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SNAIL MAIL
 
Die Klassenbeste
Snail Mail
Eigentlich hat Lindsey Jordan die Highschool gerade hinter sich, mit ihrer Band Snail Mail ist sie aber auch abseits der Schulbank die Klassenbeste: Im Spannungsfeld von Pop-Sensibilität, Indierock-Wucht und DIY-Punk-Spirit hat niemand, wirklich niemand, in diesem Jahr mehr Staub aufgewirbelt als die 19-Jährige aus Maryland mit ihrem Debütalbum "Lush". In herrlich unverblümten Coming-of-Age-Dramen, die all die Tücken des Erwachsenwerdens lakonisch, aber doch elektrisierend abbilden, begleitet das Publikum Lindsey auf der Suche nach ihrem Platz in dieser immer chaotischer erscheinenden Welt und ist begeistert von den detailverliebt-perfektionistisch arrangierten Liedern in klassischer Rock-Quartett-Besetzung, die ganz ohne Glanz und Glamour auskommen und beseelt vom melodischen Lo-Fi-Indie-Sound der 90er-Jahre kunstvoll auf den schlichten Kern aus Melodie und Emotionen reduziert sind. Kein Wunder also, dass in den USA bei den Shows von Snail Mail inzwischen selbst größere Säle aus allen Nähten platzen. In Deutschland dagegen gibt es Anfang November die vielleicht schon allerletzte Chance, Snail Mail bei Club-Konzerten in Köln, Hamburg und Berlin noch einmal im kleinen Rahmen zu erleben. Zuvor hatte Gaesteliste.de bereits im Sommer die Gelegenheit, mit Lindsey vor ihrem Deutschland-Debüt in der Haldern Pop Bar über ihren kometenhaften Aufstieg zu sprechen.
Gaesteliste.de: Lindsey, wie geht's?

Lindsey: Mein Leben ist gerade ganz schön hektisch, aber auch ziemlich unglaublich. Gestern zum Beispiel waren wir Bergwandern in der Schweiz - einfach unfassbar! Manchmal kann das alles schon etwas überwältigend sein, und bisweilen habe ich das Gefühl, dass ich zu viel zu tun habe, um es noch genießen zu können, aber zum Glück gibt es noch die Momente, in denen ich alles einfach aufsaugen kann und mich besonders am Herumreisen erfreuen kann. Doch auch wenn der Tourrhythmus ziemlich krass sein kann, habe ich doch eine Menge Spaß, die Songs auf der Bühne zu spielen. Das ist der Lohn für all die Arbeit, die in das Album geflossen ist, all der Hype und die Promotion, denn dafür habe ich das alles gemacht: um die Songs spielen zu können! Alles in allem erlebe ich gerade eine ziemlich aufregende Zeit und freue mich darauf, all die Orte zu sehen, an denen ich noch nie war.

Gaesteliste.de: Ist all das, was gerade passiert, eine Überraschung für dich oder letztlich doch nur das Ergebnis der Arbeit und der Zeit, die du investiert hast?

Lindsey: Es ist eine Überraschung... und auch das Resultat harter Arbeit. Allerdings weiß man ja nie, wie die Leute auf etwas reagieren, und deshalb war meine wichtigste Richtschnur bei der Arbeit am Album, wie glücklich ich selbst mit den Ergebnissen bin. Ich habe sehr genau darauf geachtet, dass die Platte all das umfasst, was ich auf meiner persönlichen Checkliste hatte. Dass die Leute dann so auf die Lieder angesprungen sind und ihnen ihren eigenen Kontext gegeben haben, war ein schöner Nebeneffekt, den ich nicht wirklich erwartet hatte, weil ich mir darüber ehrlich gesagt gar nicht erst viele Gedanken gemacht habe.

Gaesteliste.de: Gerade wenn du nicht viel erwartet hast: Was war denn der größte "Wow, ich kann nicht glauben, dass das passiert"-Moment der letzten
Wochen und Monate?

Lindsey (lacht): Gerade heute erst habe ich darüber nachgedacht, wie unfassbar es ist, dass wir im Madison Square Garden in New York auftreten werden! Als ich noch ganz klein war, konnte ich mir nichts Cooleres vorstellen, aber als ich dann etwas älter wurde, habe ich das von der Liste meiner Ziele gestrichen, weil ich Gitarrenmusik machen wollte und dort eben keine Indiebands auftreten. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass das nie passieren kann. Im Februar wird es nun dennoch Realität. Wir sind "nur" eine von drei Bands, aber immerhin (lacht)!

Gaesteliste.de: Gab es einen Auslöser dafür, dass du Musikerin werden wolltest?

Lindsey: Nun, ich spiele schon mein ganzes Leben Gitarre, aber Songs schreibe ich erst, seit ich 12 oder 13 war. Damals habe ich vor allem Cover gespielt und bin in Coffeeshops aufgetreten. Das hat mir auch wirklich gut gefallen, denn ich mochte es, Gefühle durch die Songs anderer auszudrücken und so die gleichen Emotionen zu spüren wie der Autor des Liedes. Dann wurde mir allerdings bewusst, dass es mir in meiner persönlichen Entwicklung helfen könnte, wenn ich für die Kaffeehaus-Auftritte meine eigenen Stücke schreibe.

Gaesteliste.de: Wie lange hast du gebraucht, bis du die ersten Lieder geschrieben hast, mit denen du wirklich zufrieden warst? Musstest du erst eine Menge Schrott aus dem Weg räumen?

Lindsey: Nee, ich war sofort ziemlich stolz auf das, was ich schrieb. Erst im Rückblick wurde mir dann bewusst, dass das nicht unbedingt das war, was ich heute unter einem guten Song verstehe. Aber die Befriedigung war sofort da, auch wenn es dann noch drei Jahre gedauert hat, bis ich tatsächlich etwas aufgenommen und veröffentlicht habe.

Gaesteliste.de: Die Songs auf "Lush" klingen spürbar ausgeklügelter als die auf der vorangegangenen EP "Habit" aus dem Jahre 2016. Wie kommt's?

Lindsey: Ich habe dieses Mal einfach sehr viel mehr Zeit auf das Songwriting und die Produktion verwendet! Selbst das kleinste Detail ist aus gutem Grund so, wie es ist. Jeder Song hat um die 50 Bearbeitungsschritte durchlaufen und ich habe unglaublich viel Zeit im Studio verbracht, zuerst für die Aufnahmen und dann fürs Mixing, und ich hatte auf alles ein Auge, damit es am Ende genau so war, wie ich es haben wollte.

Gaesteliste.de: Die ständige Bearbeitung führt dazu, dass du unzählige Details in jedem einzelnen Song unterbringst, während viele andere heute den umgekehrten Weg gehen und statt zehn Ideen in einen Song zu packen, lieber zehn Songs aus einer einzigen Idee machen. Offenbar hast du keine Angst, dass dir die Inspirationen ausgehen?

Lindsey: Nein! Das Arrangieren der Lieder ist der komplizierteste Teil für mich, weil ich zumeist so viele Ideen habe, dass ich mich irgendwann beschränken muss, damit daraus überhaupt ein richtiger Song wird. Idealerweise wären meine Stücke alle 20 Minuten lang, ohne dass irgendwelche Parts wiederholt werden. Im Studio hatten wir dann allerdings des Öfteren die Diskussion, was der Unterschied zwischen einem eingängigen Popsong und einer ausufernden Prog-Rock-Nummer ist...

Gaesteliste.de: Eingängigkeit scheint ja aber durchaus erwünscht zu sein, denn schließlich könntest du problemlos auch 20-Minuten-Prog-Rock-Stücke machen - wenngleich sie vermutlich ein anderes Publikum ansprechen würden…

Lindsey (lacht): Nun, ich mag Popmusik, sie gibt mir eine Menge und ich mag es, diese Lieder auf der Bühne zu spielen. Außerdem gefällt mir die Idee, mein Gespür für Pop auf die Rockmusik zu übertragen, denn genau das macht die Sache für mich aufregend und spaßig. Vielleicht werde ich irgendwann aber mal ein Side-Project starten, bei dem Eingängigkeit überhaupt keine Rolle spielt (lacht).

Gaesteliste.de: In den letzten Monaten haben wir mit einer Reihe Indierockern geredet, die Musiktheorie eher als Fluch denn als Segen betrachten, weil zu viel Wissen genau der naiven Spontaneität im Wege steht, die oft zu den authentischsten Ergebnissen führt. Du dagegen bist ein Fan von Theorie. Warum?

Lindsey: Jeder hat da seine eigene Sichtweise, aber für mich ist Musiktheorie ein nützliches Werkzeug, gerade wenn es darum geht, Arrangements für Instrumente abseits der Gitarre zu machen. Es hilft mir, die Songs zu visualisieren, als wären sie mathematische Gleichungen. Vielleicht kommt irgendwann in der Zukunft der Punkt, an dem die Theorie zur Herausforderung werden könnte, aber bislang war sie immer sehr hilfreich für mich. Ich umgehe die Gefahren allerdings auch, indem ich zum Beispiel Gitarrentunings verwende, von denen ich keine Ahnung habe. Das ist dann fast so, als würdest du zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand nehmen und dir alles wieder von vorn beibringen müssen. Das hilft, um die von dir angesprochene Naivität zurückzuholen.

Gaesteliste.de: Von Anfang an kreisen deine Songs um ähnliche Themen, die Perspektive hat sich zwischen "Habit" und "Lush" allerdings gewandelt. Sind die Texte auf dem neuen Album stärker vage, weil du mit zunehmendem Alter und mehr Erfahrung eher das große Ganze in den Blick nimmst, oder ist das bereits eine Reaktion auf deine gestiegene Popularität, der Wunsch, nicht jedes Detail mit der Öffentlichkeit teilen zu wollen?

Lindsey: Wenn ich heute Songs schreibe, dann nehme ich mir ein Thema und wende es mit dem Blick auf das große Ganze auf meine eigene Entwicklung, meine eigene Umgebung an. Die Lieder auf "Habit" dagegen waren sehr situationsbezogen und drehten sich um sehr spezifische Momente, in denen ich dachte, es geht um Leben und Tod. Allerdings ist es schon so, dass ich als Mensch meinen Privatkram gerne für mich behalte, als Schreiberin aber das genaue Gegenteil tue und alles teilen möchte, abgesehen davon, dass ich es vermeide, die konkreten Namen der Menschen, von denen die Lieder handeln, oder die Orte, an denen sich die Geschichten zugetragen haben, zu nennen. "Lush" ist auch deshalb vage, weil es darauf mehr um mich selbst geht anstatt um andere Menschen aus meinem Umfeld, wie das bei "Habit" der Fall war.

Gaesteliste.de: In früheren Interviews hast du des Öfteren über die Trennung zwischen der Künstlerin Snail Mail und der Privatperson Lindsey Jordan gesprochen. Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen den beiden?

Lindsey: Während der Auftritte bin ich in der Regel ziemlich still und meistens ziemlich unglücklich mit dem Bühnensound. Der Smalltalk mit dem Publikum fällt mir nicht leicht, deshalb verzichte ich darauf. Abseits der Bühne bin ich dagegen ziemlich gesprächig. Ich mache gerne Spaß, rede viel und habe zu allem eine Meinung. Auf der Bühne kommt das nicht durch, weil ich so konzentriert auf das bin, was ich tue, denn ich will, dass alles perfekt ist. Kürzlich las ich einen Tweet, in dem sich jemand beschwerte, dass wir keine Show machen, aber ehrlich gesagt sehe ich mich eher als Musikerin denn als Showman, und für den Moment bin ich damit auch glücklich. Mir gefällt es, dass meine Konzerte sich allein um die Musik drehen. Natürlich ist mir bewusst, dass die Zuschauer es mögen, eine schillernde Persönlichkeit auf der Bühne zu sehen, aber für die absehbare Zukunft bleibt alles so, wie es ist.

Gaesteliste.de: Du hast mit deiner Musik bereits viel Staub aufgewirbelt, während du noch zur Schule gegangen bist. Das klingt ein bisschen wie der Stoff für einen Disney-Film. Wie weit entfernt von der Hollywood-Märchen-Version war denn deine Erfahrung?

Lindsey: Lustig, dass du danach fragst! Mir war das Ganze vor allem peinlich! Es war mir wirklich unangenehm, dass alle an meiner Schule davon wussten, und ich habe stets versucht, das Thema zu vermeiden. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass ich zuvor beliebter in der Schule gewesen bin, denn das alles hat zu einer stärkeren Entfremdung geführt, weil meine Mitschüler entweder völlig aufgekratzt, neidisch oder sauer waren. Deshalb war ich vor allem damit beschäftigt, die Gespräche weg von der Musik zu lenken. In der Disney-Version hätte die Aufmerksamkeit für mich vermutlich zu mehr Freunden, einer erfolgreichen Beziehung und anderen coolen Dingen geführt (lacht)!

Weitere Infos:
www.snailmail.band
facebook.com/snailmailband
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Snail Mail
Aktueller Tonträger:
Lush
(Matador/Beggars Group/Indigo)
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