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28.02.2020
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POSTCARDS

Die Rechtfertigung der Substanz

Postcards
Eine Postkarte schickt man ja gemeinhin aus weiter Ferne und aus dem Urlaub. Nun ist es zwar nicht so, dass das Dreampop-Trio Postcards im Urlaub ist - aber aus weiter Ferne erreichen uns deren Grußbotschaften schon, denn Julia Sabra, Pascal Semerdjian und Marwan Tohme kommen (auch wenn sich das keineswegs heraushören lässt) aus der libanesischen Hauptstadt Beirut. "The Good Soldier" ist das zweite Album des Trios - mit dem die Band auch wieder auf Tour gehen wird - und auch auf diesem verzichten die Postcards darauf, Erwartungshaltungen zu erfüllen oder sich gar auf etwa libanesischer Folk-Traditionen zu bedienen. Stattdessen entwickeln sie dem 2017 auf dem Debütalbum "I'll Be Here In The Morning" etablierten New Wave Dream Pop-Stil (übrigens eher britischer als US-amerikanischer Prägung) konsequent weiter und reichern diesen auch wieder mit Julias unwirklich anmutenden, allegorischen Lyrics an, die diese Genrekonform konsequent anmutig dahinhaucht.

Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass die Postcards nicht eben aus einem spannungsfreien Gebiet kommen, stellt sich die Frage, wie die Bandmitglieder eigentlich zu ihrem typischen - und weitestgehend aggressionsfreien - Stil gefunden haben? "Wir sind alle auf verschiedene Weise zur Musik gekommen", erläutert Julia Sabra, "Pascal und Marwan sind Cousins und haben in verschiedenen Band gespielt - wie viele jugendliche Libanesen zunächst in Metal- und Prog-Rock-Bands - bis sie schließlich ihren Horizont erweitert haben. Ich komme aus einer musikalischen Familie und lernte klassisches Piano und sang in Chören, bis ich 23 war. In meiner Familie hörten wir klassische Chansons und auch Folk-Acts wie The Seekers oder Peter, Paul & Mary. Auch die Beatles waren ein großer Einfluss." Da Julia ihre Texte zumindest verschleiert bzw. kaum etwas in ihren Lyrics erklärt, stellt sich natürlich die Frage, wovon die Postcards eigentlich singen. Was bedeuten zum Beispiel die Titel der LPs? "Auf 'I'll Be Here In The Morning' realisierten wir erstmals, was auf unserer Welt alles falsch läuft und wie wir damit umgehen müssten. Der Titel kann also entweder als Zeichen der Hoffnung oder als das Fehlen ebendieser Hoffnung und die Akzeptanz dessen, womit wir konfrontiert werden, interpretiert werden. Der 'Gute Soldat' hingegen kämpft die Kämpfe, die wir uns entschlossen haben, anzunehmen. Wir sind alle Mitte zwanzig und versuchen das, was man 'erwachsen sein' nennt, zu handhaben. Alles, was uns als Kinder gelehrt wurde und woran wir blind geglaubt haben - politisch, sozial, emotional -, zerbröselt und wir versuchen, Alternativen zu finden. Beziehungen, Freundschaften und andere Dinge, die 'gegeben' schienen, scheinen für uns gar keinen Sinn zu machen. Also führen all unsere Fragen dahin, welche 'Kämpfe' und welche 'Regeln' für uns richtig sind - bzw. zu versuchen, sie überhaupt zu finden."

In diesem Zusammenhang: Was wollen uns denn die Cover-Motive sagen? "Wir lieben es, am Artwork mitzuarbeiten und zu versuchen, etwas zu finden, was das Thema des jeweiligen Albums weiter erklärt, ohne allzu offensichtlich zu sein", erläutert Julia, "für 'The Good Soldier' ließen wir uns von Fotos von Anja Niemi inspirieren. Es gab da ein paar Aufnahmen von kleinen, persönlichen Dingen und Schlafzimmern, die sehr intim ausgeführt waren, sich aber fremd und kalt anfühlten - was perfekt dem entsprach, was wir aussagen wollten. So haben wir uns also mit Rachel Tabet unterhalten, die die Fotos für unsere bisherigen Veröffentlichungen geschossen hatte und ihr unsere Absichten erklärt und auf diese Photos hingewiesen. Sie hat uns dann ein paar Alternativen angeboten - und die Aufnahme des Schlafzimmers machte am meisten Sinn. Auf der Scheibe geht es ja darum, der Welt da draußen zu begegnen und der Idee des Zuhause als sicherer Rückzugsort. Tatsächlich aber bietet das Zuhause ja aber gar keine wirkliche Fluchtmöglichkeit oder keinen Schutz - weswegen sich das alles etwas unwirklich anfühlt." Was ist für Julia die Funktion ihrer Texte? "Alles, was ich schreibe, basiert auf meinen Gefühlen, Gedanken und realen Situationen - auch wenn ich surreale Bilder oder eine metaphernreiche Sprache verwende. Die Geschichten und Emotionen sind immer in der Realität verwurzelt - auch wenn sie mich manchmal an einen Ort transportieren, an den ich zuvor nicht gedacht habe." Nun - man sagt ja, dass eine Eigenschaft guter Musik sei, auch den Hörer an Orte zu entführen, an die er zuvor nicht gedacht hat. "Genau", bestätigt Julia, "ich kann einen Song mit einem bestimmten Thema im Sinn beginnen, aber während des Prozesses kann dieser dann eine unerwartete Wendung nehmen oder eine andere Bedeutung bekommen."

Postcards
Nun ist es ja so, dass die Postcards aus einer sehr unruhigen Region kommen. Inwieweit wirkt sich das denn auf die Musik des Trios aus? "Wir sind definitiv an den Protesten in Beirut beteiligt", berichtet Julia, "jeder Libanese mit einem Minimum an Bewusstsein ist das. Wir bitten ja schließlich die Politiker nur, ihren Job zu machen: Unsere Menschenrechte sicherzustellen und weniger korrupt zu sein. Grundsätzlich wurde das Album im August geschrieben, aufgenommen und gemastert - also lange bevor die aktuellen Proteste begannen. Bis wir also neue Songs schreiben, wissen wir gar nicht, inwieweit sich das auf unsere Musik auswirkt. Wir sind aber natürlich sehr von unserer Umgebung und den Dingen, die uns passieren, den Gesprächen, die wir führen und den Dingen, die wir fühlen geprägt - also wird sich das definitiv irgendwann zeigen." Wonach suchen die Songwriter Postcards? "Wir bemühen uns, uns auf zwei Dinge zu konzentrieren: Einen guten Song zu schreiben, der einen Text hat, der zumindest für uns etwas zu sagen hat und einen Song zu schreiben, der sich auch ohne große Produktion, in einer grundlegenden Form auch noch funktioniert. Wir mögen es nicht, Musik ohne Rechtfertigung zu schreiben. Es gibt einen Zweck und einen Grund für jeden Bestandteil des Songs - von den Arrangements über die Produktion zu den Texten." Was zeichnet einen guten Song dabei aus? "Man kann fast immer heraushören, wenn sich ein Musiker etwas gedacht hat - oder ob er etwas macht, das nur auf einer Stimmung basiert. Das ist der Unterschied zwischen großartigen Shoegaze-Bands und jenen 'verwascheneren' Bands, die einfach nur ein wenig Hall auf verträumte Textphrasen packen. Und das gilt eigentlich für alle Musik-Genres. Wenn die Absicht und die Arbeit herausgehört werden können, dann hast du einen guten Song." Was ist für die Postcards die größte Herausforderung als Songwriter? "Sich auf die Substanz zu konzentrieren", führt Julia aus, "Niemand erschafft etwas wirklich Einzigartiges, denn alles was in der Kunst oder der Musik gemacht werden kann, hat es zuvor schon in der einen oder anderen Form gegeben. Wir fügen also unsere Sichtweise hinzu. Wir geben nicht vor, etwas revolutionieren zu wollen."

Und wie haben die Postcards dann ihre musikalische Identität gefunden? "Es geht nicht darum, kulturelle Referenzen aufzugreifen", überlegt Julia, "das wäre so, als ginge es darum, dass jede amerikanische Band ein Banjo in der Besetzung haben müsste. Wir müssen aber ja gar nicht nicht die traditionellen Aspekte des Libanon repräsentieren, um als kulturell relevant gelten zu können. Wir sind nun mal mit einer Menge westlicher Musik aufgewachsen und Englisch war unsere Haupt-Sprache an der Schule (neben Französisch ist das auch an den meisten Schulen hier so). Es machte für uns also Sinn, uns auch auf diese Weise auszudrücken. Wir sprechen Arabisch - aber wir denken auf Englisch. Alles, worüber wir singen, ist in unserem Leben in Beirut verwurzelt. Zum Beispiel sind Hintergrundgeräusche für uns ganz normal, weil Beirut die lauteste Stadt ist, in der man leben kann. Das ist nur ein Beispiel - aber wir, die Internet-Generation, haben eine Menge Musik gehört, als wir aufwuchsen und unseren Platz in Shoegaze- und Dreampop gefunden, weil es uns möglich war, dieses Genre für unsere Bedürfnisse anzupassen." Was macht ihr denn zum Spaß? Denn eure Musik ist ja überwiegend nachdenklich. "Och, wir sitzen eigentlich nur rum und weinen", scherzt Julia, "aber Spaß beiseite: Der lohnendste Aspekt unseres Tuns ist vermutlich, wenn die Menschen sich in unsere Musik verlieben, weil sie diese auf irgendeine Weise berührt. Man kann eigentlich ja auch nicht mehr verlangen."

Weitere Infos:
www.postcardsmusic.com
www.facebook.com/postcardsmusic
www.youtube.com/watch?v=vkoEUpCXuPA
www.youtube.com/watch?v=lenC9FvweCo
www.youtube.com/watch?v=_4i8_NmIEuo
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Rachel Tabet-
Postcards
Aktueller Tonträger:
The Good Soldier
(T3 Records/Galileo)
 

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