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14.03.2000
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AIR

Ladies and gentlemen, einsteigen und mitfliegen bei Air France!

Air
In der Schule sei er immer sehr scheu und zurückhaltend gewesen, ein typischer Einzelgänger, gibt JB Dunckel, eine Hälfte des französischen Überflieger-Duos Air, zu Protokoll. Er sei deshalb besonders froh gewesen, mit Nicolas Godin einen Seelenverwandten gefunden zu haben, mit dem man nicht nur Platten tauschen, sondern auch aus dem Vorstadtsumpf von Versailles entkommen konnte.

Und nachdem die ersten Singles der Zwei, "Modular Mix" und "Casanova 70", weit über ihre französische Heimat hinaus zum Kult avancierten, wurden aus den Vorstadt-Außenseitern fast über Nacht veritable Popstars. Sehr zur Freude des Duos, das endlich seine "bürgerlichen" Berufe an den Nagel hängen konnte. "Wenn du wie ich als Architekt arbeitest, ist alles so festgelegt. Es gibt aber natürlich Parallelen. In der Architektur musst du irgendwann auch deine Pläne vorlegen und begutachten lassen. So ähnlich fühlt es sich mit dieser Platte an", sinnierte Nicholas damals. "Advanced Popmusik" ist der Stil genannt worden, den sich Air spätestens mit ihrem weltweiten Debutalbum "Moon Safari" vor zwei Jahren und den absoluten Single-Knüllern "Sexy Boy", "Kelly Watch The Stars" und "All I Need" zu Eigen gemacht haben.

Doch eine weltweit umjubelte, ausverkaufte Tournee später sind sich Air auch der Schattenseiten des Ruhmes bewusst geworden, wie Nicolas zugibt: "Es ist harte Arbeit und auf uns lastet sehr viel Druck. Alle sehen uns als Popstars, dabei höre ich selbst gar nicht so viel Popmusik. Viel eher Sachen wie Sly And The Family Stone. Von den Beatles mag ich zum Beispiel auch viel lieber die unbekannteren Sachen und nicht 'Yesterday' oder 'Yellow Submarine'".

Das einzige Mittel, was dagegen hilft, ist bekanntlich eine lange Veröffentlichungspause, aber das ist ein Wort, das im Wortschatz von Air nicht existiert, wie auch Nicolas lachend eingestehen muss. So gab es im Herbst zunächst einmal einen Tourneemitschnitt in Form des genialen DVD-Dokumentarfilms "Eating, Sleeping, Waiting & Playing". Aufgenommen in der altehrwürdigen Town Hall in New York City, dem Shepard's Bish Empire zu London und Le Cigale in ihrer Heimatstadt Paris dokumentiert der von Mike Mills gedrehte Steifen die triumphale 1998er Tour der beiden Franzosen und ihrer Band - auf ähnlich humorvolle Weise wie schon die ebenfalls von Mills gedrehten Videoclips zum "Moon Safari"-Album. Da darf im Video zu "Kelly Watch The Stars" gerne ein Tischtennismatch im Mittelpunkt stehen und die Protagonisten Nicolas und JB dürfen ruhig nur als Sanitäter zum Einsatz kommen, und die Live-Dokumentation kann auch Szenen "aus dem Wald in der Nähe von Air's Tonstudio" enthalten, die auch in einem Monty-Python-Spielfilm nicht fehl am Platze gewesen wären. Während die Ideen für die visuelle Umsetzung der Musik in erster Linie von Regisseur Mills stammen, ist Nicolas und JB die humoristische Note von Videos und Film-Doku sehr wichtig: "Wir machen halt sehr melancholische Musik, deshalb sollen die Videos und auch der Film ein Gegengewicht darstellen. Wer will schließlich schon sein ganzes Leben lang traurig sein?"

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Die Tournee selbst war jedenfalls für die beiden sympathischen Franzosen von Anfang bis Ende ein Grund zum Feiern, was in dem Film auch die Szenen eindrucksvoll belegen, die das Duo kurz nach dem Aufstehen und von den "Strapazen" des Vorabends gezeichnet zeigen. "Die gesamte Tournee war großartig, aber ich muss sagen, dass die Shows in Deutschland die besten überhaupt waren", schwärmt Nicolas noch anderthalb Jahre später bei unserem Gespräch Mitte Januar. "Das Schönste für mich an der ganzen Tour war, dass ich mich um absolut nichts kümmern musste. Ich musste mein Konto nicht ausgleichen, keine Stromrechnung bezahlen, noch nicht einmal einkaufen oder kochen." Außerdem gab es ebenfalls im letzten Herbst auch noch die Wiederveröffentlichung ihrer frühen Singles auf dem Album "Premier Symptomes". Und das zeigte noch einmal eine andere, weniger Mainstream-Pop-orientierte Seite der Franzosen. "Mag sein", meint Nicholas lachend, "aber wir entwickeln uns eben weiter. Als wir zum Beispiel 'Modular' gemacht haben, hatten wir nur ein ganz minimales Equipment. Erst später haben wir uns die ganze Technik besorgt und konnten eine Platte wie diese jetzt überhaupt erst machen. Damals wollten wir keinen echten Song mit Refrain-Strophe-Refrain machen, also haben wir all diese Soundeffekte benutzt. Das ist jetzt anders." Und Jean Benoit ergänzt: "Früher war es auch so, dass unsere Freunde uns alle gehasst hätten, wenn wir Mainstream-Musik gemacht hätten. Jetzt sind wir in einer Position, in der wir ihnen verständlich machen können, dass dies genau das ist, was wir machen wollen."

Gerade in ihrer Heimat hat man Air diesen Kurswechsel sehr übel genommen. Ähnlich wie auch ihre Kollegen von Stereolab werden Air seit ihren ersten internationalen Erfolgen in Frankreich mit Missachtung gestraft. Im Land unserer Nachbarn gibt es anscheinend immer noch nichts Schlimmeres als einheimische Künstler, die auch im Ausland Erfolg haben. "Stimmt. Die Franzosen lieben es, Künstlern sozusagen Asyl zu gewähren, die es in ihrer Heimat nicht geschafft haben, sieh dir nur die ganzen Jazzmusiker und Dichter in den 40ern und 50ern an, die nach Frankreich gekommen sind. Aber wehe, ein Franzose hat im Rest von Europa oder sogar in Übersee Erfolg. Dann reagieren die Franzosen sehr empfindlich und wollen mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Für uns ist das kein Drama, denn es ist ja nicht so, dass uns zu Hause niemand mag. Es ist nur eben so, dass wir in den Staaten und besonders auch in England erfolgreicher sind."

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Und ein Ende der Air'schen Erfolgsserie ist nicht abzusehen, denn dieser Tage erscheint ihr brandneues Album "The Virgin Suicides", der Original-Soundtrack zum gleichnamigen Debutfilm von Francis Ford Coppolas Tochter Sofia. Auch wenn einige Stücke auf dem Album recht kurz sind und - wie es sich für einen echten Filmscore gehört - mehr auf Stimmung denn auf Melodie setzen, finden sich unter den 13 brandneuen Tracks doch eine Vielzahl von genialen Stücken, die es locker mit dem einzigen Vocal-Track, der äußerst hitverdächtigen Vorabsingle "Playground Live", aufnehmen können. Was sich schon auf der 1998er Tournee abzeichnete, findet hier seine Fortsetzung. War die letzte LP eher vom Easy Listening der Mitt-60er geprägt, gehen Air inzwischen wesentlich mehr in Richtung des progressiven Räuberstäbchen-Sounds, mit dem Bands wie Pink Floyd in den 70ern zu Millionensellern wurden. Und sogar ein paar soundtechnische Reminiszenzen an den großen John Lennon dürfen nicht fehlen. Übringens eine Parallele zu den Air-Live-Konzerten, denn mit dem Bühnensound haben sie die musikalischen Veränderungen auf "The Virgin Suicides" bereits vorweggenommen. "Wir haben den Soundtrack direkt im Anschluss an die Tour aufgenommen", erklärt Nicolas, "deshalb ist es kein Wunder, dass die Konzerte ein wenig abgefärbt haben. Außerdem spielt der Film selbst ja auch in den 70ern, warum also nicht auch 70s-gefärbte Musik dazu verfassen? Das alles passierte bereits im letzten März, und eigentlich hätte die Musik schon viel früher veröffentlicht werden sollen, aber dann wurde der Film verschoben, und die Musik vorab herauszubringen hätte ja nur wenig Sinn gemacht."

Aufgenommen wurden die Stücke übrigens auch ganz klassisch. "Wir haben die Musik aufgenommen, als der Film bereits fertig abgedreht war und gerade geschnitten wurde. Wir haben eine Rohfassung zu sehen bekommen, dazu spontan vor der Leinwand die Musik geschrieben und aufgenommen", erklärt Nicolas den Aufnahmeprozess, mit dem sich Air einen ihrer Träume verwirklichten. "Wir wollten unbedingt irgendwann einmal einen Soundtrack aufnehmen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde. Ehrlich gesagt war ich davor ziemlich nervös. Aber sobald wir den Film sahen, war es das Natürlichste auf der Welt, die Bilder in Musik umzusetzen."

Und ebenso natürlich, wie sie "The Virgin Suicides" direkt im Anschluss an ihre Welttournee aufgenommen haben, sind Nicolas und JB auch jetzt schon wieder in ihrem verschlafenen kleinen Studio in der Nähe von Paris zugange, um ihr nächstes reguläres Album zu schreiben und aufzunehmen. Erscheinen soll es laut Plattenfirma diesen Herbst, Nicolas hält inzwischen einen Veröffentlichungstermin Anfang 2001 für realistischer. Verraten, wohin die Reise mit Air dann gehen wird, wollte er leider noch nicht. Die Aufnahmen seien einfach noch in einem zu frühen Stadium, um verbindliche Prognosen abgeben zu können, meinte Nicolas freundlich, aber bestimmt. Aber mit "Moon Safari" und "The Virgin Suicides" als Maßstab ist eines fast sicher: Tolle Musik erwartet uns auf jeden Fall!

Weitere Infos:
source.astralwerks.com/air
www.virginsuicides.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Pressefreigaben-
Air
Aktueller Tonträger:
The Virgin Suicides
(Virgin)
 

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