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Interview-Archiv

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BERND BEGEMANN UND DIE BEFREIUNG
 
Die ganze Welt in 28 Liedern
Bernd Begemann und Die Befreiung
Fünf Jahre. Nie hat sich Bernd Begemann in seiner langen Musikerlaufbahn mehr Zeit zwischen zwei Studioalben gelassen. Jetzt meldet sich der elektrische Liedermacher aus Hamburg zurück. "Eine kurze Liste mit Forderungen" heißt das neue Album des 53-jährigen Singer/Songwriters mit der feuerroten Gitarre augenzwinkernd, ist es doch mit 28 neuen Liedern ein echtes Mammutwerk geworden, auf Vinyl sogar eine Doppel-LP. In knapp 80 Minuten bildet der Mann, der ohne zu flunkern von sich behaupten darf, einst einer der Initiatoren der Hamburger Schule gewesen zu sein, und der trotz mehr als 20 in Fankreisen heiß geliebten Alben immer nur wenige Millimeter am ganz großen Erfolg vorbeischrammte, darauf sein ganzes Schaffen ab: Detailverliebt erzählt er aus seinem Leben und aus dem Leben anderer, knüpft hier und da an altbekannte Muster und Ideen an, wenn er mit leichter Hand Humor, Zynismus und ernst gemeinte Emotionen verbindet, wagt sich gleichzeitig als scharfsinniger Beobachter aber auch an Themen und Perspektiven, die (nicht nur für ihn) neu sind und lässt das Alltägliche, das Unspektakuläre spektakulär erscheinen. Wir trafen ihn kurz vor Weihnachten vor seinem feinen Auftritt im Düsseldorfer Freies Forum Theater, bevor er Mitte Februar erneut mit seiner Band Die Befreiung auf Tour geht und dann auch seine neue Single "Komm zurück, Olli Schulz" im Gepäck hat.
Mit seinem neuen Album wagt Begemann zwar keinen kompletten Neuanfang, dafür gelingt ihm ein Update seines unverwechselbaren Stils. So entstand auch die neue Platte wieder gemeinsam mit seinen langjährigen Mitstreitern Ben Schadow, Achim Erz und Kai Dohrenkamp von seiner Band Die Befreiung, doch an vielen anderen Stellschrauben wurde eifrig gedreht. Nachdem das Vorgängeralbum "Wilde Brombeeren" eher wie eine Compilation mit neuen Liedern gewirkt hatte, war für Begemann dieses Mal ein roter Faden wichtig. "Mein Ehrgeiz war, die ganze Welt in 28 Lieder zu fassen", sagt er bestimmt und nennt die Romane von Honoré de Balzac oder das, was Jonathan Franzen heute versucht zu machen, als Inspiration: "Du guckst dir eine Sache genau an - eine Ehe oder eine Nachbarschaft -, beschreibst sie dann genau und weißt am Ende, was los ist."

Der Ausgangspunkt ist für Begemann dabei stets derselbe. "All meine Lieder entstehen aus einer Beunruhigung heraus", verrät er. "Du kennst das sicher: Manchmal stehst du am Fenster, siehst irgendwas und guckst weg. Doch dann denkst du: Was war das überhaupt - und guckst noch mal hin. DAS ist ein Lied, das Noch-mal-Hingucken. Außerdem habe ich ein Bewusstsein für all die 1.000 Lieder, die ich schon geschrieben habe und die ich nicht noch einmal schreiben möchte. Durch dieses Bewusstsein gibt es manchmal Fortführungen alter Lieder, Sequels, Prequels und manchmal sogar Sidequels, um in der Filmsprache zu bleiben." "St. Pauli hat uns ausgespuckt", die erste Single aus der neuen Platte, ist so ein Fall. Hier nimmt Begemann den Faden seines Fast-Hits "Oh, St. Pauli" aus dem Album "Du bist jetzt in Talkshows" von 1996 wieder auf. "Das ist gewissermaßen 'Oh, St. Pauli Revisited', das ist doch toll!", findet er. "Viele Leute haben heute ein sehr begrenztes Verständnis von Originalität: 'Oh, Daft Punk! Wie originell, 70er-Jahre-Porno-Soundtracks und Chic modern zu recyceln!' Bei mir steckt die Originalität in den Songs selbst... die kompakte Art zu erzählen, wie sie nur innerhalb eines Liedes möglich ist. Das ist etwas, was niemand sonst macht. Die Art des konzentrierten Erzählens, die neuen Situationen, die ich erfasse und die niemand sonst erfasst."

Als Beispiel fällt ihm dazu zuerst die Nummer "Die stählernen Stufen herab" ein, in der eine junge Frau ihre ersten Erfahrungen mit der Pornoindustrie macht und danach stolz bei sich denkt: "All diese Trottel um mich herum haben ja noch nicht mal wen gefunden, der sie ausnutzt." "Das ist eine neue Situation, dass jemand stolz darauf ist, ausgebeutet zu werden, während die Menschen um ihn herum nicht ausgebeutet werden", findet Begemann. Dass er traditionelle Harmonien und das klassische Popsong-Format benutzt, um dieses Schicksal zu vertonen, ist für Begemann nur folgerichtig. "Das ergibt einen tollen Kontrast", ist er überzeugt. "Wenn ich Industrial dazu machen würde, dann würde ich nur die emotionale Wucht mindern. Wenn ich das aber in eine angenehme Pop-Form bringe, dann trifft es einen wirklich hart, wenn die Frau am Ende akzeptiert, was sie jetzt ist, und ihrem weiteren Leben trotzig entgegenstapft. Gott, ich fühle mit den Menschen in diesen Liedern!" Ähnlich bedeutungsvoll ist für ihn das Stück "Sie hat Regeln". "Die erste Zeile in dem Lied lautet: 'Sie hat Regeln, die verhindern sollen, dass so etwas noch mal passiert.' Das ist nur ein Satz, für mich ist es aber alles", erklärt er. "Es ist eine Charakterisierung dieser Frau, es ist eine Geschichte, es ist aber auch ein Szenario, denn der Sänger setzt sich in Beziehung zu ihr und beobachtet sie. Da ist mehr drin als in den meisten modernen Kurzgeschichten, die ich in letzter Zeit gelesen habe."

Wichtig ist Begemann bei seinen Songs nicht zuletzt, direkt in die Emotion hineinzugehen, sich nicht aufzuhalten mit Landschaftbeschreibungen oder Ähnlichem. "Du fängst an mit dem Wichtigsten - das ist Modernität", ist er überzeugt. Dabei gibt er zu, dass es eine Zeit gebraucht hat, bis er die richtige Vision hatte, wie er die Platte angehen sollte. "Ich wollte einige Lieder zueinander in Bezug setzen, ich wollte ein Album, das abwechslungsreich klingt und bei dem sich die Lieder nicht wiederholen", erklärt er. "Es gibt ja viele Singer/Songwriter-Platten, auf denen alle Lieder sehr ähnlich sind. Mal kommt eine Besen-Snare, mal ein Glockenspiel und mal eine Melodika zum Einsatz, aber im Grunde ist es immer dasselbe Scheißlied. Das kannst du über unser neues Album wirklich nicht sagen."

Dafür machte er mit seinen Mitstreitern im Studio dieses Mal einiges anders. Im altehrwürdigen Studio Nord in Bremen nahmen Begemann und die Seinen die Stücke - Gesang bis auf wenige Ausnahmen inklusive - ganz altmodisch live auf Tonband auf und ließen sich dabei von Gästen wie Stefan Stoppok oder Trümmer-Sänger Paul Pötsch unterstützen. Auch Percussionist Stefan Kacirek fügte einer Vielzahl der Stücke eine neue Klangfarbe hinzu. "Er ist ein Musiker, der in seiner Szene wirklich weltbekannt ist und der schon auf allen Kontinenten gespielt hat", freut sich Begemann. "Ihn dabeizuhaben, hat wirklich geholfen." Nach Abschluss der Aufnahmen kamen dann nachträglich nur noch die vielen Hintergrund-Chöre und Vokal-Dopplungen dazu, für die alte und neue Weggefährten verantwortlich zeichnen, darunter Carsten Friedrich von Superpunk / Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, Begemanns alte Duettpartner Dirk Darmstaedter und Regy Clasen, der ehemalige Die Antwort-Bassist Thomas Kosinar und natürlich auch Dorit Jakobs. "Die Musiker in der Befreiung singen alle toll, aber sie haben die gleiche Tonlage: mittlerer bis unterer Bariton", erklärt Begemann die Notwendigkeit des großen Aufgebots an Gästen. "Also dachten wir uns: Holen wir doch ein paar Tenöre dazu - und eigentlich können wir doch auch noch ein paar Frauen einladen. Ein Thema des Albums ist ja eine gewisse Vielstimmigkeit, warum also nicht auch mehr Chöre? Am Ende haben wir es dann vielleicht ein bisschen übertrieben..."

Doch nicht nur musikalisch versuchte Begemann neue Wege zu gehen. Nach vielen Jahren bei Tapete Records arbeitet er nun mit dem ebenfalls in Hamburg ansässigen Label Popup-Records zusammen, das mit einigen pfiffigen Ideen wie einem Video-Adventskalender im Vorfeld der Albumveröffentlichung kurz vor Weihnachten für deutlich mehr Aufmerksamkeit für das neue Begemann-Werk sorgen konnte, als das bei seinen letzten Platten der Fall war. Zustande gekommen ist die Zusammenarbeit laut Begemann durch "Sympathie und Nachbarschaft". Der Labelchef hatte ihm einen Lagerraum vermietet und so hatte er die Chance, in die Firma hineinzuschnuppern. "Ich fand ihre Arbeit auch immer sehr gut", gesteht er. "Das konnte ich wirklich wahrnehmen. Irgendwelche Bands, bei denen ich das Gefühl hatte, sie existieren gar nicht: Kaum hatte Popup damit zu tun, gab es sie plötzlich und die Leute hatten sie auf dem Radar."

Dass sich Begemann nun zum vielleicht allerersten Mal in seiner Karriere stärker mit der Vermarktung eines seiner Alben auseinandersetzt, hat natürlich Gründe. Schon seit Längerem geht es ihm gegen den Strich, dass Musik mehr und mehr an Wertigkeit verliert. "Mich stört, dass Musik heute immer mehr eine Lifestyle-App ist", sagt er. "Nach meinem Konzert in Bremen gab es eine Electro-Swing-Veranstaltung und ich dachte mir: Wie beschissen kann Musik noch werden? Das ist Musik, auf die du dich absolut nicht konzentrieren musst, bei der du wirklich nicht hinhören musst! Bravo, Electro-Swing-Produzenten! Ihr habt noch nicht einmal mehr die coolen Sound-Effekte der House-Produzenten, nur noch Wubbeldiwupp-Rhythmus!"

Deshalb ist es ihm wichtig, mit "Eine kurze Liste mit Forderungen" auch eine Lanze für den klassischen (Pop-)Song zu brechen. "Für mich ist das Lied die höchste Kunstform, weil sie direkt aus der menschlichen Seele entspringt. Es ist die Kunstform, die am stärksten mit unserem Inneren verbunden ist. Diese Verbindung von Stimme und Musik, das Lied, das gab es vermutlich schon vor der Odyssee. Wer immer das schlechtmacht oder geringschätzt, ist ein dummes Arschloch und gehört bekämpft!", sagt er bestimmt und muss lachen. Doch es gibt natürlich auch Gegenbeispiele, Musiker aus seinem Umfeld, die er sehr schätzt. "Ganz selten gibt es Künstler, die mich unterhalten können", gibt er zu. "Olli Schulz zum Beispiel, der kann mich unterhalten. Mit ihm trete ich immer sehr gerne auf, denn er hat eine wahnsinnige Energie auf der Bühne. Superpunk / Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen - es ist einfach so erfreulich, was die machen. Trümmer, Die Nerven - jederzeit! Ich liebe Bands, die sich was trauen und auf die Kacke hauen."

Bernd Begemann und Die Befreiung
Dennoch: Bei unserem Gespräch scheint häufig Begemanns Verbitterung durch, über Verrisse mit fadenscheinigen bis schlichtweg unsinnigen Argumenten, aber auch darüber, dass Musiker, die weit weniger talentiert sind, immer wieder in kommerzielle Sphären vordringen, die ihm stets verwehrt geblieben sind. "Ich bin verbittert, weil die Leute so dumm sind und denken: Och, der sieht ja aus wie ein Edeka-Filialleiter. Das ist eine Masche! Es gibt so etwas wie eine Bühnen-Persona, ihr Deppen", echauffiert er sich. "Man muss keine schäbigen, selbstgestrickten Pullis tragen, um ehrlich zu sein. Obwohl Mark Forster aussieht wie ein Hipster, ist er trotzdem ein Schlagersänger, und ihr solltet das erkennen! Wie kann man nur so ignorant sein? Ich bin ein moppeliger 53-Jähriger und ich möchte nicht in Sportkleidung oder in Holzfällerhemden rumlaufen, denn das sähe total bescheuert aus! In meinem Alter muss man einfach Anzüge tragen, sonst sieht man einfach scheiße aus auf der Bühne!"

Doch auch wenn es mal Gegenwind gibt - aufgeben ist für Begemann in all den Jahren nie infrage gekommen. Zu früh war ihm bewusst, dass das Singen und Musikmachen eine Lebensaufgabe für ihn sein würde. "Schon mit sieben Jahren war mir klar, das Singen das Schönste ist", erinnert er sich. "Singen ist das Leben selbst. Zu singen fühlt sich an wie leben, und nicht zu singen fühlt sich an wie nicht leben. Das klingt total Paolo Coelho-mäßig, aber für mich war das immer so." Sein Glück zieht er deshalb unverändert aus der einfachen Tatsache, dass er auch nach mehr als drei Jahrzehnten immer noch das machen darf, was er am meisten mag. "Ich bin froh, wenn ich meine Kunst praktizieren darf. Das ist das größte Privileg", bestätigt er. "Das klingt abgedroschen, aber ich kann es nicht anders sagen. Wenn mich das nicht glücklich machen würde, hätte ich schon längst einen anderen Beruf ergriffen, so oft wie mir schon das Konto gesperrt wurde." Bleibt am Ende nur noch die Frage, was sonst aus Bernd Begemann geworden wäre. "Ich glaube nicht, dass mich jemand eingestellt hätte", überlegt er laut. "Ich wäre wohl ein glücklicher Sozialfall!"

Weitere Infos:
www.bernd-begemann.de
www.facebook.com/BerndBegemann
Interview: -Simon Mahler-
Fotos: -Andreas Hornoff-
Bernd Begemann und Die Befreiung
Aktueller Tonträger:
Eine kurze Liste mit Forderungen
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