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THEA GILMORE
 
Lawine der Hoffnung
Thea Gilmore
Thea Gilmore ist - was den Erdrutschfaktor angeht - in ihrer Heimat Großbritannien tatsächlich eingeschlagen wie eine Lawine. Und das mit einer Musik, bei der kaum jemand auf die Idee käme, diese mit dem üblich britischen Ex- und Hopp-Hipnessfaktor zu assoziieren. Theas musikalische Wurzeln sind ganz klar westlich des Atlantiks zu suchen. Nicht umsonst wurde sie vom Uncut Magazin gebeten, eine Bob Dylan Cover-Version einzuspielen. Und nicht umsonst suchte sie sich keinen Klassiker aus, sondern "I Dream I Saw St. Augustin". Und nicht umsonst entwickelte sich aus der Session für diesen Song ganz spontan die komplette CD "Songs From The Gutter", die von vielen - darunter von Thea selbst und Gaesteliste.de - als die beste ihrer bisherigen Karriere angesehen wurde.
Thea Gilmore schreibt ihre Songs mit einer Selbstverständlichkeit, die fast schon beängstigend erscheint. Am besten kann man das festmachen, wenn man eine The Gilmore CD zum ersten Mal hört: Denn auf unheimliche Art klingen die Songs alle bereits beim ersten Mal vertraut. Nicht, weil alles irgendwo zusammengeklaubt wurde (wie leider so oft im Lager der traditionell orientierten Songwriter), sondern weil Thea es versteht, einen eigenen Stil zu kultivieren - der z.B. darin besteht, dass sie ihren britischen Akzent keineswegs verleugnet, sondern als Stilmittel nutzt - und das auf eine Art, die an Souveränität ihresgleichen sucht. In dem Sinne kann man das, was Thea bislang (zumindest in England widerfahren ist) schon mit einer Lawine assoziieren. Ist das aber der Grund, warum sie ihr aktuelles Album so nannte? "Nein - obwohl die gerade abgelaufene Tour schon phantastisch für mich war", verrät Thea, "wo wir auch hinkamen, hatten wir ausverkaufte Häuser. Aber 'Avalanche' habe ich die Scheibe genannt, weil ich dachte, dass dies der Begriff war, der am besten auf die Songs auf dieser CD zutraf und sie thematisch zusammen hielt. Es komisch, weil es ja einen Song namens 'Avalanche' auf der Scheibe gibt und ich normalerweise kein Fan von der Idee bin, eine CD nach einem Song zu nennen. Aber auf der Scheibe geht es thematisch sehr stark um Kontrolle - politische Kontrolle, wirtschaftliche Kontrolle. Es geht darum, dass die Leute nicht mehr richtig zu hören und nicht mehr besonders auf das achten, was um sie herum passiert. Wenn du nun eine Lawine nimmst: Da muss es am Ende ja eine Art Höhepunkt geben - und das ist das, worauf ich hoffe." Einmal abgesehen davon, dass uns Billy Bragg vor kurzem etwas Ähnliches erzählte, ist das ein doch sehr blumiges Bild für die gegenwärtige soziale Situation. Und dabei käme wahrscheinlich kaum jemand auf die Idee, Thea zunächst mal als Protestsängerin zu sehen. "Das ist eher eine allgemeine Sache. Wir wuchsen ja mit dem Verständnis auf, dass das, was wir im Fernsehen sehen, stimmt", erläutert Thea ihre Position, "das Fernsehen ist ein ziemlich gutes Instrument, um die Leute in diesem Glauben zu lassen. Du sorgst dafür, dass sie keine Fragen mehr stellen und stopfst ihnen Big Brother oder Pop Idols [bei uns DSDS] rein. Dann fragt keiner mehr, was in der Welt wirklich passiert. Das ist meine Idee einer Kontroll-Lawine." Nun gut, und wie geht es weiter? "Ich sehe meine Funktion eher darin, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben", erklärt Thea, "ich hoffe aber, dass ich dadurch Leute zum Denken anrege. Wenn du so willst ist das ein philosophischer Ansatz. Ich meine: Ich habe persönlich natürlich schon Antworten. Diese gelten aber nur für mich selbst. Ich würde aber nie davon träumen, jemandem anderen zu sagen, was er zu denken hat. Ich bin eher so eine Art Katalysator. Ich möchte, dass die Leute selbst nachhaken und Fragen stellen. Ich denke auch, dass die Leute dafür sehr empfänglich bin. Das merke ich z.B. bei meinen Konzerten, auf denen ich diesbezüglich angesprochen werde."
Warum setzt Thea ihre Texte dann in eine Art Code - mit vielen Metaphern und Bildern -, der dazu führt, dass man die Texte zunächst mal für sich selbst interpretieren muss und dabei nie sicher sein kann, genau zu wissen, um was es geht? "Genau darum geht es doch", erläutert Thea, "meine Texte sind dazu da, interpretiert zu werden. Sie bedeuten verschiedene Dinge für verschiedene Leute. Musik ist so persönlich, dass man sich ihr aus verschiedenen Sichtweisen nähern sollte. Und das ist es, was ich versuche: Die Leute als Individuen zum Denken anzuregen. Dafür brauchst du die Sachen nicht zu erklären. Da gibt es auch Leute, die so etwa viel besser können als ich. Billy Bragg ist ein gutes Beispiel für jemanden, der so etwas extrem gut kann. So gut bin ich nicht. Ich gebe bloß eine vage Richtung vor und hoffe, dass es funktioniert. Ich vertraue dabei auf die Intelligenz des Hörers." Wichtig scheint es dabei zu sein, die Dinge persönlich, spezifisch zu halten, nicht wahr? "Ja und nein", meint Thea, "wenn ich z.B. einen Song über eine Person namens 'Juliet' singe, dann ist dieser über eine reale Person, die ich aus dramatischen Gründen so genannt habe. Ich meine 'Juliet' bei Shakespeare ist eine tragische Person. Dieser Song begann als Song über jemanden, der mich ein wenig nervte und erweiterte sich dann zu einem Porträt meiner Generation und dem Nihilismus und der Arroganz, der damit verbunden wird. So gesehen hast du natürlich recht: Indem ich der Person einen Namen gebe, mache ich sie insofern spezifisch und man kann sich besser damit identifizieren." Die Texte, so scheint es, haben also eine wichtige Funktion. Es scheint ja fast so, dass die Texte fast wie in einem Scrabble-Spiel zusammengesetzt werden, um zur Musik zu gelangen? Thea lacht. "Ja, das ist genau richtig. Ich mag es, wenn die Texte quasi aus mir heraussprudeln. Ich mag es nicht, Worte zu biegen und zu erzwingen. Ich mag die Idee, dass da etwas in mir ist, was raus möchte. Es ist also eine Art 'Stream Of Consciousness'. Die Texte sind z.B. ziemlich kompliziert, während meine Musik recht simpel ist. Die Bilder, die ich verwende sind sehr intensiv und die Musik im Vergleich dazu fast simplifizierend. Das ergibt einen netten Kontrast, wie ich finde." Wie kann man denn so arbeiten? Das bedeutet ja, dass man immer auf die Inspiration warten muss? "Das ist unterschiedlich. Es kommt selten vor, dass Musik und Texte zusammen passieren. Es ist ein wenig Inspiration und eine Menge Hoffnung. Ich warte also auf die Textidee - die kommt meistens zuerst - und schreibe sie dann auf. Ich habe ein Buch voller Ideen. Schließlich setze ich mich hin und sortiere erst mal." Das heißt: Wenn es drauf ankommt, kann es dann zur Sache gehen? "Ja, ein gutes Beispiel ist 'Songs From The Gutter'", erinnert sich Thea, "diese Scheibe ist fast so was wie ein Abfallprodukt der Bob Dylan Cover-Version, die ich für das Uncut-Magazin einspielte. Ich war im Studio und nutzte die Zeit. Gleichzeitig mit meiner neuen Band für eine anstehende Show in London zu üben. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich also, Songs im Studio zu schreiben. Was ich normalerweise nicht tue, da man hier immer zeitlich limitiert ist. Das ganze Album entstand in zwei Tagen. Ich schickte die Musiker in den Pub, und wenn sie zurückkamen, hatte ich einen Song fertig, den wir gleich einspielten. Die Energie, die bei dieser Arbeitsweise entstand, fand ich ziemlich aufregend. Wir nahmen die Songs also quasi als Demos auf. Ein paar Monate später, als ich mir die Songs anhörte, merkte ich aber, dass sie in dieser Form veröffentlichen sollten. Dies ist vielleicht sogar meine Lieblingsscheibe. 'Avalanche' natürlich auch. Aber 'Avalanche' ist ein sehr viel durchdachteres Album und was den Leuten bei 'Gutter' vielleicht gefällt, ist diese Rauheit, dieses Ungewisse, wo die Sache hingeht - weil wir ja gar nicht wussten, was wir zum Zeitpunkt der Aufnahmen taten. Ich denke, dass die Musik heutzutage einen Großteil dieser ursprünglichen Energie verloren hat. Zu versuchen, diese Energie mit einem wenig Risiko wieder einzufangen, ist auf jeden Fall spannend. Es war ziemlich experimentell." In wie weit war 'Avalanche' denn anders? "Nun, die Art wie wir 'Gutter' aufgenommen haben, war ziemlich eindeutig. 'Avalanche' war soundmäßig das direkte Gegenteil. Ich denke, wenn du dir meine Alben anhörst, kannst du eine Art Wachstumsprozess erkennen. Ich finde, die Songs und der Sound auf 'Avalanche' sind anspruchsvoller als etwa die auf 'Rules For Jokers'. Wir haben z.B. mehr Keyboards eingesetzt. Bislang hatte ich immer ein wenig Angst davor, weil ich als Kind der 80er da gewisse Vorbehalte hatte. Aber die Songs verlangten nach einer irgendwie reichhaltigeren Verpackung - und die Keyboards, Soundloops und Geräusche entstanden aus dieser Notwendigkeit heraus." War der Gedanke dabei vielleicht, mehr so etwas wie eine Pop-Scheibe zu machen? "Ich hatte kein Ziel", verwirft Thea diesen Gedanken, "ich habe nie ein Ziel. Das ist einfach so passiert. Als wir die Songs aneinandergereiht haben, merkten wir, dass die Songs so klingen müssten, wie sie es jetzt tun. Es brauchte dann noch eine ganze Menge Gehirnschmalz von unserer Seite, um dies zu erreichen."
Auf der Scheibe spielt z.B. Robbie McIntosh (Pretenders) mit, der ja so was wie ein musikalisches Chamäleon ist. Wie bindet man denn Leute wie ihn ein? "Ganz einfach: Indem du sie in den Prozess integrierst", erläutert Thea, "Robbie hat z.B. ein phantastisches Gehör und hat erstaunliche Ideen. Du sorgst also einfach dafür, dass jeder, der auf einem Album mitspielt, ein Teil des Ganzen ist - im Gegensatz z.B. zu einem bloßen Anhängsel." Eine Kleinigkeit fällt besonders ins Ohr: Auf einigen der Tracks singt Thea mit einer verzerrten Stimme, was eine ganz besondere Stimmung schafft. "Und das war ja auch der Gedanke", räumt sie ein, "es sollte eine Art Distanz schaffen. Es soll auch ein wenig antik klingen. Die Distanz war mir z.B. bei 'Avalanche' sehr wichtig. Die Stimme klingt, als entspringe sie im Kopf des Zuhörers und das spiegelt den Text des Songs wider." Inwieweit passt denn das Artwork der CD zu den Songs? Im Booklet finden sich rätselhafte Makro-Aufnahmen von Kleiderhaken und Weihnachtssternen und auf der Rückseite ist eine Aufnahme von Thea, bei der sie im weißen Nichts verschwindet. "Nun die Bilder im Booklet sind Fotos von mir, die ich einfach mochte", weicht Thea aus, "ich bin sicher, dass sie unbewusst auch mit den Songs zu tun haben. Ich mochte einfach ihre sinnliche Qualität - wenn du so tief gehen willst. Was das Foto auf der Rückseite betrifft: Eine sehr gute Frage, warum ich da ausgeblendet werde. Ich habe aber keine Antwort darauf." Nun ja: Ein wenig Mystizismus hat ja schließlich noch niemandem geschadet. Hoffentlich geht das bloß nicht so weit, dass Thea auf unseren Bühnen auch weiterhin eine mystischen Gestalt bleibt. Bislang ist sie jedenfalls ausschließlich in England getourt. Hoffentlich reicht die Lawine auch mal bis in unsere Gefilde...
Weitere Infos:
www.theagilmore.com
Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Pressefreigabe-
Thea Gilmore
Aktueller Tonträger:
Avalanche
(Hungry Dog Records)

 
 

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