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CHRIS BROKAW
 
Scheiß auf den Blues!
Chris Brokaw
Wenn Chris Brokaw sagt, dass er keine Zeit habe, dann meint er das auch. Als meistbeschäftigter Mann der westlichen Musikwelt kann der Mann von Freizeit oder Arbeitslosigkeit nur träumen. Seien es seine alten und neuen Bands, seine Solo-Projekte oder seine Slots als Session-Musiker (zum Beispiel für die Steve Wynn Band oder zuletzt für Evan Dando): Chris Brokaw hat immer etwas zu tun. Dabei kann es dann schon mal vorkommen, dass er nicht dazu kommt, Tonträger aufzunehmen. Auch wenn es Chris an Songmaterial nicht mangelt - es ist ihm nämlich möglich, auch im größten Trubel abzuschalten und zum Beispiel auf Tour Songs zu schreiben - sein erstes Solo-Album, das letzten Sommer veröffentlichte "Red Cities", brauchte doch eine ganze Zeit, bevor es den Weg in die Öffentlichkeit fand.
Umso erstaunlicher, dass nunmehr plötzlich eine weitere Scheibe auf dem Return To Sender-Label vorliegt. Chris trug sich ja schon lange mit dem Gedanken, eine Scheibe mit Gesang aufzunehmen ("Red Cities" war instrumental) und so nutzte er die Möglichkeit, dies mit dem akustischen Ansatz zu verbinden, den er sich - den Umständen entsprechend - für seine Support Slots auf zahlreichen Touren angewöhnt hatte. Das Ergebnis kann sich dabei durchaus hören lassen und geht auch ein wenig über das Prinzip der "Resteverwertung" des Mail-Order-Labels RTS hinaus, da es viele neue eigene oder gecoverte Songs gibt und die alten komplett umarrangiert wurden. Angesichts der Tatsache, dass dies eine bloße Fingerübung für den äußerst vielseitigen Instrumentalisten Brokaw und das Debüt des Sängers Brokaw ist, ist dies eine erstaunlich reife, durchdachte und überzeugende Scheibe geworden. Eines mal vorweg: Brokaw hat's nicht besonders mit dem Blues, sondern steht eher auf Rock. Ein schönes Beispiel hierfür: Auf der letzten Steve Wynn-Tour, bei der Brokaw als Lead-Gitarrist dabei war, ging ein Verstärker in die Knie. Es wurde ein befreundeter Musiker, der den Support machte, losgeschickt, den seinen von zu Hause zu holen. Dieser kam und kam nicht zurück, während die Zeit unerbittlich voranschritt. Schließlich trudelte er ganz außer Atem ein und machte - um die Situation zu entspannen einen Witz: "Tschuldigung, ich musste noch mal umkehren, weil ich meinen Blues zu Hause vergessen hatte", meinte er. "Scheiß auf den Blues", prustete daraufhin Chris laut lachend los, "wer braucht denn so was?" Und in der Tat, wenn man sich Brokaws Songs anhört, entdeckt man alle möglichen Einflüsse - vom traditionellen Rock-Schema über Folk-Anleihen und New Wave Harmonien bis hin zu Post Rock Strukturen alles möglich - bloß keinen Blues. (Was vermuten lässt, dass bei Come eher Thalia Zedek dafür verantwortlich war). Für viele andere bedeutete das das Todesurteil (Blues = Feeling) - nicht so bei Chris. Er macht daraus gar eine Tugend, indem er mit seinen strukturell und harmonisch vertrackt und komplex aufgebauten Songs nach Welten sucht (und diese findet), die so noch kein Mensch zuvor betreten hat. Natürlich kommt dies im rein akustischen Umfeld eher unspektakulär daher (was natürlich die Erwartungen auf sein nächstes "richtiges" Projekt erhöht), aber vielleicht liegt gerade darin die Stärke des Albums. Noch etwas fällt auf: Die Slide-Gitarre ist eigentlich Brokaws Markenzeichen als Gitarrist (deswegen zum Beispiel arbeitet Thalia Zedek am liebsten mit ihm zusammen) und dennoch fehlt dieses Element auf dieser Scheibe völlig. Schon alleine deswegen klingt "Wandering" völlig anders, als man sich eine Chris Brokaw Scheibe vorgestellt hätte. Für all diejenigen, die sich aufgrund einer Chris-Brokaw-Solo-Show diese CD kaufen, ist es jedoch genau die richtige Packung. Mit "Wandering As Water" gibt Chris Brokaw völlig überraschend sein Debut als "normaler" Singer-/Songwriter - und es fühlt sich verdammt gut an!

Text: -Ullrich Mauer-

Am Rande seines Konzertes im Franfurter Mousonturm traf Gaesteliste.de Chris Brokaw zum musikalischen Blind Date.

* Mission Of Burma "That's When I Reach For My Revolver" ("Signals, Calls & Marches", Rykodisc, 2002)

Legendäre Eastcoast-Punkband, die unlängst nach 15 Jahren Pause wieder zusammenfand. Dieser Song ist den meisten vermutlich in Mobys 1996er Version bekannt.

Chris (nach zwei Takten): "Burma! 'That's When I Reach For My Revolver'! Der Song, den ihr Sänger Clint Conley am meisten von allen hasst. Aber weil es ihr berühmtester ist, müssen sie ihn trotzdem bei ihren Reunion-Shows spielen!"

GL: Du weißt natürlich auch, warum der Song hier auftaucht?

Chris: "Weil ich mit Clint Conley zusammen bei Consonant spiele! Das Interessante daran ist, dass ich nie ein großer Burma-Fan war. Wie viele war ich der Meinung, dass die Band fünf oder sechs großartige Songs hatte, die alle von Clint Conley stammten. Alles andere war nur 'okay'. Meine Meinung änderte sich erst, als ich eine ihrer Reunion-Shows sah. Ein Reviewer in einer lokalen Zeitung hat diese Erfahrung perfekt zusammengefasst. Er schrieb: 'Sie die Songs live spielen zu sehen, die man zuvor nur von Platte kannte, war so, als würde man plötzlich etwas in Farbe sehen, was man zuvor nur in Schwarz-Weiß kannte.' Alle Songs waren live viel besser! Seitdem bin ich ein Fan."

* Tom Liwa "Kamera" ("Stäfa CH", Return To Sender, 2001)

Liwa wird auf Brokaws Return-To-Sender-Album gedankt, weil er es war, der den Kontakt zu RTS/Normal Records herstellte...

Chris: "???"

GL: Kleine, große Hilfe: Der Sänger wird auf deinem Return-To-Sender-Album erwähnt...

Chris: "Oh... Tom Liwa! Wie peinlich für mich! Ja, ich habe ihn letztes Jahr in Dresden kennen gelernt, als wir beide als Support für Low gespielt haben!"

GL: Du dankst aber auf dem Cover nicht nur ihm, sondern auch einem Freund namens Mitchell Rasor für deine Gitarre...

Chris: "Er ist jemand, mit dem ich früher mal zusammen gespielt habe und der jetzt ein sehr erfolgreicher Landschaftsarchitekt ist. Letztes Jahr habe ich ihn in Maine besucht. Er hat in seinem Haus über zwanzig Gitarren. Ich selbst hatte nie eine Akustikgitarre. Ich habe zwar ein paar klassische, aber Gitarren mit Stahlsaiten mochte ich noch nie. Er ließ mich eine Gitarre aussuchen und meinte: 'Sie ist unverkäuflich, aber du kannst sie so lange haben, wie du möchtest.' Für ein paar Monate habe ich die Gitarre kaum angefasst, aber als ich dann einmal anfing, konnte ich gar nicht wieder aufhören. Dieses Gefühl, dass du morgens aufstehst und als erstes denkst: 'Wann kann ich wieder Gitarre spielen?' hatte ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr. So kam die Return-To-Sender-Platte zustande."

GL: Das Tracklisting des Albums ist ganz ausgezeichnet. Hat dich die Auswahl der Songs - umarrangierte Solostücke, unveröffentlichte Songs, Coverversionen, Stücke von Come - viel Mühe gekostet?

Chris: "Die Platte enthält das, was ich zu der Zeit live gespielt habe. Einige der Stücke habe ich live sehr selten gespielt, ganz einfach, weil sie zu langsam oder zu ruhig waren und es ja bei Konzerten manchmal schwierig ist, die Leute dazu zu bewegen, dass sie den Mund halten und zuhören, aber trotzdem klangen die Aufnahmen der Songs sehr gut. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, dass die Platte zu lang ist. Es gab allerdings auch nichts, das ich hätte weglassen wollen. 'Ba Di Da' von Fred Neil ist zum Beispiel einfach toll zu spielen. Das ist ein Song, den ich von Evan Dando gelernt habe, denn er hat ihn bei einigen der Band-Shows gespielt. Was die Jorma-Kaukonen-Coverversion angeht: Seine Sachen fand ich wirklich gut, als ich auf die Highschool ging, ich war ein Riesenfan. Danach habe ich einfach aufgehört, mich damit zu beschäftigen, bis mir letzten Herbst jemand ein Live-Tape mit Aufnahmen aus den Mitt-80ern gab, und daraufhin habe ich auch wieder die anderen Sachen gehört."

* Neil Young "Albuquerque" ("Tonight's The Night", Reprise, 1975)

Was soll manzu diesem Mann schon sagen, außer vielleicht: Sind wir nicht alle irgendwie Neil-Young-Fans?

Chris [ob des etwas dürftigen Sounds der Aufnahme]: "Zuerst dachte ich, das ist ein Stooges-Bootleg, aber es ist Neil Young, oder? Das ist 'Albuquerque', richtig? Neil Young ist ziemlich beeindruckend. Ich habe ihn vor zwei Jahren mit Crazy Horse gesehen, das war ein Festival im Londoner Finsbury Park, eine der ersten Shows, die ich mit Evan gespielt habe. Ich stand also mit 30 000 Leuten bei strömendem Regen in einem matschigen Feld - und dazu muss ich sagen, dass ich Festivals hasse - und er spielte fünf oder sechs Songs, die mich völlig umgehauen haben. Ich hatte fast Tränen in den Augen - und das bei Songs, an die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte. Das hat mich völlig aus den Schuhen gehauen. Es ist doch so: Oft schaut man sich erfolgreiche Rockmusiker an, die seit 40 Jahren dabei sind, und meistens ist das ja auch cool, aber es ist keine tiefgreifende Erfahrung. Dieses Konzert dagegen war genau das. Es war einfach eine sehr energische Rockshow. Es war nicht 'ganz cool für ein paar alte Säcke', es war einfach nur 'cool'."

* The White Stripes "The Hardest Button To Button" ("Elephant", XL Recordings, 2003)

Come wurden früher gerne als Indie-Blues-Band bezeichnet, und auch wenn das wohl eher auf Thalia Zedeks Einfluss zurückzuführen ist - wie steht Herr Brokaw denn zu den neuen Rettern des Blues?

Chris: "???"

GL: Das kommt den Stooges schon etwas näher, zumindest geographisch...

Chris [vorsichtig, nachdem er ziemlich lange überlegt hat]: "Oh... White Stripes? Ich glaube, ich muss mir mehr von ihnen anhören. Ich kenne 'White Blood Cells', und ich fand die Platte... 'okay'. Ich war wirklich überrascht, dass sie so populär geworden sind. Ich bin bei solchen Sahen aber auch wirklich schlecht und bin deshalb immer überrascht, wenn jemand groß rauskommt."

GL: Die White Stripes sind natürlich nicht ohne Grund auf diesem Tape. Kam bei Come der Blues-Einschlag wirklich nur von Thalia, oder hast du selbst auch zumindest früher Blues gehört?

Chris: "Als Thalia und ich angefangen haben Gitarre zuspielen, mit 12 oder 13, haben wir beide viel Blues gehört, aber kurz danach nahm uns dann Punkrock in Beschlag. Thalia und ich haben auf dem Gebiet eine ziemlich ähnliche Entwicklung durchlaufen. Man kann vielleicht eher sagen, dass wir Punkbands mochten, die auch früher Blues gehört hatten, wie The Gun Club oder The Bad Seeds. Und natürlich die Stones. Für mich war das Ganze also eher eine Second-Hand-Erfahrung. Dass ich anfing Slide-Gitarre zu spielen, hat also eher mit The Gun Club oder den Stones zu tun oder mit den früheren No-Wave-Bands wie den Contortions."

* The Rolling Stones "Dead Flowers" ("Sticky Fingers", Rolling Stones Records, 1971)

Eine der ersten Come-Coverversion - die B-Seite von "Fast Piss Blues", um genau zu sein - war ein Cover von "I Got The Blues", ebenfalls aus "Sticky Fingers".

Chris [nach wenigen Sekunden]: "Rolling Stones! Bei der allerersten Come-Show haben wir 'Beast Of Burden' gespielt. Wir haben uns damals bei den Proben an sehr vielen Coverversionen versucht. Die typische Come-Probe bestand aus einer Stunde Jammen, einer Stunde eigene Songs und einer halben Stunde Covers. Dass wir später 'I Got The Blues' auf Platte veröffentlicht haben, geschah allerdings völlig ohne Hintergedanken. Die meisten Coverversionen, die ich oder Come gemacht haben, sind ziemlich straight. Bei Come gab es nichts Konzeptionelles. Als wir den Song aufgenommen haben, hat niemand gesagt: 'Lasst uns eine postmodernistische Variante eines Rolling-Stones-Songs probieren', oder: 'Lasst uns den Song durch die feministische Perspektive betrachten'. So einen Scheiß haben wir nicht gemacht. Es hieß einfach: 'Der Song ist großartig, lasst ihn uns spielen!'
Wenn eine Coverversion die Leute dennoch auf eine Band aufmerksam macht, ist das natürlich cool. Wir haben mit Come zum Beispiel 'Loin Of The Surf' von den Swell Maps gecovert, ganz einfach, weil es ein unglaublicher Song ist. Da ging es uns einfach darum, den Leuten den Song vorzuspielen."

* M. Ward "Let's Dance" ("Transfiguration Of Vincent", Matador, 2003)

Ein Singer/Songwriter, der ähnlich wie Brokaw ein begnadeter Gitarrist ist und auch gerne mal auf den Einsatz seiner Stimme verzichtet. Und obwohl er für gewöhnlich Elizabeth Cotten oder John Fahey mehr schätzt, kennt er offensichtlich auch die 80er-Jahre-Werke von David Bowie.

Chris [nachdem der Gesang einsetzt]: "M. Ward! Ich habe die Platte noch nicht einmal gehört! Gerard [Cosloy, der Chef von Chris' Label 12XU] hat mir die CD gegeben. Ich schaute sie mir an und fragte ihn: 'Ah, wie ist denn das Bowie-Cover?' Und Gerard meinte: 'Na ja... okay!' Ich sollte mir die Platte wohl mal anhören. Ich habe einen Haufen Platten in London gekauft, und diese CD liegt im Moment ganz unten in meinem Gepäck..."

* Richard Thompson "From Galway To Graceland" ("Watching The Dark", Rykodisc, 1990)

Die Folk-Legende ist hier vertreten, weil es in Brokaws Musik – vor allem bei Pullman - auch eine gewisse Folk-Tendenz gibt.

Chris [ohne Zögern]: "Richard Thompson... Der Folk-Einfluss ist bei mir nicht besonders wichtig. In der Theorie finde ich die Spielarten wie Blues, Folk und Country großartig, trotzdem gibt es in jedem Genre nur ein oder zwei Leute, die ich wirklich richtig mag. Abgesehen davon gibt es aber vor allem schrecklich viel schlechte Folk Music. Zum Beispiel Ani DiFranco! Schlimm! Ich habe sie nie live gesehen, aber ihre Platten kann ich nicht ausstehen. Was nicht heißt, dass ich nicht bewundere, was sie erreicht hat. Ich hab ein Interview mit ihr gelesen, in dem sie gefragt wurde, ob sie einen Tipp für jemanden hätte, der ähnlich erfolgreich sein möchte wie sie. Ihre Antwort war: 'Geh raus und spiele zehn Jahre lang jeden Abend. Ohne Pause an den Feiertagen, ohne Urlaub, ohne Krankenschein. Jeden Abend, für zehn Jahre. Das habe ich jedenfalls gemacht!' Diese Entschlossenheit ist bewundernswert."

* Low "Over The Ocean" ("Curtain Hits The Cast", Vernon Yard Recordings, 1996)

Das Trio aus Duluth, Minnesota, ist zumindest bei seinen Frühwerken oft mit den legendären Codeine verglichen worden, bei denen Brokaw bekanntlich Schlagzeuger war.

Chris: [nach drei Sekunden]: "Das sind Low, oder? Eine unglaubliche Band! Ich finde es großartig, wenn sich die Leute immer noch für Codeine interessieren. Als ich zum ersten Mal etwas von Low hörte, sprach ich mit Steve [Immerwahr], dem Gitarristen von Codeine, darüber, und er meinte nur: 'Ja, die haben ganz sicher unsere Platten gehört, hahaha!'"

Weitere Infos:
www.chrisbrokaw.com
Interview: -DJ Carsten Wohlfeld-
Foto: -Tamara Bonn-
Chris Brokaw
Aktueller Tonträger:
Wandering As Water
(Return To Sender/Glitterhouse)
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