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STEVE WYNN
 
Vor der Explosion ist nach der Explosion
Steve Wynn
Howe Gelb sagte uns mal, dass immer dann, wenn die Demokraten an der Regierung seien, auch eine gute Zeit für zornige Rockmusik sei. Und so wundert es denn nicht, dass auch Steve Wynn - seines Zeichens ja noch nie dem Rock abhold - nun mit "...tick...tick...tick" auch wieder eine düstere, sperrige Rockscheibe vorlegt. Auch wenn das Songwriting hier mehr noch im Vordergrund steht als bei seinen vielgelobten letzten beiden Werken. Dennoch gibt es nichts rumzudeuten: Das für seine Band, The Miracle 3, geschriebene Werk hat musikalischen die Hosen an. Steve hat aber noch diverse andere Gründe dafür, warum die Scheibe so energisch geraten ist. "Für mich gibt es zwei Gründe", verrät er, "zum einen den, zu beweisen, dass man auch in meinem Alter noch gute Rockscheiben machen kann und zum anderen ist das die Musik, wo ich herkomme, mit der ich aufgewachsen bin. Der große Knall von 1977 war für mich die Erleuchtung mit der alles begann und zu dieser Art von Energie wollte ich in Zeiten wie diesen wieder zurück."
Was hat Steve denn seit seiner letzten Tour so gemacht? "Das ist fast schon zwei Jahre her, nicht?", fragt er, "nun, ich habe neue Songs geschrieben, ich habe letzten Sommer eine neue Scheibe mit Paco Loco, dem Typen von Australien Blonde in Spanien aufgenommen. Es war also kein inaktives Jahr für mich." War denn eine Auszeit in diesem Sinne notwendig, um zu einer Scheibe wie "...tick...tick...tick" gelangen zu können? "Nein, ich brauche keine Pausen, um mich zu regenerieren", widerspricht Steve, "ich könnte drei Scheiben im Jahr aufnehmen und glücklich dabei sein. Je mehr ich schreibe, desto mehr schreibe ich - wie ich immer sage. Wenn ich mehr brauche, dann schreibe ich eben mehr. Ich brauche allerdings einen Anlass - wie eine Scheibe, eine Kollaboration oder einen Film. Ich habe z.B. die Titelmelodie für den Kinofilm 'Fever Pitch' mit Drew Barrymore geschrieben. Diesen Job habe ich übrigens durch Robert Fisher bekommen, der ja sein 'Soft Hand' in dem Farinelli Brothers Film 'Stuck On You' plazieren konnte und so Kontakte im Business hatte. Es gab allerdings einen Grund, eine Auszeit zu nehmen: Vom Touren nämlich. Wir hatten in letzter Zeit so viel gespielt und man kann nicht dauernd live spielen. Auch weil man gelegentlich ja neue Songs braucht."
"...tick...tick...tick" klingt lebhafter und organischer als eigentlich alles, was Steve vorher gemacht hat. Und das sogar auf Kosten des Klanges. Was aber eh kein Punkt ist, der Steve, der ja immer sagt, dass "Perfektion nicht gut genug" sei, am Herzen liegt. "Genau", pflichtet er bei, "das was die Band, The Miracle 3, mit der ich nun beständiger zusammen spiele als z,B. mit Dream Syndicate und für die ich die neuen Songs speziell geschrieben habe, auszeichnet, ist ja nicht, dass sie besonders hart oder laut spielen, sondern locker. Und diese Lockerheit wollte ich einfangen und zeigen. Es sollte richtig elastisch und offen klingen. 'No Tomorrow' z.B., mein Lieblingssong auf der Scheibe, ist improvisiert. Es gab keinen Plan außer einem Anfang und einem Ende. Ich habe die anderen dann machen lassen, was sie wollten. Ich gebe meinen Musikern ja immer gewisse Freiheiten. Deswegen spielen sie auch gerne mit mir zusammen und deswegen sind wir ein guter Live-Act. Es macht auch für mich mehr Spaß." Und so haben The Miracle 3 dann auch einen großen Anteil am Gelingen der neuen Scheibe. Nie klang eine Wynn-Scheibe organischer, lebhafter und direkter. Fast scheint es, als triebe Steve seine Musiker hier zu waghalsigen Höchstleistungen an. "Das ist auch so", bestätigt er, "das soll nicht sagen, dass die Scheibe nicht gut gespielt sei, aber du kannst Leute auch nur dann zu dem Punkt drängen, an dem etwas auseinanderfallen könnte (und es dann doch nicht tut), wenn diese auch gut miteinander spielen können. Mit einer Studioband ginge das nicht." Etwa so wie ein Maler, der zunächst einmal naturalistisch malen können muss, bevor er sich an die Abstraktion begeben kann? "In etwa so, ja!", bestätigt Steve, "ich weiß, dass diese Leute sehr wild und hart spielen können - und dann werden sie erst richtig gut." Das heißt also, die Band "tickt" hier, wie im Titel assoziiert? "Ja", bestätigt Steve, "es gibt aber noch eine Bedeutung. Du kennst das Klicken eines Gasherdes bevor die Flamme entzündet wird? Jasons Erfahrung von Tucson, wo wir die Scheibe aufgenommen haben, ist die einer Stadt, die ständig in diesem Sinne tickt - ohne dass die Flamme anspringt. Das gilt ja eigentlich für die ganze Zeit, in der wir leben." Und das spiegelt sich dann wahrscheinlich auch in den Texten wider? "Genau", bestätigt Steve, "in 'No Tomorrow' geht es zum Beispiel darum: Wie verhalten sich die Leute, wenn es kein morgen mehr gibt? Es gibt Chaos, nicht? Und genau an diesem Punkt befinden wir uns heutzutage. Es gibt keine Garantie mehr für deine Zukunft. Gehst du moralisch bankrott? Wirst du verrückt? Machst du dir was vor? Wirst du zum Hedonisten?"

"No Tomorrow" ist das Kernstück der Scheibe. Es befindet sich am Ende und besteht aus zwei vollkommen unterschiedlichen Teilen, die unmittelbar aufeinander folgen. "Ja, es sind zwei unterschiedliche Teile derselben Geschichte", verrät Steve, "es ist meine Rock-Oper. Ich mag lange Stücke, ich mag Improvisation. Ich mag die Allman Brothers und Grateful Dead und wollte etwas von diesem Gefühl einfangen. Ich mag Musik, mit der du eine Reise unternimmst - und es ist ein sehr emotionaler Song. Ein sehr typischer New Yorker 9/11 Song. Im ersten Teil geht es einfach darum auszudrücken, dass die Person in der Geschichte ihren Glauben an alles verloren hat. Im zweiten Teil sagt jemand zu dieser Person, dass es keinen Sinn macht, sich Sorgen zu machen - weil man ja doch nicht weiß, was kommt. Und diesen Break habe ich gewählt, weil ich mochte, wie harsch sich das anfühlt. Es soll auch als Einschnitt verstanden sein." Der erste Song, "Wired", passt als Klammer zu diesem Ende der Scheibe. "Ja, für mich ist das mein 'Punk-Song'", erklärt Steve, "er erinnert mich an die Art von Punk, die ich aus meiner Jugend kenne - die nichts mit dem Punk zu tun hat, den wir heute zu hören bekommen. Inhaltlich ist das einfach ein Statement: Es geht darum, nicht klar denken zu können, nicht schlafen zu können, nervös zu sein, sich ausgepumpt zu fühlen. Auch das beschreibt die Scheibe." Wer singt denn heutzutage eigentlich diese Songs? Steve Wynn selber oder einer seiner Charaktere, die er ja nach eigener Aussage gar nicht so gut kennt, sondern nur mal ab und an trifft? "Das kann ich heutzutage kaum noch unterscheiden", muss er lachend einräumen, "ich muss aber doch sagen, dass diese Scheibe eine persönlichere Scheibe ist, als viele, die ich vorher gemacht habe. Man kann nicht alles wörtlich nehmen. Zum Beispiel stammt der Text zu 'Cindy, It Was Always You' gar nicht von mir, sondern von meinem Freund, dem Krimi-Autor George Pelecanos, den ich überredete, mir doch mal einen Text zu schreiben - aber ich fühle mich diesem Text genauso nahe wie meinem." Wie kam es denn zu dieser Kollaboration? "George ist ein in den USA ziemlich erfolgreicher Krimi-Autor, dessen Charaktere in seinen Büchern meine Fans sind. Er hatte noch nie einen Song geschrieben, aber ich hatte die Idee, dass ich das gerne mal ausprobieren wollte - so wie Warren Zevon das mal mit Hunter S. Thompson gemacht hat. Also bat ich ihn, mal einen Song zusammen zu schreiben. Er hat mir dann einen Text geschrieben und ich habe Musik dazu geschrieben. Ich mag diesen Song, weil er düsterer und mehr 'over the top' ist, als das, was ich selber ansonsten machen würde." Und dann gibt es noch den Song "The Deep End", der so etwas wie der ruhende Pol der Scheibe darstellt. "Für mich fühlt sich das jedenfalls so an", bestätigt Steve, "dieser Song ist in Spanien entstanden. Es mag sich ein wenig komisch anhören, aber ich hatte mir als Ausgangs-Motiv die letzte Nacht von Natalie Wood vorgestellt. Sie liebte ja das Meer über alles, konnte aber nicht schwimmen. Diese Vorstellung hat mir gefallen. Das ist so etwas wie eine Charakterstudie für mich. Es geht um das Ertrinken als Metapher für das 'sich gehen lassen'. Der ganze Song bewegt sich wie die Wellen des Meeres. Linda hat mir hierbei übrigens geholfen. Sie hat tolle Song-Ideen und Instinkte. Sie sollte eigentlich eine gute Songwriterin sein und mehr Songs schreiben. Deswegen ermutige ich sie immer wieder, etwas zu machen. Sie hat diese Musik zum Beispiel auf dem Piano geschrieben." Wann kommt denn mal Lindas Solo-Scheibe? "Nun, es liegt bestimmt nicht daran, dass ich sie nicht genügend ermutige", meint Steve, "sie kennt ja so viele Musiker, dass sie die tollste All-Star-Cast haben könnte, die man sich vorstellen kann. Sag ihr das doch selber mal." Und was ist mit den Beiträgen von Dave DeCastro? Sein Basspiel war schlicht noch nie so wichtig, wie auf dieser Scheibe. "Das stimmt", sagt Steve, "einige Songs basieren sogar auf seinen Basslinien. Aber ich habe Dave nicht gesagt, was er machen soll. Man kann Dave nicht sagen, was er machen soll. Dave ist ein sehr instinktiver Musiker. Es ist nicht so, dass er störrisch ist, aber er spielt aus seinem Herzen ohne darüber nachzudenken. Je mehr du versuchst, ihn anzuleiten, desto weniger bekommst du. Ich bin ja selber so. Das ist es, was ich an Dave mag. Jason und Linda sind da schon etwas sortierter - und das funktioniert ja auch bei ihnen besser."

Steve Wynn
Als Fazit dürfte man also festhalten, dass diese Scheibe eine ziemlich nihilistische Angelegenheit geworden ist, nicht? "Ja, aber Nihilismus macht einfach mehr Spaß", lacht Steve, "diese Scheibe hat ein bemerkenswertes Maß des Fehlens jeglicher Spiritualität. Es gibt keinen moralischen Kern auf dieser Scheibe. Es ist bewusst sogar das komplette Gegenteil. Es ist zwar nicht dunkel und böse, es gibt aber keinen moralischen Anker. Was bleibt ist die Frage, was als nächstes passiert." Wenn Steve Wynn die Scheibe in einem Wort beschreiben müsste, welches würde er wählen? "Ich bräuchte zwei Worte", meint er nach einer längeren Denkpause, "'No Tomorrow'. So wollte ich die Scheibe auch ursprünglich nennen, aber das hätte in meinem Augen dann doch zu negativ geklungen - so wie Johnny Rottens 'No Future'." Letzte Frage: Was will uns denn das Artwork, das eine Chili-Schote zeigt, sagen? "Das stammt von Jürgen Peschel, der auch das Artwork für meine letzten Scheiben gemacht hat", erläutert Steve, "ich brauchte das Artwork, hatte aber noch keine Musik. Da hat mir Jürgen einfach ein paar Vorschläge gemacht. Die Idee mit der Schote gefiel mir sehr gut, weil sie düster, witzig und ein wenig gefährlich ist und weil es in gewisser Weise als Insider-Witz auf die Bananen-Scheibe von Velvet Underground verweist. Und die Scheibe befindet sich irgendwo zwischen New York und Tucson. Die Songs entstanden in New York und wurden im Tucson aufgenommen. Die Schwärze steht also für New York und die Chili-Schote für Tucson..."
Weitere Infos:
www.stevewynn.net
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Steve Wynn
Aktueller Tonträger:
...tick...tick...tick
(Blue Rose Records/Soulfood)
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