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SHARON VAN ETTEN
 
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Sharon Van Etten
Natürlich gab es auch in den vergangenen zwölf Monaten wieder viele Newcomer, Aufsteiger und Abräumer auf dem breiten Feld des Indierock in all seinen Facetten, trotzdem darf sich Sharon Van Etten ein wenig wie die Gewinnerin des Jahres fühlen. Als sie im Februar ihr drittes Album, "Tramp", veröffentlichte, wurde sie hinter vorgehaltener Hand in einem Atemzug mit PJ Harvey, Feist oder Cat Power genannt. Inzwischen darf sich die schöne Amerikanerin mit der wunderbar rauchigen, oft etwas wehmütig klingenden Stimme durchaus auf Augenhöhe mit den berühmten Kolleginnen fühlen. Das Album, das nun in einer um 13 Demos erweiterten Deluxe-Edition erneut erscheint, brachte ihr nämlich nicht nur überschwängliche Kritiken von der versammelten Rock-Journaille, sondern auch innige Liebeserklärungen von Musikerlegenden wie J. Mascis oder Lou Reed ein. Selbst die unantastbaren Bon Iver coverten einen von Sharons Songs, und für die vielen, vielen Konzerte, die sie weltweit dieses Jahr absolvierte, wurden zuletzt auch schon längst nicht mehr kleine Clubs, sondern geräumige, altehrwürdige Säle wie das Shepherd's Bush Empire in London oder gar die Town Hall in New York City gebucht. Anders gesagt: Derzeit scheint sich alles in Gold zu verwandeln, was die 31-Jährige anfasst. Der Grund dafür ist allerdings nicht Glück allein.
Seit mehr als fünf Jahren arbeitet Sharon hart für ihren Erfolg, stets bescheiden, aber zielstrebig. Ihr größter Trumpf dabei sind ihre sagenhaft intensiven Live-Shows, bei denen die charismatische Musikerin Abend für Abend mit viel Humor, vor allem aber unglaublicher Leidenschaft zu Werke geht. Wie kaum einer anderen Künstlerin derzeit gelingt es Sharon, ihr Publikum mit oft hypnotischen Performances zu fesseln. "Ich folge oft einfach meinen Gefühlen, und so singe ich auch", versucht sie sich an einer Erklärung, als sie sich im Mai dieses Jahres im Biergarten des Kölner Stadtgartens Zeit für Gaesteliste.de nimmt. "Es gibt Menschen, die kopflastig sind und sich über alles zu viele Gedanken machen, andere dagegen folgen ihrem Herzen. Ich bin keine analytische Denkerin, sondern eher der emotionale Typ."

Emotionen waren gewissermaßen auch der Ausgangspunkt für ihre Karriere. Anfang des Jahrtausends zog Sharon nach Murfreesboro, Tennessee, um dort Sound Engineering zu studieren, ein Studium, das sie allerdings schnell wieder aufgab. Stattdessen verfing sie sich in einer destruktiven Beziehung mit einem Musiker, der für ihre ersten eigenen Gehversuche als Singer/Songwriterin rein gar nichts übrig hatte. Auftritte bei lokalen Open Mike-Veranstaltungen konnte sie deshalb nur bestreiten, wenn ihr Boyfriend selbst auf Tournee war, außerdem führte die turbulente Beziehung dazu, dass sie sich mehr und mehr von ihren engsten Angehörigen entfernte.

Erst nach mehreren Jahren zog sie einen Schlussstrich. Sie kehrte zurück zu ihrer Familie und verarbeitete das Geschehene, indem sie im Keller des elterlichen Hauses in Clinton, New Jersey, Indie-Folk-Songs der zerbrechlichsten, verletzlichsten Sorte schrieb - ohne konkrete Gedanken an eine Veröffentlichung. "Wenn ich einen Song schreibe, denke ich nicht darüber nach, was später damit passiert. Wenn ich mich zum Schreiben hinsetze, ist das nur für mich, weil ich etwas zu überwinden habe", betont sie. "Das Ganze fängt gewissermaßen als Therapie an und die meisten dieser Song sehen auch nie das Tageslicht. Diejenigen Songs, die ich mit den Menschen teilen möchte, tragen trotz ihrer persönlichen Färbung eine positive Botschaft in sich, etwas, von dem ich glaube, dass es auch anderen helfen könnte. Wenn so anständige Songs entstehen, die andere Menschen hören können, ist das Ganze nicht mehr nur egoistisch, passiert das aber nicht, ist es schon ziemlich selbstsüchtig." Zwar muss Sharon ob dieser Aussage lachen, trotzdem dürfte auch dieser selbstkritische Auswahlprozess zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Erste Home-Recordings veröffentlichte sie via MySpace, später auch auf einer handgemachten CD-R, die heute ein gesuchtes Sammlerstück ist. Mit den befreundeten Great Lake Swimmers unternahm sie damals auch schon eine erste Europa-Tournee, spielte 2007 sogar bereits in Deutschland.

Weil - so sagt es zumindest die Legende - Sharons Therapeut ihr damals riet, sich ernsthaft als Musikerin zu versuchen, zog sie nach New York und nahm einen Job beim Indielabel Ba-Da-Bing Records an, das gerade mit Beirut erste Erfolge feiern konnte. Zuerst als schüchtern-stille Praktikantin, später als geschätzte Festangestellte arbeitete sie für die Plattenfirma, ohne dass ihr Boss Ben Goldberg wusste, dass sie selbst auch Musik machte und in New York regelmäßig in kleinen Clubs auftrat. Auf Vitamin B zu setzen und die Verbindung zu ihrem Arbeitgeber auszunutzen, wäre Sharon damals einfach nicht in den Sinn gekommen. Ihr auf den fragilen Home-Recordings aufbauendes Debütalbum "Because I Was In Love", eingespielt zusammen mit Greg Weeks von Espers, erschien 2009 deshalb auf dessen winzigem Language-Of-Stone-Label.

Sharon Van Etten
Dennoch: Sharons bereits deutlich selbstbewussteres Zweitwerk, "Epic", wurde 2010 auf Ba-Da-Bing veröffentlicht, ein Schritt ganz nach Sharons Geschmack. Natürlich ist der Amerikanerin das Vorankommen wichtig, noch wichtiger ist es ihr allerdings, dass alles in kleinen Schritten und organisch passiert. Sie möchte die Erfolgsleiter aus eigener Kraft erklimmen, ohne Medientricks und großen Hype. Zwar konnte Sharon ihr Potenzial als Songwriterin auf dem zweiten Album noch nicht vollkommen ausschöpfen, trotzdem entpuppte es sich als wichtige Etappe zum aktuellen Werk, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen gibt es auf "Epic" erste zaghafte Experimente mit Bandarrangements zu hören, die den volleren Sound von "Tramp" bereits vorwegnehmen, zum anderen wirbelte die Platte in Amerika einigen Staub auf, was zu langen Tourneen und letztlich dazu führte, dass Sharon ihre Wohnung in Brooklyn aufgab. "Ich hab zwar auch danach nicht im Auto gehaust wie Jewel, aber all meine Kleidung hatte ich bei mir im Auto und meinen sonstigen Kram hatte ich eingelagert", erinnert sie sich bei unserem Gespräch. "Ich war zwei Jahre lang einfach so viel auf Tour, dass ich mir eine richtige Wohnung nicht leisten konnte, weil die Mieten in New York so unglaublich hoch sind. Also bin ich bei Freunden oder meiner Familie untergekommen, und wenn ich das Gefühl hatte, dass ich den Leuten zu sehr auf die Pelle rückte, habe ich mir ein Zimmer zur Untermiete gesucht." Der titelgebende "Tramp" ihres aktuellen Albums ist also Sharon selbst!

Als sie das Album 2011 in Angriff nahm, hatte sie nicht nur bereits begeisterte Kritiken wie "She is the music you have always wanted to hear but could never find" eingeheimst, sondern ob vieler kleiner, für sich genommen oft unbedeutend erscheinender Kollaborationen und Gastautritte bereits ein großes Netzwerk an Musikerkontakten in und um New York herum aufgebaut. Dazu gehörte auch Aaron Dessner von den Senkrechtstartern The National, der Sharon sein Garagen-Studio in Brooklyn zur Verfügung stellte - für die Albumsessions und gewissermaßen auch als Ersatz-Zuhause. Viele Monate feilten die beiden mit hochkarätigen Gästen - u.a. Mitglieder von The Walkmen, Wye Oak und Beirut - an neuen Songs, die viele verschiedene Emotionen widerspiegeln und aus verschiedenen Zeitperioden stammen, aber auf dem fertigen Album trotzdem wie aus einem Guss klingen, eben weil sie mit dem gleichen Team am gleichen Ort aufgenommen wurden.

Im Laufe der Aufnahmen begann Sharon auch die Zusammenarbeit mit anderen Musikern mehr und mehr zu schätzen, der Hauptgrund für die klangliche Neuausrichtung hin zu einem deutlich Ensemble-orientierteren Sound war dies allerdings nicht. "Ich will einfach nicht die gleiche Platte zweimal veröffentlichen, sondern ständig neue Dinge ausprobieren", erklärt sie. "Es geht nicht darum, einen Song auszustaffieren um des Ausstaffierens willen, aber ich möchte auf gar keinen Fall noch einmal ein Soloalbum wie mein erstes aufnehmen. Ich hoffe, dass es nicht für manche so aussieht, als würde ich auf Teufel komm raus etwas Neues probieren wollen. Ich möchte einfach mit meiner Band wachsen."

Ihre Band, das sind seit Anfang des Jahres Gitarrist Doug Keith, Drummer Zeke Hutchins und Multiinstrumentalistin Heather Woods Broderick, die nicht nur fantastische Musiker, sondern vor allem auch enge Freunde sind, die zukünftig auch ins Songwriting mit eingebunden werden sollen. Gemeinsam sprühen die vier allabendlich auf der Bühne geradezu vor positiver Energie, obwohl sie inzwischen seit Monaten auf engstem Raum zusammenhocken. Kein Wunder, dass Sharon bei der Frage, was ihr geholfen habe, die Tourstrapazen dieses Jahres zu überstehen, zuerst ihre Mitstreiter einfallen. "Das Wichtigste sind wirklich die Leute, mit denen du unterwegs bist", sagt sie bestimmt. "Die Songs live zu spielen macht Spaß, kann aber manchmal auch etwas ermüdend sein. Da hilft es, dass es wirklich eine Freude ist, mit meiner Band auf Reisen zu sein, und die Menschen, vor denen wir auftreten, sind auch alle ganz entzückend. Zusammen haben wir eine Menge Spaß. Das Ganze ist wie ein Sommercamp!"

Sharon Van Etten
Trotzdem freut sich Sharon auf ihr neues Zuhause. Eine letzte Europa-Tournee steht noch im Dezember an, über Silvester geht es nach Australien, doch danach kann sie sich hoffentlich endlich ein wenig in die neue Wohnung in Brooklyn zurückziehen, mit der sie sich für die Fertigstellung von "Tramp" Ende letzten Jahres belohnt hat - und die sie seitdem ob der vielen Gastspielreisen kaum zu Gesicht bekommen hat. "Ich denke, die Wohnung wird mir neue Perspektiven eröffnen. Ich lebe allein, was bedeutet, dass ich mehr und freier schreiben kann. Das sollte dazu führen, dass ich mehr Material zur Verfügung habe, mit dem ich arbeiten kann, wenn ich das nächste Mal ins Studio gehe", glaubt sie. Neue Songs schreibt sie derzeit vor allem auf dem Synthesizer anstatt auf der Gitarre. "Das wird alles verändern", ist sie sich sicher. "Ich schreibe Piano-Songs - das Klavier war ja mein erstes Instrument - und elektronisches Zeug. Ich könnte zwar in meinem Apartment auch problemlos Gitarre spielen, aber ich habe mich dazu entschieden, meine Arbeit stärker von meinem restlichen Leben zu trennen. Deshalb habe ich für meine Band jetzt einen Proberaum. Wenn mir danach ist, laut zu sein, kann ich mich dort austoben. Zu Hause genieße ich dagegen die Stille, und damit es ein echtes Zuhause ist, will ich dort, wenn es irgend geht, nicht zu viel arbeiten, und wenn doch, dann will ich leise sein und die Nachbarn nicht stören!" Dennoch ist es Sharon nach wie vor wichtig, dass ihre Songs so natürlich wie möglich entstehen. Etwas zu erzwingen und sich damit ein vorgefertigtes Arbeitsschema vorzugeben, ist nicht ihr Ding. "Für gewöhnlich ist es so, dass ich eine Melodie in meinem Kopf höre, die danach schreit, weiterverfolgt zu werden. Üblicherweise kommt sie aus dem Nichts. Manchmal klimpere ich einfach auf einem Instrument herum, bis ich eine interessante Akkordfolge finde, in der ich eine Melodie zu hören glaube, an der ich arbeiten kann. Manchmal setze ich mich auch mit dem festen Vorsatz hin, etwas zu schreiben, aber wenn ich merke, dass ich es erzwingen muss, höre ich sofort auf, denn das ist einfach nicht meine Art zu arbeiten."

Deshalb glaubt Sharon auch nicht, dass ihr die Erfahrungen der ersten drei Alben das Schreiben in Zukunft erleichtern werden. Zwar sei ihr inzwischen stärker bewusst, wen ihre Songs erreichen und wo es noch Verbesserungspotenzial gäbe, doch letztlich ist es ihr nach wie vor ein Mysterium, wie ihre Songs entstehen. "Die Melodien kommen einfach, aber ich weiß nicht, warum oder wie ich sie kontrollieren oder gar manipulieren könnte", gesteht sie. "Ich versuche lediglich, sie in meinem Kopf zu interpretieren, aber ich kann sie nicht erklären!"

Interessanterweise sind es ausgerechnet ihre unumwundenen, höchst emotionalen Texte, die Sharon für verbesserungswürdig hält. Dass es ein Risiko sein könnte, sich mehr aufs Geschichtenerzählen zu verlegen, anstatt mit den Texten einfach das Innere nach außen zu kehren, glaubt sie indes nicht. "Ich denke, man kann beides verbinden", ist sie überzeugt. "Man kann etwas sehr Persönliches auch in eine Geschichte kleiden, anstatt jemandem einfach direkt zu sagen, wie man sich fühlt. In gewisser Hinsicht wären die Songs damit universeller, und es sollten sich mehr Menschen darin wiederfinden können, wenn die Geschichten nicht ganz so offensichtlich von mir selbst handeln!"

Kein Zweifel, Sharon Van Etten wird uns auch in Zukunft noch viel, viel Freude bereiten.

Weitere Infos:
www.sharonvanetten.com
www.facebook.com/SharonVanEttenMusic
twitter.com/sharonvanetten
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Shervin Lainez-
Sharon Van Etten
Aktueller Tonträger:
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