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15.01.2010
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TINDERSTICKS

The Englishman Who Climbed Up A Hill And Went Down An Album

Tindersticks
Als Stuart A. Staples 2006 sein zweites Solo-Album "Leaving Songs" vorlegte, schien der Mann mit sich im Reinen. "Leaving Songs" klang im Prinzip wie ein ganz normales Tindersticks-Album und Stuart sagte damals auch, dass er eigentlich gar keine anderen Ambitionen gehabt hätte, als eben genau die eingeschlagene Richtung zu verfolgen. Das war damals schon ein wenig seltsam, denn die Gerüchte, dass sich die Tindersticks getrennt haben, mochte Stuart gar nicht dementieren. Es gab dann zwar noch ein Tidersticks-Farewell-Konzert in der alten Besetzung, doch dann gab es eine radikale Wendung: Auf der Tour zu seinem Solo-Album drehte der gemeinhin als lebender, ruhender Pol geltende Mann auf, trieb seine Musiker an und rockte, was das Zeug hielt. Nicht nur sein eigenes Material, sondern auch Tindersticks-Nummern gab es plötzlich in ruppigen, rauen Gewändern zu hören. Und laut war es obendrein. Dann gab es doch wieder ein neues Tindersticks-Album namens "The Hungry Saw" und dort setzte sich fort, was Staples auf "Leaving Songs" begonnen hatte. Mehr noch: Die anschließende Tour - teilweise mit neuen Musikanten bestritten - wurde von vielen als beste, lebhafteste und abwechslungsreichste in der Bandgeschickte bezeichnet. Nun liegt das neue Album vor. Das Einzige, was hier noch wie ein klassisches Tindersticks-Klischee klingt, ist dabei der Titel "Falling Down A Mountain" - ansonsten ist nichts mehr, wie es war.

Nicht nur, dass hier jeder Song irgendwie anders klingt, es gibt sogar regelrecht lebensbejahende, poppige Nummern sowie Ausflüge in den Jazz und Northern Soul, Instrumental-Nummern und ein Duett mit der zurückhaltenden Songwriter-Legende Mary Margaret O'Hara. Die Scheibe erscheint sogar auf dem Indie-Major 4AD. Was zum Teufel ist denn nun eigentlich in den letzten Jahren passiert? "Nun, es ist nicht alles so, wie es scheint", bremst Stuart zunächst mal, "es ist so, dass es bei Beggars Banquet und 4AD in der letzten Zeit eine Entwicklung gegeben hat, die dazu führte, dass 4AD mehr und mehr Beggars geworden ist bzw. umgekehrt. Es ist also nicht so, dass wir uns von einem Label getrennt hätten - wir sind allerdings stolz, an der Entwicklung beteiligt gewesen zu sein und diese mitgemacht zu haben. Und was den Titel der CD und des gleichnamigen Songs betrifft, so ist mir dieser mitten in der Nacht eingefallen. Du weißt ja, dass man uns nie so richtig wörtlich nehmen darf. Wir sind natürlich nicht im wörtlichen Sinne irgendwo runtergefallen - schon gar nicht von einem Berg. Es ist aber so, dass ich beobachtet habe, dass die Scheibe musikalisch von einem gewissen Plateau herunterkommt und eher in Ruhe und Gelassenheit ausklingt, weswegen ich dachte, dass dieser Titel ganz gut passte und der Song wurde zu einem Leitfaden für das Album." Das stimmt wohl - allerdings erklärt das noch keineswegs, was vorher musikalisch alles passiert. Nehmen wir etwa den Titelsong selbst. Dieses ist im Prinzip eine Jazznummer mit nur wenigen Textzeilen. "Ja - es brauchte einfach nicht mehr", erklärt Stuart, "der Song schwappt sozusagen über dich weg. Dieser Song kam zu mir in Form dieser seltsamen Basslinie und Rhythmus. Ich hab den Song der Band bei Proben vorgestellt und das ist daraus geworden. Es klingt sehr frisch und frei. Wir hatten Glück, dass wir das beim ersten Mal mitgeschnitten haben. Das gilt übrigens auch für den Trompetenpart. Terry Edwards kam ins Studio und ich habe ihm nur die Tonart und das Tempo gesagt und ihn dann aufgenommen ohne dass er den Song gehört hätte und dann beides zusammen gehört."

Hm - wenn man bedenkt, dass die Tindersticks eine Band sind, die mit streng durchkomponierten Stücken bekannt wurde, ist das doch ganz schön radikal. "Nun, mit Stücken wie diesen muss man experimentieren. Bei dem Song 'Black Smoke' habe ich zum Beispiel Terrys Saxophon mit doppelter Geschwindigkeit aufgenommen. So entstehen bestimmte Atmosphären. Man muss beim Aufnehmen herumspielen und aufregende Dinge zu entdecken." Auch der Begriff "Aufregen" war ja bislang nicht unbedingt einer, der im Zusammenhang mit den Tindersticks offensichtlich erschienen wäre. Was ist denn nun eigentlich passiert? "Ich denke, wir hatten mit den Tindersticks 2003 einen Punkt erreicht, an dem wir einerseits aufhörten, aber andererseits auch einen Neuanfang wagten. Für mich war das das Jahr 'Null'. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was wir vorher gemacht haben." Bei einer früheren Gelegenheit erklärte uns Stuart ein Mal, dass er vor der Musik und dem Prozess des Aufnehmens eine gewisse Ehrfurcht habe. Das scheint heutzutage überhaupt nicht mehr der Fall zu sein. Behandelt er die Sache heutzutage anders? "Ja, ich denke das hat einfach mit Selbstsicherheit und Zuversicht zu tun", räumt er ein, "das, was ist tue, ist singen, Songs schreiben, aufnehmen, im Studio arbeiten - ein Prozess der mir irgendwann Schmerzen bereiten wird. Ich denke, dass ich heutzutage einfach entspannter an die Sache heran gehen kann. Als ich begann, schrieb ich Songs, die ich gar nicht singen konnte und ich war nicht gut beim Mixen. Heutzutage fühle ich mich diesbezüglich sicherer und der Enthusiasmus der anderen beflügelt mich - während ich früher öfter das Gefühl hatte, etwas ziehen zu müssen. Heutzutage kann ich mir erlauben, Dinge sein zu lassen, was sie sein möchten und muss nichts mehr erzwingen." Ist das auch der Grund, warum es vergleichsweise viele positive, schnelle Popsongs auf dem Album gibt? "Sicherlich", bestätigt Stuart, "aber es gilt zu bedenken, dass alle unsere Alben eine Momentaufnahme des Zustandes sind, an dem wir und ich uns zu jenem Zeitpunkt befunden haben. Ich denke, dass dies also ein Spiegelbild dessen ist, wie ich mich fühlte, als wir die Songs aufnahmen."

Einer dieser Songs heißt "Harmony Round My Table" und handelt von einem Familientreffen. Sucht sich heutzutage Stuart vielleicht ganz einfach weniger schwermütige Themen zum Vertonen aus? "Ich denke, dass, wenn ein Song daherkommt, muss er für mich etwas Neues haben, um mich begeistern zu können", verrät Stuart, "ich suche immer nach neuen Ideen und Perspektiven, die mich begeistern können. 'Harmony' brachte mich zum Lächeln. Und dieses funktionierte auch, als wir den Song ausarbeiteten, probten und sangen. Es hat einfach funktioniert." Ein Song, der auch den Zuhörer zum Lächeln bringen könnte ist sicherlich "Peanuts" - ein Duett mit der kanadischen Songwriterin Mary Margaret O'Hara, die sich seit ihrer legendären Scheibe "Miss America" mehr oder minder zurückgezogen hatte. Die Erdnüsse im Titel sind hier ein Sinnbild für eine Liebesbeziehung. "Der Song ist auch für mich seltsam", erklärt Stuart, "weil das der erste Song ist, bei dem ich direkt von einem Film inspiriert wurde. Ich habe den Film, Fritz Langs 'Fury' - Langs ersten amerikanischer Film - in einem Programmkino gesehen und musste dann gleich diesen Song schreiben. Die Reinheit und die Naivität des Films haben mich sehr berührt - besonders in unseren zynischen Zeiten. Als ich den Text schrieb, spielten wir ein Konzert in Toronto, wo ich Mary kennenlernte. Ich fand sie sehr faszinierend und wollte sie näher kennenlernen. Ihr Ansatz zu singen und zu schreiben gefällt mir sehr gut und ich fragte sie, ob sie den Part singen wollte und er gefiel ihr und sie sagte zu. Das ist eigentlich alles eine Reihe von glücklichen Umständen und Zufällen."

Tindersticks
Neben Stuart und den verbliebenen Tindersticks gibt es mit Earl Harwin einen neuen Drummer und Gäste wie Terry Edwards oder Songwriter-Kollege David Kitt runden das Bild ab. Es scheint, als seien die Tindersticks hier offener für Kollaborationen geworden. Das Klangbild hat sich auch geändert. Als Dickon noch bei der Band war, spielten Streichinstrumente zum Beispiel eine größere Rolle. Heute sind es eher Bläser. Gibt es denn für Live-Auftritte auch einen neuen Ansatz? "Ich denke, es geht einfach darum, die richtigen Leute zusammenzubekommen. Wir wissen noch nicht, was wir auf der nächsten Tour machen werden, aber wir wissen, dass wir im Januar zum Proben zusammenkommen werden, ein Konzert spielen werden und dass ich dann den Leuten vertrauen kann und das ist das, was wir haben. Ich bin aufnahmebereit und gespannt auf das, was passieren wird. Wie beim Aufnahmeprozess wissen wir nicht, was passieren wird. Früher war das anders: Wir wussten genau, was passieren würde und das war der Zeitpunkt, wo alles begann zu sterben. Dieser neue Prozess begann auf der Tour zu meinem zweiten Album." Auf dem Album gibt es mehrere Instrumentals. Wie behandelt Stuart denn Instrumentalmusik per se? "Es ist wie bei Stücken mit Text", führt er aus, "es geht einfach darum, ein Gefühl einzufangen. Es rührt alles von dem Moment her, wo dir irgendwas auf die Schulter klopft und du versuchst, die Essenz dieses Momentes einzufangen. Worte sind bei diesem Prozess am schwierigsten zu finden - einfach weil sie so einfach im Weg stehen können. Es ist für mich schwieriger, den Musikern zu erklären, was ich mit einem Instrumentaltitel ausdrücken kann - es ist aber auch am befriedigendsten." Welche musikalischen Pläne hat Stuart denn für die Zukunft? "Im Moment freue ich mich wirklich darauf, Konzerte spielen zu können und dann freue ich mich auch drauf, eine Weile von meinem Studio wegzukommen und mich ein wenig in der Welt zu bewegen. Ich denke, dass wird dann in der Zukunft sicherlich wieder neue Ergebnisse zeitigen. Wenn 'Hungry Saw' der Startpunkt war, dann ist 'Mountain' ein weiterer Schritt auf dem richtigen Weg. Ich bin gespannt darauf, wie es weitergehen wird und was es brauchen wird, diesen Weg zu beschreiten."

Weitere Infos:
www.tindersticks.co.uk
de.wikipedia.org/wiki/Tindersticks
www.myspace.com/tindersticksofficial
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Tindersticks
Aktueller Tonträger:
Falling Down A Mountain
(4AD/Beggars Group/Indigo)
 

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