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13.03.2007
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JESSE MALIN

Aus der Gosse zu den Sternen

Jesse Malin
Es gibt sie noch, die aufrechten Rock N Roller. Männer mit ihren Gitarren, die sich nicht um Moden und Trends kümmern, die aber andererseits auch alt genug sind, den Rock N Roll im Blut haben zu können, ohne ihn neu entdecken zu müssen und die ihr Ding (vielleicht deswegen) unbeirrt durchziehen und dabei manch Nachgeborenem noch eine Nase drehen können. Bruce Springsteen ist zum Beispiel der Gottvater dieser Spezies. Ryan Adams ist auch so einer - nachgeboren zwar, aber offensichtlich mit der Muttermilch an den Rock herangeführt. Jakob Dylan wäre sicher gerne ein solcher. Was diese drei Herren zum Beispiel verbindet, ist die neue Scheibe von Jesse Malin, auf der sie alle als Gäste mitmachen. Jesse Malin, müßig das zu erwähnen, ist natürlich auch ein wie oben beschriebener Rock N Roller. Altes New Yorker Urgestein, gelernter Ex-Punker und auch schon seit 20 Jahren dabei.

Nun, mit "Glitter In The Gutter", legt er seine bislang beste CD vor - ein zeitloses, klassisches Rock N Roll-Album, wie es zu jeder Zeit hätte erscheinen können und das diese (die Zeit) auch mühelos überstehen wird. Wie definiert jemand wie Jesse Malin seine Droge, den Rock N Roll? "Rock N Roll ist eine Quelle der Freiheit", antwortet er wie aus der Pistole geschossen, "es bedeutet Individualität und Energie. Rock ist der weniger begangene Weg. Es ist Aufregung, Wut, Sexualität, Rebellion, Befreiung, Emanzipation, Groove, ein Ziel, ein Lebensstil, eine Einstellung, saurer Regen, ein Dingsda, ein Puls, ein Herzschlag." Das heißt: Ohne Rock N Roll kein Leben? "Ja, generell gesagt, ist das so. All die Labels, die wir heute dafür haben - Emo, Industrial, Glam, Tekkno, Punk. Alternative, Country - das ist alles Rock N Roll. Mir geht es immer nur um die Energie. Punk-Rock kann für mich auch Johnny Cash oder Woody Guthrie sein - genauso wie Dead Kennedys, Bad Brains oder Nirvana. Für mich ist das ein Lebensstil. Genauso wichtig wie ein Paar Schuhe zu finden. Es ist eine alternative Art zu leben." Dazu gehört auch ein gewisses Maß an Nonkonformität und Spontaneität.

Als Jesse seine Wohnung in New York verlor, packte er kurzfristig seine Koffer und spielte seine neue CD in Los Angeles ein. "Nun ja, mein Apartment wurde verkauft", meint er grimmig, "man macht aus New York heutzutage eine Konzernzentrale - und dazu gehören Eigentumswohnungen. Ich habe mir da gedacht, dass, da mein Label und mein Produzent in LA sitzen, ich es doch einmal da versuchen sollte. Allerdings konnte ich mich nicht damit abfinden, dort leben zu sollen, so kam ich also letztlich doch nach New York zurück. Aber ich habe zwei Monate in LA verbracht und es war eine sehr konkrete Erfahrung. Die stehen da alle so früh auf - das kann ich gar nicht ab. Und ich will in einer Stadt leben, wo es vier Jahreszeiten gibt - oder aufgrund der globalen Erwärmung doch zumindest zwei. Und ich liebe es, herumzulaufen. Ich mag es nicht im Auto mit Klimaanlage zu fahren. Ich mag auch nicht diese ganzen Plastiktitten. Ich mag eine konkrete Stadt wie Chicago oder Berlin oder Paris - in der ich meine Inspirationen durch Spaziergänge bekomme. Ich lebe jetzt wieder in der East-Side. Das ist besser so." Das heißt, dass "Glitter" eigentlich keine LA-Scheibe ist? "Nein, denn ansonsten hätte ich ja eine Scheibe über das Surfen oder Sonnenbaden gemacht. Ich habe die ganzen Songs in New York geschrieben - gleich nach meiner 'Heat'-Scheibe. Und zwar in einem kleinen Keller-Proberaum unter einer Bar mit meiner E-Gitarre - ganz so, wie es sein muss. Einige Demos habe ich auch in meinem Apartment mit meinem Walkman aufgenommen. Und ich kritzele auch immer Ideen in mein Notizbuch - im Kino oder im Café. So baue ich mir die Geschichten auf, die du auf dieser Scheibe hörst." Und die neue Scheibe ist dabei ziemlich lebensbejahend geraten. "Ja, es geht nicht darum, in dein Bier zu weinen, sondern darum, die Sache in die Hand zu nehmen, lebensbejahend und positiv zu denken." Hat das vielleicht mit dem Alter zu tun? "Nun, in den letzten fünf Jahren haben die Leute speziell in meinem Land ziemlich viel Furcht vorgesetzt bekommen - und sind das satt: Geh' nicht raus, passe auf, da sind überall Terroristen, mach' dies, mach' jenes, der Krieg, Irak, Bush - was weiß ich. Ich singe jetzt zwar keine Eskapisten-Disco, aber mir ist bewusst geworden, dass die Zeit nicht stehen bleibt, und dass man das Beste daraus machen sollte. Jeder einzelne für sich - und dann letztlich auch die Allgemeinheit."

Woher kommen diese Einsichten? "Ich habe eine Menge beim Touren gelernt", erläutert Jesse, "ich habe meine erste Scheibe in meinem Apartment geschrieben. Sie war sehr persönlich und typisch New York. Heutzutage schreibe ich aber lieber ein wenig genereller, globaler. Mir ist nämlich klar geworden, dass die Leute sich meine Texte anhören und diese auf ihre eigenen Lebensstile adaptieren. Egal wie persönlich also meine Songs sind: Sie müssen auch eine Verbindung zu anderen Leuten aufbauen können. Es muss auch immer deren Auto, deren Bar oder deren Kino sein können, von dem ich singe." Und das geht besser, wenn man positiv denkt, oder? "Ich bin generell ein positiver Mensch", bestätigt Jesse, "ich habe es aufgegeben, Sid Vicious zu verehren, als ich 15 war. Ich mag Rock N Roll-Songs, die eine positive Botschaft vermitteln. Sei es Jeff Tweedy - 'Everything's Gonna Be Alright' - oder John Lennon in 'Revolution' oder Bob Marley - 'Three Little Birds'. Weißt du, in diesem Format können wir alles sagen - und da sagt man doch besser etwas Intelligentes und Positives, erzählt großartige Geschichten und singt von der Wahrheit. Ich denke, dass die Leute manchmal vergessen, dass wir die Musik als Transportmedium haben. Musik heilt und es ist der Gospel, der uns alle zusammenführt. Das ist auch der Grund, warum ich mir lieber Live-Shows ansehe als die DVD. Wenn man mit anderen Leuten zusammen im Publikum steht oder auch nur im Plattenladen - das ist doch das wahre Ding." Wenn man das nun alles im Hinterkopf behält: Was ist denn heute aus dem Rock N Roll geworden? "Nun, heute ist der Rock N Roll weniger gefährlich geworden. Das war in den 50s und den 60s noch nicht so", meint Jesse, "es geht nicht immer um eine gute Story und Aufrichtigkeit, sondern um die Mode des Monats. Ich habe da diesen Song 'Aftermath' auf meiner Scheibe, den ich geschrieben habe, als ich mal Yoko Ono auf der Straße gesehen habe und da singe ich, dass du Revolutionen heutzutage in jeder Farbe, jeder Größe und jedem Stil kaufen kannst. Wie ein T-Shirt. Lies das Cover, nicht das Buch - das ist ein wenig schade." Das heißt aber im Umkehrschluss, dass Jesse Malin, der ja gerade den wahren Rock N Roll predigt, besonders aufrichtig ist? "Ich schreibe entweder aus eigener Erfahrung heraus oder durch Beobachtung. Ich beobachte Leute gerne und oft und ich mache mir Notizen. Es muss aber einen Bezug zu mir selbst geben. Auch wenn ich über extreme Charaktere singe, wie z.B. über den Typen, der seine Kinder missbraucht wie auf meiner 'Heat'-Scheibe. Meist ist das eine Emotion wie Hass oder Wut. Die meisten meiner Songs sind sehr persönlich. Machmal ändere ich die Namen. Manchmal aber auch nicht, wie z.B. im Falle von 'Lucinda' von der neuen Scheibe."

Ein Beispiel ist der Song "Broken Radio", den Jesse im Duett mit Bruce Springsteen singt. "Ja, als ich ihn schrieb, war mir das noch gar nicht klar, aber der Song handelt von meiner Mutter", meint er wehmütig, "sie starb als ich 19 war. Sie war das, was man eine frustrierte Sängerin nennt. Sie sang zum Radio oder in der Dusche oder mit einer Haarbürste als Mikro. Wenn ein Song, den sie mochte, im Radio spielte, war sie glücklich. Das ist auch der Grund, warum ich mit der Musik begann - im Alter von 12 Jahren, als ich zum ersten Mal zum CBGBs ging. Ich erinnerte mich an solche Momente - wie ein Song im Radio -, den die Leute dazu benützen, durch den Tag zu kommen. Oder durch die Woche. Ich spiele auch immer bestimmte Songs zu diesem Zweck. Es ist eine Lebenshaltung. Jeder sollte so etwas haben - egal ob es nun Musik ist, Drachen steigen zu lassen oder zu Malen. Jeder braucht ein Auslassventil wie diese. Um diese Grundhaltung geht es auf der neuen Scheibe." Wie geht Jesse mit seinen Gästen um? Schreibt er Songs mit diesem im Hinterkopf? "Ich schalte Anzeigen mit Nacktfotos von mir und lasse Rauchzeichen aufsteigen", witzelt er, "ach, ich weiß nicht. Ich bin ja ein Solo-Künstler und meine Band ändert sich ständig. Da arbeite ich zusammen, mit wem immer es sich ergibt. Ich treffe Leute entweder beim Musizieren oder beim Trinken. Es geht um diese Art von Bekanntschaften. Josh Homme von Queens Of The Stone Age lebt in LA und da hatte ich eine Idee für etwas, was er spielen könnte. Mit Jakob Dylan habe ich mich letztlich angefreundet - war aber immer schon ein Wallflowers-Fan. Wir haben den gleichen Geschmack. Mit Ryan bin ich ja schon seit einigen Jahren befreundet. Wir waren auch immer sehr berüchtigt, wenn wir um die Ecken zogen. Wann immer ich eine Scheibe aufnehme, ist er mit dabei. Seine Beiträge sind immer sehr persönlich und einzigartig. Er ist ein wirklicher Künstler, der sich ständig weiterentwickelt." Mit Ryan hatte Jesse ja auch sein Fun-Projekt, die Punk-Band The Finger. "Ja, da haben wir zwei Scheiben eingespielt. Wir haben auch mal was mit Pete Yorn versucht, einen Song namens 'Company Girl', aber der Song ist bislang noch nicht erschienen." Dafür gibt es auf "Glitter" ein sehr unübliches Replacements-Cover: "Bastards Of Young" ist hier eine Piano-Ballade. "Die Replacements sind eine meiner Lieblings-Bands", erklärt Jesse, "das sollte eigentlich eine B-Seite oder ein Outtake werden. Wir haben das früh morgens live eingespielt. Es passte aber gut zur Scheibe. Wenn ich eine Cover-Version mache, dann will ich die auch zu meiner eigenen machen. Ich mag es, langsame Songs zu beschleunigen und schnelle Songs aufzumischen."

Jesse Malin
Was macht denn einen guten Song für Jesse aus? "Etwas, das zugleich fröhlich und traurig ist. Etwas, was dich bewegt. Die Melodie muss ansteckend sein und es muss emotional funktionieren." Welche Pläne hat Jesse Malin für die Zukunft? "Ich möchte einmal ein Buch schreiben mit den lustigen Geschichten, die ich immer auf der Bühne erzähle", verrät er, "es soll 'Fast erwachsen' heißen. Und ich will eine Scheibe mit Cover-Versionen machen. Und natürlich ein Follow-Up zu 'Glitter In The Gutter' - aber das ist natürlich noch ein wenig zu früh. Und dann will ich unbedingt auch in Deutschland touren. Und ich will die Welt erobern und dabei ehrlich und anständig bleiben." Der Titel des Albums, "Glitter In The Gutter", bezieht sich übrigens auf ein Oscar Wilde-Zitat bei dem es darum geht, in der Gosse zu liegen und zu den Sternen aufzublicken. Übertragen bedeutet dies also: Kopf hoch, Jesse Malin...

Weitere Infos:
www.jessemalin.com
www.myspace.com/jessemalin
en.wikipedia.org/wiki/Jesse_Malin
www.indian.co.uk/jessemalin/
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Jesse Malin
Aktueller Tonträger:
Glitter In The Gutter
(One Little Indian/Rough Trade)
 

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