel mit wenig das auszudrücken. Seltsamerweise verstehen die Leute im Süden aber dennoch nicht, was ich sagen will. Vielleicht müssten sie ein wenig mehr drüber nachdenken..."

Vic Chesnutt
Wie zum Beispiel auch über den Track "Vesuvius". Was aber nichts nützte: Selbst Vic hat Schwierigkeiten zu beschreiben, worum es bei dieser monumentalen, poetischen Anhäufung von Metaphern und Aphorismen geht. "Nun, das ist schwierig zu sagen, worum es geht", überlegt er, "es ist eine expressionistische Übung. Es gibt da all diese philosophischen Gedanken, bei denen jeder Vers mit einer Unmöglichkeit beginnt - einer großartigen, anzustrebenden aber unmöglich zu erfüllenden Idee. Dann entwickeln sich diese Verse zu philosophischen Anzüglichkeiten. Am Ende gibt es diesen Ausbruch des Vesuv - den Ausbruch der Freude. Der Song hat also durchaus eine Auflösung." Ist das so etwas wie die sogenannte Beat-Ästhetik à la Ginsberg, bei der ein Gedanke einen anderen auslöst - ohne dass diese unmittelbar miteinander zu tun haben? "Es hat vielleicht durchaus mit der Beat-Ästhetik zu tun", überlegt Vic, "für mich ist es aber weniger eine Gedankenfluss-Sache, als vielmehr eher eine Art Diagramm, das sich wie ein Baum verzweigt, wobei der erste Vers eine Gleichung darstellt. Ich musste mich darum kümmern, dass alles passte und sich am Ende auflöst. So funktioniert dieser Song." Das ist dann doch eine ziemliche Antithese zu Vics Musik, oder? "Nun, meine Musik ist immer von derselben Quelle befruchtet", meint er, "alle meine Songs entstammen der amerikanischen Folk-Musik oder vielleicht Rock und Country. Das macht es ja gerade so interessant mit Leuten wie Van Dyke Parks oder Bill Frisell zusammenzuspielen, die ja ein sehr sophistisches Verständnis von Musik haben und harmonisch sehr anspruchsvoll agieren, wohingegen ich eher rudimentär denke." Das heißt also: Vics Songs sind eher simpel und werden in dem Fall durch die Komplexität der Musiker aufgewertet? "Ja, genau", stimmt er zu, "was ich hoffte, war, dass meine Songs dadurch ein wenig verkompliziert werden könnten. Ja, das ist der richtige Ausdruck - verkompliziert. Das war mehr so eine intellektuelles Vergnügen, was ich mir da erhoffte." Nun, da ist der kleine Cäsar ja nicht enttäuscht worden. (Womit übrigens nicht Vic selbst gemeint ist: Der kleine Cäsar ist ein Platzhalter für alle möglichen Gernegroßen dieser Welt.) Wie kommt es denn dann, dass das neue Album trotz o.a. Überlegungen so zugänglich ist? "Nun, ich höre mir meine Alben nicht an, außer um sie zur Veröffentlichung fertig stellen und kann das gar nicht beurteilen", führt Vic aus, "ich bin aber ziemlich stolz auf das Album. Für mich ist das so etwas wie ein Traum, der wahr geworden ist. Das ist mit Sicherheit der Höhepunkt meiner musikalischen Karriere." Das heißt, dass Vic jetzt keine Träume mehr übrig hat? "Ja, das stimmt", lacht er, "alle meine Träume sind explodiert. Jedenfalls bis ich die nächste Scheibe aufnehme..."

Weitere Infos:
www.vicchesnutt.com
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Vic Chesnutt
Aktueller Tonträger:
Ghetto Bells
(Blue Rose Records/Soulfood)
 

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