Gaesteliste.de Internet-Musikmagazin



SUCHE:

 
 
Gaesteliste.de Facebook Gaesteliste.de Instagram RSS-Feeds
 
Interview-Archiv

Stichwort:



 
NATALIE MERCHANT
 
"...dann wird dir klar, dass du etwas Sinnvolles tust!"
Natalie Merchant
Sieben Jahre lang war es still um Natalie Merchant, jetzt kehrt die Ausnahmeerscheinung unter den US-Singer / Songwriterinnen und frühere Frontfrau der 10,000 Maniacs mit einer weiteren Großtat zurück. Für ihr dieser Tage erscheinendes (Doppel-)Album "Leave Your Sleep", das sie im Mai auch an vier Abenden live auf deutschen Bühnen präsentieren wird, vertonte sie Gedichte englischer und amerikanischer Lyriker - opulent und doch dezent. Gaesteliste.de hatte die große Freude, die so ungemein natürliche Musikerin letzten November vor ihrem wundervollen Auftritt in der intimen Kulisse des Roten Salons in Berlin zu einem ausführlichen Gespräch zu treffen.
"Wenn du dich eine Zeit lang von etwas fernhälst, fällt es dir viel leichter zu begreifen, was du daran besonders schätzt", sagt Natalie rückblickend. "Ich habe nie aufgehört aufzutreten, allerdings stand ich in den letzten Jahren ausschließlich für wohltätige Zwecke auf der Bühne. Eines der unglaublichsten Konzerte, die ich je gegeben habe, war eine Benefizveranstaltung für die Perkins School for the Blind. Wenn du 12 oder 13 Jahre alte Kids triffst, die das Gefühl haben, dass mein Song 'Wonder' von ihnen handelt, oder du die Mütter von Kindern triffst, die von Geburt an blind und taub sind, und die dir erzählen, dass sie den Song immer wieder gespielt haben und er ihnen Trost gespendet hat, dann wird dir klar, dass du etwas Sinnvolles tust und dich vielleicht wieder herauswagen solltest. Die wenigen Male, die ich aufgetreten bin, wurde ich auch immer wieder gefragt, wann ich endlich zurückkäme, aber bis meine Tochter ein gewisses Alter erreicht hatte - sie ist jetzt sechseinhalb, bis die Tournee losgeht, wird sie sieben sein -, kam das für mich nicht infrage."

Die lange Auszeit nutzte Natalie, um "Leave Your Sleep" akribisch vorzubereiten. Auf dem Doppelalbum mit 26 Songs finden sich Gedichte von Schriftstellern wie Robert Louis Stevenson, Odgen Nash, Robert Graves, Edward Lear oder Gerard Manley Hopkins, die sie mit großem Aufwand und viel Fantasie vertonte. Insgesamt waren 130 Musiker, aber wie Natalie lachend erzählt, "zum Glück nur ein Tontechniker und ein Co-Produzent" an der Mammutproduktion beteiligt, die fast ein wenig der Arbeit an einem Dokumentarfilm glich. Das Ergebnis ist ein ambitioniertes Glanzlicht, das textlich große Themen wie den Verlust der Unschuld und das Gefühl der ungetrübten Ewigkeit streift. "Alle Gedichte haben eine besonders starke zentrale Figur, das war der Hauptaspekt bei der Auswahl für mich. Letztlich war die Idee hinter dem Album, eine Art Musical für Kinder zu erschaffen, deshalb waren die ausdrucksstarken Figuren besonders wichtig", verrät sie. Doch auch musikalisch ist "Leave Your Sleep" ein buntes Kaleidoskop. Wer Natalie bisher ausschließlich als Autorin und Interpretin zugegebenermaßen tiefgründiger Popsongs auf dem Schirm hatte, dürfte von der Platte durchaus überrascht sein. Für die Amerikanerin selbst war es dagegen ein völlig natürlicher Schritt, die typische Pop-Instrumentierung für "Leave Your Sleep" vollends außen vor zu lassen. "Ich habe mit sinfonischen Instrumenten aufgenommen, seit 10,000 Maniacs 'In My Tribe' gemacht haben. Seitdem gab es auf jeder meiner Platten ein oder zwei Songs, bei denen ein Streichquartett oder ein Kammerorchester aufgetaucht sind. Eine Platte ausschließlich mit orchestralen Arrangements aufzunehmen, ist dennoch Neuland für mich. Es gibt auf dieser Platte keine Songs, auf der das Orchester die Pop-Band lediglich begleitet."

Völlig unerwartet kommt die musikalische Neuausrichtung natürlich nicht, schließlich hatte schon "The House Carpenter's Daughter" Natalies schwindendes Interesse an formattauglichem Pop signalisiert. "Ja, es war eine natürliche Entwicklung", bestätigt sie. "Die Elemente aus der Musik Chinas oder des Balkans sind bisher nie aufgetaucht, aber all die anderen Stile habe ich zuvor zumindest schon angedeutet - wenn nicht in meinen eigenen Songs, dann doch zumindest mit den Songs, die ich gecovert habe, oder durch Künstler, mit denen ich zusammengearbeitet habe." Ein weiterer Einfluss waren auch die beiden unter ähnlichen Vorzeichen wie "Leave Your Sleep" entstandenen "Mermaid Avenue"-Alben, auf denen Billy Bragg und Wilco von Woody Guthrie hinterlassene Texte vertonten - mit Natalie als Gastsängerin. "Ich habe bei dieser Zusammenarbeit unglaublich viel von Billy gelernt", erzählt sie. "Einigen britischen Journalisten, mit denen ich kürzlich gesprochen habe, ist bereits aufgefallen, dass Billy auf der Suche nach Woody in die Staaten gekommen ist und uns mit seiner Leidenschaft für das Thema viel über Woody beigebracht hat, während ich nun nach England komme, um den Briten einige ihrer Dichter näherzubringen. Bei einer Lesung letzte Woche habe ich zum Beispiel ein Foto eines britischen Dichters hochgehalten - und niemand im Saal hatte je von ihm gehört! Da konnte ich nur rufen: 'Das ist einer von euch!' Allerdings sind Gedichte ja insgesamt etwas in Ungnade gefallen. Früher waren sie, zumindest in den USA, ein zentraler Teil des Curriculums in den Schulen, heute sind sie größtenteils aus den Lehrplänen verschwunden. Im Rahmen meines Projekts bin ich mit der National Poetry Foundation in Kontakt getreten, die einen jährlichen Rezitations-Wettbewerb ausrichtet, an dem letztes Jahr 300 000 Kinder teilgenommen haben. In New York war ich in der Jury, und ich war wirklich beeindruckt von dem, was ich dort zu sehen bekam. Das hat mir gezeigt, dass es eine neue Generation von Kids gibt, die sich für Gedichte begeistern können."

Nicht nur für die gibt es auf "Leave Your Sleep" einiges zu entdecken. Schließlich beschritt Natalie bei der Produktion längst nicht immer den offensichtlichen Weg. "Es gab eine Menge Experimente", erinnert sie sich. "Zu manchen Gedichten schrieb ich die Musik in drei oder vier verschiedenen Stilen, bei anderen dagegen gaben mir Versmaß, Reimschema und Thema bereits genau vor, wie sich die Musik anzuhören hatte. Einige Male nahm ich auch die Gedichte und verpflanzte sie in eine andere Epoche, was viel Spaß gemacht hat. 'The King Of China's Daughter' zum Beispiel orientiert sich sehr nah am Text, dagegen entstand Odgen Nashs 'Adventures Of Isabel' in den 1950er Jahren im Norden des Staates New York, ich machte daraus jedoch eine Cajun-Nummer, obwohl der Autor zu Louisiana überhaupt keine Verbindung hat. Trotzdem fühlte es sich richtig an." Ein weiteres schönes Beispiel für einen "umgetopften" Text ist das von Natalie reggaefizierte "Topsyturvey-World". "Ja, das habe ich völlig aus dem Zusammenhang gerissen", lacht sie. "Das Text stammt von einem britischen Dichter aus der Viktorianischen Ära namens William Brighty Rands. Er war ein Prediger aus Brixton, der für das Parlament gearbeitet und nebenbei auch einige wenige Gedichte verfasst hat. Er hat eine interessante Geschichte, denn er stammte aus der Unterschicht. Sein Vater war Kerzenmacher, und als er neun war, konnte er die Bibel bereits auf Latein, Griechisch und Hebräisch lesen, obwohl er sich alles selbst beibringen musste! Später brachte er es dann auf zwölf Sprachen. Außerdem hatte er gleichzeitig zwei Familien in verschiedenen Teilen Londons. Er hatte drei Kinder mit der ersten Frau und vier mit der zweiten. Erst an seinem Grab trafen sich die Familien zum ersten Mal!"

Diese Anekdote - nur eine von vielen zu den Songs auf "Leave Your Sleep" - unterstreicht, wie intensiv sich Natalie mit dem Stoff auseinandergesetzt hat. Diese Beschäftigung findet unter anderem auch im aufwendig gestalteten Booklet zum Album ihre Fortsetzung, in dem sich zusätzliche Hintergrundinformationen und Fotos der Dichter finden. Doch "Leave Your Sleep" ist nicht die einzige Herausforderung, mit der sich die inzwischen 46-jährige Musikerin in jüngster Vergangenheit konfrontiert sah. "Die große Herausforderung für mich ist, in dieser Kunstform - ich nenne es absichtlich nicht Business, denn das ist es für mich nicht - in Würde zu altern", gesteht sie und nennt Tom Waits, David Byrne oder Joni Mitchell als Vorbilder in dieser Hinsicht. "Ich bin Teil der Popmusik, eine Pop-Kultur-Ikone, aber ich möchte nicht mit 60 immer noch das Gleiche wie mit 25 machen, nur weil die Leute danach verlangen. Ich möchte meine Vergangenheit nicht verleugnen, aber ich möchte sie neu interpretieren und auf reife, erwachsene Art und Weise vorankommen." Spricht's - und lacht lang und herzlich. Wer die außergewöhnliche Karriere dieser ganz und gar einzigartigen Künstlerin in den letzten 30 Jahren verfolgt hat, dürfte keinen Zweifel haben, dass Natalie dieses selbst gesteckte Ziel spielend erreichen wird.
Weitere Infos:
www.nataliemerchant.com
de.wikipedia.org/wiki/Natalie_Merchant
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Natalie Merchant
Aktueller Tonträger:
Leave Your Sleep
(Nonesuch Records/Warner Music)
jpc-Logo, hier bestellen

 
Banner, 234x60, ohne Claim, bestellen
 

Copyright © 1999 - 2024 Gaesteliste.de

 powered by
Expeedo Ecommerce Dienstleister

Expeedo Ecommerce Dienstleister