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19.09.2017
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LEE RANALDO

Ergebnisoffene Experimente

Lee Ranaldo
Lee Ranaldo ist 61 Jahre alt und hat einen Großteil seines Lebens damit verbracht, als Mitbegründer und Gitarrist von Sonic Youth die Geschichte des Alternative Rock maßgeblich zu prägen. Unzählige Musiker in Bands, die sich heute in Indierockgefilden tummeln, wären und sein Tun vermutlich Anwaltsgehilfen, Krankenpfleger oder Verkäufer bei H&M geworden. Doch sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, kommt für den auch als bildender Künstler arbeitenden Obersympathen nicht infrage. Im Gegenteil: Schon mit seinen ersten Soloveröffentlichungen nach dem Aus von Sonic Youth im Jahre 2011 ging der in New York heimische Ausnahmemusiker couragierter als seine ehemaligen Mitstreiter neue Wege. Mit dem gleichen inspirierenden Enthusiasmus, mit dem er auch bei seinen Konzerten immer wieder begeistert, wenn er zwischen den Liedern mit wahrer Inbrunst Geschichten erzählt und von seinen Einflüssen spricht, entfernt er sich nun mit seinem beeindruckenden neuen Album namens "Electric Trim" weiter als je zuvor vom Kerngeschäft seiner alten Band. Im Gaesteliste.de-Interview verrät er, wie es dazu kam.

"Ich fühle mich richtig gut, weil ich das, was ich tue, derzeit unglaublich genieße", sprudelt es gleich zu Beginn unseres Gesprächs aus ihm heraus. "Ich habe das Gefühl, dass ich mich derzeit in einer der fruchtbarsten und kreativsten Phasen meines ganzen Lebens befinde." In den letzten fünf Jahren hat Ranaldo in schneller Folge drei mitreißende songorientierte Alben und eine LP mit Akustikeinspielungen einer Reihe dieser Lieder veröffentlicht - und musste sich dabei scheinbar gar nicht groß anstrengen. "Das Ganze war in der Tat ziemlich unkompliziert", bestätigt er. "Es war nie ein Kampf, die Sache voranzutreiben." Ein bisschen half ihm allerdings wohl auch der Zufall. Denn nach vielen experimentellen Klangcollagen unter eigenem Namen ging er sein allererstes Soloalbum mit vergleichsweise traditionellen Songs ausgerechnet 2011 in den Pausen zwischen den Gastspielreisen zum Sonic-Youth-Album "The Eternal" an. Als die Trennung und folgende Scheidung von Kim Gordon und Thurston Moore wenige Monate später das Ende von Sonic Youth besiegelte, hatte Ranaldo das perfekte Album für seinen Einstieg in eine echte Solokarriere praktisch fertig in der Schublade.

"Between The Times And The Tides" erschien im Frühjahr 2012 und löste allenthalben ein positives Echo aus. Das Album hatte Ranaldo mit einem losen Verbund von Freunden aus seinem Umfeld aufgenommen, von denen er dann Gitarrist Alan Licht, den leider vor wenigen Wochen verstorbenen Bassisten Tim Lüntzel und seinen alten Sonic-Youth-Buddy Steve Shelley am Schlagzeug für seine Touring-Band The Dust rekrutierte. Das Quartett verstand sich praktisch aus dem Stand blendend, sodass es ganz natürlich war, die nächste Platte mit ausufernden Nummern, die Grateful Dead bisweilen genauso viel verdankten wie Sonic Youth, als Live-im-Studio-Projekt in genau dieser Besetzung anzugehen. Das folgende Unplugged-Album "Acoustic Dust" entstand dann in Spanien, wo Tontechniker Raül "Refree" Fernandez so gut mit Ranaldo harmonierte, dass die beiden beschlossen, die nächste reguläre Studio-LP gemeinsam anzugehen. Ein Jahr lang pendelten die zwei immer wieder zwischen Spanien und dem alten Sonic-Youth-Studio Echo Canyon West in New Jersey hin und her, um "Electric Trim" auf selbst für einen Großmeister der experimentellen Klangerzeugung unkonventionelle Art und Weise aufzunehmen. "Die neue Platte ist eines der besten Projekte, an dem ich je beteiligt war, wenn ich bedenke, wie spannend und angenehm der sehr lang gezogene Aufnahmeprozess war und wie glücklich ich mit dem Ergebnis bin", sagt Ranaldo begeistert, wenn er an die Entstehung der Platte zurückdenkt.

Die Gefahr, nach der Auflösung der Band, die praktisch sein komplettes Leben als Erwachsener bestimmt und geprägt hat, in ein kreatives Loch zu fallen, hat für Ranaldo offenbar nie bestanden. Zum Teil führt er das auf das jahrelange Training bei seiner alten Band zurück. "Auch bei Sonic Youth waren wir in all den Jahren nie gefährdet, das Interesse zu verlieren und die Suche nach neuen, spannenden Dingen aufzugeben", erklärt er. "Ich denke, dass das einfach meine Art ist: Ich arbeite gerne hart und fummel mich gerne tief in die Dinge rein."

Natürlich schätzt er sich glücklich, auch weiterhin die Art von Ressourcen zur Verfügung zu haben, die es ihm erlauben, den Gutteil eines Jahres auf die Produktion eines Albums zu verwenden, während viele seiner alten Weggefährten heute ihre Platten so schnell wie irgend möglich raushauen, weil es sich sonst nicht rechnet. "Electric Trim" gingen Ranaldo und Fernandez als echtes Studioprojekt an, bei dem es nicht allein um die Performances der Band, sondern um behutsam aufgeschichtete Klänge ging, die nicht selten auch aus dem Computer stammten. Mit Platten wie "Revolver" von den Beatles oder "Pet Sounds" von den Beach Boys als Vorbild ging es darum, die Studiotechnik so weit wie möglich auszureizen. "Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich diese Erfahrung zum jetzigen Zeitpunkt meiner Karriere noch machen durfte", gesteht er. Dabei hätten viele wohl vermutet, dass er sich in dieser Hinsicht bereits mit seiner alten Band genügend ausgetobt hat. "Nicht auf die gleiche Weise", schränkt er ein. Bei Sonic Youth stand letzten Endes bei aller Liebe zu wüsten Experimenten immer der Sound des Zusammenspiels der vier Musiker im Zentrum. "Selbst wenn wir richtig atmosphärisch wurden und die Gitarren übereinandergetürmt haben, entstand das Grundgerüst für die Songs doch, wenn wir vier live spielten", verrät er. "Meine neue Platte dagegen hat ihren Ursprung in äußerst primitiven Akustikdemoaufnahmen, die oft noch nicht einmal Texte hatten. Das Ganze war ein fortwährender Prozess von Versuch und Irrtum, in dessen Verlauf wir versucht haben zu ergründen, was der jeweilige Song will oder braucht, um komplett zu werden."

Diese Herangehensweise war für ihn gleichermaßen spannend wie ungewohnt. "Raül arbeitet mit Techniken, die mir, wenn ich ehrlich bin, bis dato fremd waren, da er zum Beispiel gerne Elektronik und Samples einsetzt", gibt er zu. "Er hat auch Clicktracks verwendet, was komplett neu für mich war. Ich kann nicht sagen, dass mich das besonders begeistert hat, aber ich habe verstanden, dass das ein sinnvolles Hilfsmittel ist, wenn man auf seine Weise arbeitet." Zu Anfang nahmen die beiden lediglich Ranaldos Akustikgitarre auf und machten sich dann an die strukturelle Arbeit, indem sie die einzelnen Teile des Songs, die Strophen und die Refrains, am Computer verschoben, bis sie einen zufriedenstellenden Aufbau des Songs gefunden hatten. "Danach haben wir uns dann gefragt, was wir noch hinzufügen könnten", erinnert sich Ranaldo. "'Ein Keyboard vielleicht? Sollen wir mal eine Orgel ausprobieren? Oder doch besser ein paar Stromgitarren?' Wir haben einfach versucht herauszufinden, was die Songs benötigen. Manchmal hatte ich Ideen im Hinterkopf, in welche Richtung die Songs sich bewegen sollten, aber sie waren sehr ergebnisoffen. Das ist eine gute Art und Weise zu arbeiten!"

Doch auch als die beiden am Ende noch "echte" Musiker einluden, um den am Computer ausgearbeiteten Strukturen den berühmten "human touch" zu geben, achteten sie darauf, neue Pfade zu beschreiten und Vorhersagbares auszublenden. Bei einigen Songs ergänzen sich deshalb zum Beispiel das Schlagzeugspiel von Steve Shelley bei den Strophen, das Drumming von Oneidas Kid Millions beim Refrain und elektronische Beats bei der Überleitung. Der Vorschlag, anders als auf den vorangegangenen Platten nicht ausschließlich auf Shelley an den Trommeln zurückzugreifen, kam von Fernandez, der damit die im jahrzehntelangen Zusammenspiel von Ranaldo und Shelley längst verinnerlichten Prozesse aufbrechen wollte.

Mit der Idee, Fernandez als Co-Produzent und Vertrauten mit ins Boot zu holen, kehrte Ranaldo in gewisser Weise zu einer Struktur zurück, die ihm bei seiner früheren Band immer sehr gefallen hatte. "Das Großartige an Sonic Youth war, dass unsere Musik auf sehr kollaborative Weise entstanden ist - das war immer ein tolles Arbeiten", erinnert er sich. "Wenn ich als bildender Künstler arbeite, bin ich es gewohnt, allein etwas zu kreieren, aber Musik war für mich immer eine Gruppenaktivität. Ich habe es immer sehr genossen, dass wir bei Sonic Youth die Lieder gemeinsam entwickelt haben. Da ist nie jemand zur Probe gekommen und hat gesagt: 'Guckt mal, hier ist unser neuer Song!' Es hieß immer: 'Ich hab da eine Idee, mal schauen, was wir zusammen daraus machen können!' Bei meinen Soloplatten fehlte mir das bisher ein Stück weit, auch wenn die Jungs von The Dust bei 'Last Night On Earth' echte Mitstreiter gewesen waren. Obwohl ich zunächst nicht wusste, was aus der Zusammenarbeit mit Raül werden würde, war ich doch auf der Suche nach einem neuen Kollaborateur, auf der Suche nach neuem, andersartigem Input."

Doch Fernandez war nicht der einzige starke Partner, mit dem Ranaldo bei "Electric Trim" gemeinsame Sache machte. Auch Schriftsteller Jonathan Lethem, der Bestseller wie "Die Festung der Einsamkeit" verfasst hat, trug seinen Teil bei. "Die Zusammenarbeit mit einem Texter hatte ich schon länger ins Auge gefasst", erzählt Ranaldo. "Ich hatte Jonathan eigentlich schon für 'Last Night On Earth' fragen wollen, aber letztlich kam es nicht dazu." Den Einfall hatte er, weil einige der Bands, die er stets am meisten bewundert hatte, auch mit externen Textern außerhalb der Band kollaborierten, allen voran Grateful Dead. "In den letzten vier, fünf Jahren ist meine alte Liebe zu dieser Band wieder entfacht", verrät er. "Das geschah, nachdem ich an einem Projekt von The National beteiligt gewesen war, bei dem sie mit verschiedenen Gästen Dutzende Grateful Dead-Songs gecovert haben. Mir wurde wieder bewusst, wie viele großartige Songs sie hatten, aber eben auch, wie gut ihre Texte waren, weil es da mit Robert Hunter diesen Typen gab, der Teil der Band war, aber nicht mit auf der Bühne stand, sondern nur zu Hause die Text verfasste." Gleichzeitig dachte er auch an "Desire", die Platte, für die Bob Dylan die Texte gemeinsam mit Jacques Levy geschrieben hatte. "Ich wollte, dass jemand von außerhalb meinen Songs eine neue Perspektive hinzufügt", sagt er bestimmt. "Jonathan und ich sind alte Bekannte und ich wusste, dass er so etwas schon mal gemacht hatte. Auch deshalb verlief unsere Zusammenarbeit völlig reibungslos und entpuppte sich als sehr fruchtbar."

Das letzte wichtige Element, das "Electric Trim" hörbar von seinen Vorgängern unterscheidet, ist der Gesang. Schon zu Sonic Youth-Zeiten hatte Ranaldo immer wieder mit sanfter Stimme und seinem Faible für Beatpoetry-Sprechgesang zu gefallen gewusst, doch dieses Mal ging er sogar noch einen Schritt weiter. "Raül und ich wussten von Beginn an, dass wir uns bei dieser Platte besonders auf den Gesang konzentrieren wollten", erklärt er. Das geht zurück auf die Zusammenarbeit für die "Acoustic Dust"-Platte, die Ranaldo und The Dust mit Fernandez am Mischpult in Barcelona eingespielt hatten. Nachdem die Musik fertig war, verbrachten die zwei für die Stimmaufnahmen einige Tage allein im Studio und der Spanier war schwer beeindruckt vom Gesang Ranaldos. "Das war der Moment, bei dem es bei ihm klick gemacht hat und er mir sagte, dass er liebend gerne mit mir an einem Projekt mit neuen Songs arbeiten würde", erinnert sich Ranaldo. "Wir wussten, dass ich einen Teil der Harmonien übernehmen würde und dass er auch welche beisteuern könnte, aber wir wollten auch noch andere Texturen einarbeiten, und eine weibliche Stimme passte da einfach gut ins Konzept."

Die weibliche Stimme, von der Ranaldo spricht, gehört Indie-Folk-Queen Sharon Van Etten, die für die Gesangsaufnahmen ihre Babypause unterbrach. Doch wie kam es überhaupt zu dieser inspirierten Wahl? Ranaldo klärt auf: "Sharon und ich sind nun schon einer Weile in ähnlichen Kreisen unterwegs, sind bei den gleichen Festivals aufgetreten und so weiter, aber dennoch hatten wir uns noch nie wirklich persönlich kennengelernt. Sie anzusprechen war ein Schuss ins Blaue, denn mir war nicht klar, dass sie ein großer Sonic-Youth-Fan ist. Sie sagte sofort zu, vorbeizukommen und die zwei, drei Songs zu singen, die ich für sie im Kopf hatte. Als sie dann bei uns im Studio war, probierten wir auch hier und da noch etwas aus, und am Ende singt sie nun auf sechs Stücken!" Mehr noch, die Nummer "Last Looks" wurde kurzerhand zu einem waschechten Duett umfunktioniert! "Der Vorschlag, aus 'Last Looks' ein Duett zwischen Sharon und mir zu machen, kam von Raül - ich wäre da nie drauf gekommen!", gesteht Ranaldo. "Zuerst war ich nicht so recht davon überzeugt, aber letztlich stellte sich heraus, dass es eine ganz ausgezeichnete Idee war. Was die Platte ausmacht, ist, dass es viele individuelle Songs gibt. Kaum einer klingt wie der nächste und das Duett sorgt noch einmal für eine ganz neue Atmosphäre!"

Mit kleinem Besteck - mit ihm selbst an der Akustikgitarre, Fernandez an den Keyboards und einem Perkussionisten statt einem traditionellen Drummer - will Ranaldo die neuen Songs in den kommenden Monaten dann auch auf die Bühne bringen. Erste Auftritte in Deutschland sind für Februar und März nächsten Jahres bestätigt. Den Wunsch nach einer Beschränkung aufs Wesentliche haben dabei nicht zuletzt die vielen allein gespielten Akustikkonzerte geweckt, die Ranaldo in den letzten Monaten rund um den Globus absolviert hat. "Genauso wie die Herangehensweise an die Platte waren auch die Solo-Akustikkonzerte Neuland für mich. Von außen mögen sie eher traditionell anmuten, aber für mich fühlen sie sich sehr experimentell an, ganz einfach, weil ich mich damit musikalisch in mir unbekannte Regionen vorwage", erklärt er zufrieden. "Ich habe einfach das Gefühl, dass derzeit viel passiert und die Dinge richtig gut für mich laufen."

Weitere Infos:
www.leeranaldo.com
facebook.com/leeranaldoofficial
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Alex Rademakers-
Lee Ranaldo
Aktueller Tonträger:
Electric Trim
(Mute/Pias/Rough Trade)
 

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