Fenster schließen
 
22.09.2005
http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=997
 
KEREN ANN

Alice in New York

Keren Ann
Als Tochter eines russischstämmigen Israeli und einer Holländerin (mit indonesischen Wurzeln) fühlt sie sich nirgendwo so richtig zu Hause - betrachtet das aber offensichtlich als Herausforderung. Wer kann schon von sich sagen, keine konkrete Muttersprache zu haben? "Meine Muttersprache ist eine Mischung aus Englisch, Hebräisch und Holländisch", erklärt Keren Ann nämlich auf die entsprechende Frage, "ich habe keine einzelne Sprache, die ich perfekt spreche. Deswegen bevorzuge ich es eigentlich zu schreiben - weil man sich dann korrigieren kann." Um so erstaunlicher, dass Kerens Karriere ihren Anfang in Frankreich nahm. Nachdem sie dort ihre Wurzeln geschlagen hatte, rollte sie nämlich - zusammen mit Benjamin Biolay als Partner - die dortige Szene auf. Und zwar mit zwei eigenen Alben auf Französisch, einem für Henri Salvador, den Altmeister des französischen Big Band Swing und "Not Going Anywhere", einer Scheibe auf Englisch, auf der neben einiger neuer Tracks jene der französischsprachigen Scheiben noch einmal eingespielt wurden. Es folgte "Lady & Bird", eine Kollaboration mit dem isländischen Sänger Bardi Johannsson. Für viele hätte dies als Portfolio ja bereits ausgereicht. Nicht so für Keren Ann: Was in Frankreich klappt, sollte auch in den USA möglich sein, dachte sie sich, und begab sich zum Vorsingen zum Blue Note-Chef Bruce Lundvall. Der bot ihr nicht nur Live-Auftritte an, sondern veröffentlichte "Not Going Anywhere" auf seinem hauseigenen Label. Dies ermutigte Keren Ann im Manhattener Stadteil Nolita (North Of Little Italy) ein zweites Domizil aufzuschlagen und dort ihre neue Scheibe gleichen Namens einzuspielen. Dabei war das gar nicht geplant.

"Ja, denn ich bin eigentlich nach New York gegangen, um ein wenig Auszeit zu nehmen", erzählt Keren, "das hatte ich schon öfter getan. Nun ist das aber so, dass New York ziemlich wild und groß ist, überwältigend und überfüllt. All das in einer guten Weise übrigens. Wenn man dem ausgesetzt ist und einen kleinen Bereich für sich selber hat, ist das sehr inspirierend. Und so begann ich also an neuen Songs zu schreiben. Ich habe immer irgend ein Projekt, an dem ich arbeite, aber ich habe zunächst gar nicht an meine nächste Solo-Scheibe gedacht. Als sich das aber herauskristallisierte, war New York ein großer Teil der Scheibe. Nicht so sehr, was die Aufnahmen, sondern was die Inspiration betrifft. Man kann sich dort sehr schön verlieren. Irgendwie ist New York auch eine geheimnisvolle Stadt. Ich kann jedenfalls alle Künstler verstehen, die in New York arbeiten und leben wollten. Denn New York kann seinen Einwohnern auch sehr treu sein - auch wenn es sie zu verschlingen scheint. Man verliert zwar schnell den Überblick, wird aber ständig mit einer inspirierenden Umgebung konfrontiert. Jede Straße und jeder Park von New York sind Dinge, über die man in Büchern gelesen oder die man in Filmen gesehen hat. Das Einzige, was es zu beachten gilt, ist einen subjektiven Blickwinkel zu bewahren. Ich denke aber, dass New York dennoch nur einen Teil des Albums ausmacht. Es ist nämlich so, dass meine Songs nicht alle 100%-ig autobiographisch sind, sondern sich mit der Sichtweise verschiedener Erzähler mischen. So wie bei Alice in Wonderland." Inwiefern ist New York denn eine geheimnisvolle Stadt? "Damit meine ich nicht geheimnisvoll im Sinne von mystisch", führt Keren aus, "sondern in dem Sinne, dass du die Geschichte mit deinen eigenen Händen anfassen kannst. Es ist eine Mischung aus Altem und Neuem. überwältigend, aber gleichzeitig irgendwie vertraut." Wie in einem Film? "Genau", bestätigt Keren, "manchmal kommt es einem so vor, als ob die Leute auf der Straße bloß auf das Wort 'Cut' eines unsichtbaren Regisseurs warten. Man kennt diese Szenen aus Filmen von John Cassavetes oder Martin Scorcese. Jedes Geräusch, jeder Geruch - alles erinnert dich an irgendetwas. Das ist kein Geheimnis - jeder weiß, dass New York diese Kraft hat. Was wichtig ist, ist die eigene Balance zu finden. Es gibt sicherlich endlose Stories, die man über New York schreiben könnte."

Keren Ann
Wie ist denn in diesem Zusammenhang das Covermotiv zu sehen, das zwei Keren Anns vor einer Hauswand zeigt, auf der "Nolita" geschrieben steht, und die eine stilisierte grinsende Katze zeigt? "Nun, die Katze hat verschiedene Assoziationen - z.B. die Cheshire-Katze aus Alice in Wonderland. Lewis Carroll schrieb diesen Satz in Alice: 'Ich habe schon oft Katzen mit einem Lächeln gesehen, aber noch nie Lächeln ohne Katzen'. Ich mochte das wilde Grinsen dieser Katze auf dem Cover. 'Wild' im Sinne von enigmatisch, entschlossen, persönlich und intim - so in etwa, wie ich meine Musik sehe. Was die beiden Kerens betrifft: Ich denke, es hätten auch noch mehr sein können. Ich sehe das so, dass das eine ich selber bin und die andere die Erzählerin, Alice. Alice repräsentiert alle Charaktere, die mich jemals berührt haben oder die ich sein könnten. Es ist nämlich so, dass, wenn man Song schreibt, sich dafür entscheidet, viele verschiedene Leben zu leben. Das gilt auch für Romane. Man erfindet dann Charaktere, in die man sich hineinversetzen muss. Auch wenn es dann nicht deine eigene Geschichte ist, von der du da erzählst: Ein wenig von dir findet sich immer darin - weil du nämlich von der Geschichte berührt sein musst, wenn du sie vorträgst." Alice ist also ein Alter Ego? "Nein, denn für ein Alter Ego brauchst du nur zwei: Dich selber und ein Alter Ego. Alice ist aber mehr als eine Person." Und auch mehr als ein Song: Es gibt ein Stück namens "Alices Song" am Ende der Scheibe (das übrigens nicht von Keren selbst vorgetragen wird, sondern von einem Erzähler). "Nun, was den Erzähler betrifft, so brauchte ich einen Zeugen, der quasi belegen könnte, dass Alice auch tatsächlich existiert", verrät Keren, "denn Alice ist ja ein fiktiver Charakter. Aber je mehr Songs ich schrieb, desto realer wurde sie für mich. Ich suchte mir den Schauspieler Sean Geaulette aus - der normalerweise mit einer hohen Stimme spricht -, weil er ein guter Freund ist. Hier jedoch spricht er mit einer tiefen Stimme, was der Stimmung der Scheibe entspricht. Der Song, der als Hidden Track an Alice anschließt, 'Greatest You Can Find', ist eine weitere Geschichte um Alice. Dieser Song ist deswegen sehr wichtig, weil der Rest des Albums eher melancholisch ist, und dieser spezielle Song belegt, dass Alice am Ende dann doch die Liebe gefunden hat." In der Info heißt es, dass Kerens Alice zum Teil auf Alice Springs, der Muse Helmut Newtons basiert. "Ja, aber Alice Springs gehört für mich zu Alice im Wunderland", meint Keren, "Alice Springs ist ja der Künstlername von June Newton als Schauspielerin - was bedeutet, dass auch sie verschiedene Leben hatte. Deswegen können viele ihrer Charakterzüge mit jenen meiner Alice in Verbindung gebracht werden." Was Alice alles erlebt, kann man dann auch in den Lyrics nachlesen, die im Booklet abgedruckt sind - außer jenen, des Titelstückes "Nolita"... "Das hängt einfach damit zusammen, dass ich der Meinung bin, dass Songs gehört werden sollten - und nicht gelesen oder angeschaut werden sollten. Einige Songs kann man aber mitlesen, während man sie hört. Das gilt aber nicht für 'Nolita' - der soll nur gehört werden. Es geht in dem Song um den Platz, den ich gefunden habe. Ein kalter, sicherer Platz. Denn es ging für mich darum, einen solchen Ort zu finden - für mich und für Alice, die dort Dinge aus ihrer Vergangenheit vergraben könnte. Kalt ist er deswegen weil es schneite, als ich ankam und sicher deswegen, weil es ein Zufluchtsort ist."

Keren Ann
Nun erwähnte Keren ja schon, dass ihre Songs für gewöhnlich eher melancholisch sind. Es gibt aber auch Ausnahmen: "One Day Without You" z.B. stahlt eine gewisse Hoffnung aus, nicht wahr? "Ja, aber Melancholie ist doch eine sehr hoffnungsvolle Sache", schränkt Keren Ann ein, "Melancholie bedeutet keinesfalls Traurigkeit. Melancholie ist bloß ein Gemütszustand oder vielleicht eine Atmosphäre. Meine Songs empfinde ich niemals als traurig. Sie sind vielleicht weich - aber inhaltlich manchmal sogar gewalttätig, psychisch gewalttätig. In dem Sinne ist 'One Day Without You' also tatsächlich hoffnungsvoll. Aber so ist 'Roses And Hips' eigentlich auch. Vor allen Dingen sind sie ehrlich. Bei 'One Day' geht es zum Beispiel um ein Gefühl der Sehnsucht. Mein Leben ist ja nun so arrangiert, dass ich die meiste Zeit von meinen Lieben getrennt bin. Und das macht dieses Gefühl eigentlich noch stärker. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der alle wie Seeleute lebten - geographisch getrennt, aber niemals ohne Liebe. Mein Leben tendiert generell in diese Richtung." Und das spiegelt sich ja auch in ihrer Musik wider: Das neue Werk ist konsequent zweisprachig in Französisch und Englisch angelegt. Wie schält sich denn heraus, welcher Song für welche Sprache geeignet ist? "Ich denke, dass die Melodie eine Menge damit zu tun hat", überlegt Keren, "die Melodie und die Atmosphäre bestimmen, in welcher Sprache der Song gesungen wird." Wie entsehen die Songs denn? "Da gibt es keinen bestimmten Weg", meint Keren, "der größte Teil des Songschreibens ist gar nicht mal der, wenn du mit der Gitarre in der Hand den Song niederschreibst, sondern wenn das Material in dir herumköchelt und sich dann irgendwann Bahn bricht. Ich würde sagen, dass ich es mag, eine Atmosphäre zu erzeugen und ein Song besteht aus mehreren Bestandteilen wie der Melodie und den Texten. Das ist die Basis. Die Arrangements und die Produktion bestimmen dann, wie das Ganze klingt. Es war dieses Mal so, dass ich meine Hand verletzt hatte, als ich meinen Trompeter mit einer kubanischen Band in Tribeca spielen sehen wollte und dabei im Regen eine Treppe heruntergefallen war. Als ich dann meinen Arm in Gips hatte, war mein Album noch gar nicht fertig. Ich suchte also nach Alternativen und arbeitete somit mehr mit Programmen und Keyboards und Computern - was in diesem Umfang ungewöhnlich für mich war." Was sind denn eigentlich die musikalischen Wurzeln von Keren, die ja alles mögliche von Chanson über Blues bis zum Pop verwendet. "Ich würde sagen, alles, was mich berührt und alles was melancholisch ist", meint Keren Ann bestimmt, "und wenn ich jetzt Melancholie sage, dann meine ich ein Gefühl der Vertrautheit und der Zugehörigkeit. So etwas finde ich z.B. auch bei Lee Hazelwood, Serge Gainsbourg, Billie Holiday, Chet Baker, Bruce Springsteen, den Beatles, Queens Of The Stone Age, Blur, der Carter Family, Jimmie Rogers - ganz egal. Es gibt so viel gute Musik. Die besten Scheiben bedeuten die meiste Zeit des Tages nichts Besonderes, aber wenn du sie zum richtigen Zeitpunkt hörst, dann ist sie perfekt. Solche Scheiben möchte ich auch machen. Deswegen ist das Wichtigste für mich auch, dass sich der Song zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn aufnehme, genau richtig anhört." Und die Themen für die Songs... "Die finden mich", lacht Keren, "sie kommen zu mir und wecken mich auf. Ich suche sie gar nicht mal. Sie sind ein Teil meiner selbst. Wenn ich etwas lese oder sehe, das mich berührt, dann wird da schon etwas draus. Es ist ja so, dass man manchmal nur für eine halbe Stunde Musik am Tag lebt - z.B. auf Tour - und sich dann schon fragt, ob es das alles Wert ist. Wenn sich dann aber ein Song herausschält, dann wird einem schon klar, dass sich das durchaus lohnt. Für jeden guten Teil gibt es natürlich auch Tragik und Hindernisse - aber unter dem Strich macht doch alles unheimlich Spaß." Keren erwähnte ja bereits, dass sie immer irgendetwas in der Pipeline hat: An welchen Projekten arbeitet sie denn gerade? "Ich habe gerade die Arbeiten am Soundtrack zu einer Dokumentation zu 'Lady & Bird' beendet", erzählt sie, "wir haben das am Wochenende gemacht. Es ist eine Dokumentation über Andy Warhol. Jetzt arbeite ich gerade an einem Soundtrack an einem Spielfilm."

Weitere Infos:
www.kerenann.com
www.kerenann.net
www.emimusicpub.com/worldwide/artist_profile/keren-ann_profile.html
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Keren Ann
Aktueller Tonträger:
Nolita
(EMI)
 

Copyright © 2005 Gaesteliste.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Gaesteliste.de