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ANNA BURCH
 
"Ohne Musik würde ich verrückt werden"
Anna Burch
Es ist so eine Sache mit der musikalischen Weiterentwicklung. Einerseits ist sie nötig, um künstlerisch und kommerziell voranzukommen, gleichzeitig kann ein blindes Vertrauen auf den Effekt des Neuen schnell in eine Sackgasse führen. Die Amerikanerin Anna Burch ist sich dessen sehr bewusst und glänzt auf ihrem warmtönenden zweiten Soloalbum, "If You're Dreaming", mit einem passend zum Titel fast in Richtung Soft-Rock und Dream-Pop deutenden Sound, der weicher und bei Songs wie "Every Feeling" oder "Party's Over" oft ausladender ist als der klassisch mit Gitarre, Bass und Schlagzeug instrumentierte Jangle-Indie-Pop ihres klanglich wie textlich herrlich direkten und bemerkenswert unverblümten Debüts "Quit The Curse" aus dem Jahre 2018.
Eines wird beim Hören von "If You're Dreaming" schnell klar: Dies ist das Album einer Frau, die nicht nur musikalisch gewachsen, sondern auch menschlich inzwischen spürbar mehr mit sich im Reinen ist. Das Gefühl von Frustration und Beklemmung, das beim alles andere als ironisch betitelten Vorgänger praktisch allgegenwärtig war, weicht gerade im zweiten Teil des neuen Albums trotz wiederkehrender Themen wie Isolierung, Erschöpfung und Sehnsucht einer neuen Gelassenheit, die nicht zuletzt auf Burchs inzwischen deutlich gefestigtere Lebensumstände zurückzuführen ist. Sogar der Coronavirus-bedingten Ausgangssperre kann sie etwas Positives abgewinnen, nachdem sie in den vergangenen Jahren daheim in Detroit gleich mehrfach unfreiwillig ihre Bleibe wechseln musste. "Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich das Apartment mag, in dem ich nun die Quarantäne verbringe", erzählt sie lachend im Gaesteliste.de-Interview. "Es ist schön, an einem Ort zu sein, an dem ich mich entspannt und kreativ fühle. So kann ich die Zeit hoffentlich nutzen, um an neuer Musik zu arbeiten."

Apropos Wohnsituation: Im Sommer 2018 verbrachte Burch zwischen zwei kurz aufeinanderfolgenden Europa-Tourneen einige Wochen in Deutschland. Weil die Kurzzeitmiete für eine Wohnung in Berlin billiger war und ein Aufenthalt dort vielversprechender klang als zurück in die Heimat zu fliegen, entschloss sie sich, die Konzertauszeit in der deutschen Hauptstadt zu verbringen. "Ich war schon vorher einmal länger in Berlin", verrät sie. "Ungefähr 2013 habe ich sechs Wochen dort verbracht, denn ich habe eine gute Freundin in Deutschland, die Austauschschülerin an meiner Highschool war! Vor ein paar Jahren besuchte ich sie dann und fand wirklich Gefallen an der Stadt, weil sie so entspannt ist. Ich liebe die Parks und all die öffentlichen Plätze, das ist etwas, dass die Amerikaner einfach nicht hinbekommen!" Weil in ihrem Apartment ein Klavier zum Mobiliar gehörte, entstand dort auch "Tell Me What's True", ihr erster Piano-Song überhaupt. Allerdings stand die Musik nicht unbedingt im Vordergrund, denn auch ihr Partner kam nach Berlin. "Er hatte zuvor die USA noch nie verlassen, also haben wir viel Zeit damit verbracht, einfach auf den Fahrrädern, die zur Wohnung gehörten, durch die Stadt zu fahren", erzählt sie. Auch den Kurzhaarschnitt, den sie auf der anschließenden Tournee präsentierte, legte sie sich in Berlin zu. "Es war unglaublich heiß zu der Zeit und das Apartment war im Dachgeschoß mit ganz vielen Oberlichtern. Das war vermutlich einer der Gründe, warum ich mir die Haare abgeschnitten habe!", gesteht sie lachend.

Die Zeit in Berlin hat auf der neuen Platte genauso Spuren hinterlassen wie die Erfahrungen der langen Tourneen rund um den Globus. "Ich wusste, dass die neue Platte anders klingen sollte, allerdings mag ich auch meine erste Platte sehr und wusste, dass ich daran anknüpfen wollte", erklärt sie. "Der Unterschied ist sicherlich, dass ich bei der ersten sehr strikt war, jetzt dagegen war ich in vielerlei Hinsicht offener. Damals war es mir wichtig, dass alles schön übersichtlich bleibt, dieses Mal war es mein Ziel, meine künstlerische Bandbreite zu erweitern." Das Ergebnis ist ein Album, das praktisch auf den Schultern seines Vorgängers steht und in jeder Hinsicht eine Expansion bedeutet: Die Songs sind nun spürbar atmosphärischer, begeistern mit leuchtenden Keyboardklängen und glitzerndem Hall und offenbaren mit jedem weiteren Hören neue Schattierungen.

Denn Burch folgt beim Schreiben ihrer Lieder zwar den allgemeinen Gesetzen der Popmusik und setzt auch auf Eingängigkeit durch Wiederholung, achtet dabei aber darauf, dass es keine exakte Wiederholung ist, sondern kleine Variationen jegliche Anflüge von Langeweile vertreiben. "Beim Hören fällt das oft gar nicht ins Ohr, aber wenn meine Musiker die Songs lernen, heißt es ständig: 'Moment mal, was passiert denn an dieser Stelle?'", verrät sie lachend. "Das ist meine Art, mir innerhalb der Popstruktur meinen eigenen Weg zu suchen." Selbst mit ihrem Gesang wagte sich Burch dieses Mal mehr in unbekannte Gewässer vor. "Auf der ersten Platte habe ich vor allem auf den unteren Bereich meines Stimmumfangs zurückgegriffen", erklärt sie. "Dieses Mal habe ich mich etwas mehr aus meiner Komfortzone herausgewagt, habe für eine höhere Stimmlage geschrieben und mehr fließende Melodielinien, um das Ganze für mich interessanter zu machen."

Die erste Hälfte der Lieder entstand bereits, kurz bevor "Quit The Curse" veröffentlicht wurde, die zweite dann nach der ausführlichen Tournee zum Debüt, direkt bevor Burch die Aufnahmen zum neuen Album in Angriff nahm. "Auf der Platte gibt es auch einige kürzere Instrumentals, die während der Tournee entstanden sind", erklärt sie. "Genau deshalb haben sie auch keine Texte, denn während ich unterwegs war, hatte ich nicht die Gelegenheit, mich hinzusetzen und mich so aufs Schreiben zu fokussieren, wie ich das zu Hause kann." Doch auch das hatte seine guten Seiten, denn mit den Instrumentals widmet sich Burch einer Welt abseits des klar strukturierten (Indie-)Popsongs. Bisweilen experimentiert sie sogar munter mit Jazz-Akkorden und bei "Not So Bad" kommt sogar ein Saxofon zum Einsatz, als gälte es zu beweisen, dass musikalisch immer noch Luft nach oben ist.

Doch auch in puncto Aufnahmesituation machte Burch mit der neuen LP einen großes Satz nach vorn. Nachdem "Quit The Curse" vor allem in den kurzerhand zum Tonstudio umgewandelten Wohnzimmern von Freunden mal hier, mal da eingespielt worden war, fanden die Sessions zu "If You're Dreaming" im Flying Cloud Studio in Upstate New York mit Studiobesitzer Sam Evian als Co-Produzent und Multiinstrumentalist statt. "Wir hatten zwei Wochen, um die Platte aufzunehmen, und oft entstanden die Arrangements praktisch zeitgleich mit den Aufnahmen", erinnert sich Burch. "Wegen des klar abgesteckten Zeitrahmens mussten wir sehr entschieden vorgehen, aber das war gut, denn für gewöhnlich schiebe ich die Dinge gerne auf: Ich brauche eine Deadline!"

Hinzu kam, dass Evians Studio in den Catskill Mountains umgeben von viel Wildnis gelegen ist und die Ablenkungen, die Sessions in größeren Städten oft mit sich bringen, dort vollkommen fehlen. "Das Schöne dort war, dass die Arbeitsatmosphäre gleichzeitig fokussiert und entspannt war", freut sich Burch. Interessanterweise war sie vor dem Start der Aufnahmen nicht sicher, wie sie sich die Zusammenarbeit mit Evian vorzustellen hatte, schließlich gibt es Produzenten, die gerne selbst die Richtung bestimmen, und wieder andere, die sich selbst eher als Verstärker der Ideen des betreffenden Künstlers sehen. Letztendlich bildete Burch mit Evian aber ein perfektes Duo. "Die Zusammenarbeit mit Sam war so organisch, dass ich oft gar nicht richtig wusste, wer von uns beiden bestimmte Ideen eingebracht hat", erinnert sie sich.

Auch der Prozess des Textens war dieses Mal ein anderer, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich für Burch auf professioneller wie auf privater Ebene vieles verändert hat. "Das Texten für die erste Platte war ein wenig wie Tagebuchschreiben, weil ich beim Schreiben nicht ans Publikum gedacht habe. Jetzt lebe ich in einer Beziehung und weiß, dass mein Freund all die Texte hört", erklärt sie lachend. "Ich würde nicht sagen, dass ich beim Texten nun zurückhaltender bin, aber ich bin mir der Konsequenzen dessen, über was ich schreibe und singe, besser bewusst. In gewisser Weise hat das dazu geführt, dass ich die Inhalte stärker überdenke, und ich glaube, das hat seine Vorteile. Die erste Platte war sehr offen, sehr beklommen, dagegen ist die neue sicherlich etwas diffuser, wenngleich ich das Gefühl habe, emotional immer noch ziemlich aufrichtig zu sein. Ich habe nur darauf geachtet, dass ich etwas kreativer mit dem Tagebuch-Aspekt des Ganzen umgehe."

Die neue Herangehensweise war mitunter eine Herausforderung für Burch, allerdings eine, der sie sich gerne gestellt hat. "Es war ohne Frage ein längerer Prozess, die richtigen Worte zu finden", gesteht sie. "Bei der ersten Platte konnte ich mich hinsetzen und Text und Musik simultan schreiben. Nach wenigen Stunden hatte ich dann einen kompletten Song, weil es keinerlei Filter gab. Auch da habe ich mir schon Gedanken, etwa über das Versmaß, gemacht, das war kein reiner Stream of Consciousness, aber sobald ich in puncto Inhalte etwas vorsichtiger wurde, machte es das Ganze etwas komplizierter. Dieses Mal hatte ich oft die Songstruktur und eine Melodie, zu der ich Nonsens-Texte singen konnte, und erst danach habe ich mich hingesetzt und Texte zu den bereits ausgeformten Songs geschrieben."

Dabei stand die textliche Ausrichtung der neuen Platte eigentlich schon früh fest. "Der Gegensatz zwischen einem sehr unsteten Leben auf Tournee auf der einen Seite und einer Beziehung, in der ich mich geborgen fühle, auf der anderen, hat den thematischen Bogen für das neue Album vorgezeichnet", sagt Burch. "Es geht um meine Suche nach mehr Stabilität und Trost. Unverändert ist dagegen, dass ich ohne Musik verrückt werden würde. Sie ist immer noch sehr therapeutisch für mich, und es ist immer noch ein echtes Erfolgserlebnis für mich, wenn ich ein Lied vollende." Sie hält kurz inne und fügt dann hinzu: "Das ist wie ein Puzzle: Du setzt dich hin und setzt all die kleinen Teile zusammen, du bist die kreative Kraft, die bestimmt, was am Ende dabei herauskommt. Das zu schaffen, ist für mich ein unglaubliches Gefühl."
Weitere Infos:
annaburchmusic.com
www.facebook.com/annaisaburch
twitter.com/annaisaburch?
www.instagram.com/annaisaburch
annaburch.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -John Hanlon-
Anna Burch
Aktueller Tonträger:
If You're Dreaming
(Heavenly/Pias/Rough Trade)
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