Fenster schließen
 
21.04.2006
http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=1080
 
THE DRESDEN DOLLS

Sex und der Weihnachtsmann

The Dresden Dolls
Nachdem die Dresden Dolls aus Boston vor zwei Jahren mit ihrem phänomenalen Debüt nicht nur eine bislang brachliegende Nische - Punk Cabaret - besetzten, sondern mit ihren furiosen Live-Auftritten im Folgenden wirklich alle (Zweifler wie Fans) hinwegpusteten, erstaunt es nicht, dass das neue Album, "Yes, Virginia...", noch ein wenig mehr wie die fulminanten Live-Auftritte von Amanda Palmer und Brian Viglione klingt. Aber das hatte Amanda Palmer ja bereits vorgehabt, als das Debüt-Album noch gar nicht erschienen war, nicht wahr? "Ja, das stimmt", erklärt sie, "tatsächlich klingt das neue Album ein wenig rauer als das erste - und dann auch wieder nicht. Die Idee war, unseren Live-Sound irgendwie einzufangen. Etwas, das wir direkt unserem endlosen Touren und unserer Bühnen-Chemie zu verdanken haben. Wir haben auch überhaupt nicht im Studio herumexperimentiert, sondern uns einfach unsere Ärsche abgespielt. Es gibt schon ein paar kleine Overdubs und die üblichen Back-Up-Vocals - aber eigentlich klingt es wie eine Dresden Dolls-Show ohne Publikum."

Letzteres kommt wieder auf Deutsch, denn Amanda beherrscht die Sprache ja ganz gut, nachdem sie eine Zeit lang hier gelebt hatte. Wie empfand sie denn den ganzen Rummel nach der Veröffentlichung des Debüt-Albums? "Nun, das 15-jährige Mädchen in mir hatte also doch recht behalten", meint sie scherzhaft, "meine Songs sind nicht schrecklich. Und ich bin froh, dass ich nicht in die Chemie oder die Werbung gegangen bin. Aber mal Spaß beiseite: Ich denke, dass unser Erfolg ein Beleg dafür ist, dass sich harte Arbeit nach wie vor auszahlt, wenn du dich deinem Handwerk hingibst und an deine Musik glaubst. Wir sind jetzt fünf Jahre zusammen und während dieser Zeit habe ich gelernt, dass Geduld eine Tugend ist." Ist Amanda heutzutage noch mit dem Etikett "Punk-Cabaret" zufrieden? Die Musik auf der neuen Scheibe enthält doch relativ wenig theatralische Elemente. "Also das hatte ich mir damals ausgedacht, um die Presse von dem Gedanken wegzuleiten, uns als 'Gothic' anzustempeln. Ich denke auch, dass Cabaret und Punk nach meinem Verständnis weniger musikalische Begriffe sind, sondern eine Geisteshaltung ausdrücken. Cabaret - das ist die Transvestitin in uns und Punk die zornige Lesbierin..." Und wenn Amanda singt: "Life is no cabaret / We're inviting you anyway" - ist das dann eine Verweigerungshaltung oder bloß die Aufforderung an den Zuhörer, anders zu denken? "Das musst du schon selbst entscheiden", verweigert sich Amanda und fordert somit auf, anders zu denken, "wie sagt man: 'Willkommen, Bienvenue, Welcome..."

Der Titel des neuen Werkes bezieht sich auf eine reale Person: Virginia O'Hanlon schrieb 1897 an die Zeitung New York Sun und fragte, ob es einen Weihnachtsmann gäbe. Die Antwort war eine phantasievolle Bestätigung dessen und ein Plädoyer für Phantasie und Offenheit Dingen gegenüber, die man wissenschaftlich nicht erfassen kann. Wie steht Amanda so etwas selber gegenüber? Spielt Spiritualität z.B. eine Rolle in ihrer Wahrnehmung? "Also ich sehe das so, dass Spiritualität und Religion eine Art ist, Dinge in Worte zu fassen, die sonst eben nicht ausgedrückt werden könnten. Ich glaube schon an Dinge, die ich nicht sehen kann. Aber ich habe keinen fundamentalen Glauben. Ich glaube eher daran, dass man sich alles jeden Tag neu zusammenzureimen sollte." Gerne beschäftigt sich Amanda mit Themen dieser Art - wohingegen der letzte Track, "Sing", der auch als Single veröffentlicht wird, ein wenig aus dem Rahmen fällt. Dessen simple Botschaft erinnert dabei an den gleichnamigen Titel von Travis, in dem es ja treffenderweise heißt: "It don't mean a thing unless you sing, sing, sing..." - "Also das Singen ist für mich quasi auf eine Art die Verbindung zwischen dem praktischen und Künstlerischen 'Ich'", verrät Amanda, "Singen ist ja nicht wirklich notwendig oder praktisch - aber es heilt und kann Leben retten. Das Singen rettet Tage, Beziehungen, Erinnerungen. Es ist sehr kraftvoll. Für mich ist es sehr beängstigend, eine Kultur zu erleben, in der nur gesungen wird, wenn man betrunken ist. Das Singen kam schließlich vor diesem ganzen Mist. Es wird Zeit, das wieder in Besitz zu nehmen." Und wie sieht es mit den - sagen wir mal - kontroversen Themen aus, die Amanda in ihren Texten durchnimmt - die vielen Varianten von Sex z.B.? "Also ich schreibe schon über tatsächlich existierende Dinge, arbeite aber mit Metaphern, wenn es Sinn macht", erklärt Amanda ihren Ansatz, "denn manchmal ist deine Vorstellungskraft persönlicher als die Wahrheit. Und ich schreibe über sexy Themen, weil ich denke - nun, dass sie interessant sind. Und Angst habe ich sowieso keine. Ich finde, dass das meiste Songwriting langweilig und vorhersehbar ist. Meine Idole - Morrissey, Leonard Cohen, Nick Cave, Robyn Hitchcock, Edward Ka-Spel - haben zum Beispiel eine wunderbare Art, Sex menschlich zu machen und so einen Einblick in ihr Seelenleben zu gewähren. Sex ist so persönlich und auf der anderen Seite doch universell - wie Liebe und Tod. Wenn du mal drüber nachdenkst, ist es schon schade, dass die meisten Songs, die darüber geschrieben werden, immer davon handeln, es zu wollen oder zu haben oder andere oberflächliche Aspekte, die beeindruckend klingen und sicher sind. Insbesondere, wenn man bedenkt, wie kompliziert die Sache ist. Wie oft singt z.B. jemand von Erektionsproblemen oder das schreckliche Gefühl, wenn Sex unbefriedigend ist? Das ist doch eine tiefgehende menschliche Problematik - und die wird in der Musik, meiner Meinung nach, total vernachlässigt."

The Dresden Dolls
Welche musikalischen Wünsche sind im Folgenden auf der Liste der Dresden Dolls ganz oben? "Ich würde wirklich gerne mal Musik für andere machen oder zur Musik anderer singen. Ich war zum Beispiel am Wochenende im Studio und habe Material für die neue Trail Of Dead-CD aufgenommen. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß es macht und wie befreiend es sein kann, wenn man Musik einfach nur macht. Ich würde auch gerne mal mit Edward Ka-Spel von den Legendary Pink Dots zusammenarbeiten und ich möchte mal ein eigenes kleines Musical schreiben." Kann Musik denn Dinge verändern? "Musik ändert ständig alles", meint Amanda, "wenn sie es nicht tut, dann hörst du nicht richtig zu. Mein Ratschlag wäre: Macht jeden Tag irgendwelche Kunst, schaut kein Fernsehen, versucht, den Schmerz anderer Leute wahrzunehmen - das hilft nämlich, deine Mitmenschen ein wenig zu lieben. Und habe keine Angst ein Freak zu sein - übertreibe es aber nicht, denn das befremdet die Leute." Okay - nachdem wir also mal voraussetzen, dass es den Weihnachtsmann tatsächlich gibt: Was hört der denn so? "Er hört eigentlich lieber Wortbeiträge, wenn er in seiner Werkstatt arbeitet", weiß Amanda, "er hört gerne Nachrichten und ein wenig Klassik. Aber wenn er mit seinem Rentierschlitten unterwegs ist und mit dem iPod Musik hört, dann spielt er Iron Maiden. Und zwar richtig laut..."

Weitere Infos:
www.dresdendolls.com
www.roadrunnerrecords.de/artists/DresdenDolls/
de.wikipedia.org/wiki/Dresden_Dolls
www.myspace.com/dresdendolls
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
The Dresden Dolls
Aktueller Tonträger:
Yes, Virginia...
(Roadrunner Records/Universal)
 

Copyright © 2006 Gaesteliste.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Gaesteliste.de