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SAINT ETIENNE
 
Songs zur Untermiete
Saint Etienne
"Tales From Turnpike House" heißt das neue Album der englischen Dance-Pop-Legende Saint Etienne. Und es ist ein waschechtes Konzept-Album geworden: Es gibt einen Songzyklus über den Verlauf eines Tages, der anhand der verschiedenen Bewohner einer Plattenbausiedlung - dem besagten "Turnpike House" - abgehandelt wird. Wie konnte es denn dazu kommen? "Nun, wir haben eigentlich das gemacht, was wir immer machen, wenn wir an einem Album arbeiten - nämlich Songs zu schreiben", erklärt Bob Stanley, der neben Pete Wiggs und Sarah Cracknell den Saint Etienne-Kern ausmacht, "diese stellten sich dann fast alle als Charakter-Skizzen heraus. Wir haben dann nach einer Verbindung dieser Songs gesucht und schließlich noch Songs wie 'Milk Bottle Symphony' und 'Teenage Winter' dazu geschrieben, worin dann einige dieser Charaktere noch einmal auftauchten. Das war dann der Rahmen."
Das Interessante an der Sache ist ja, dass die Charaktere, die die Songs bevölkern, eine geradezu solide, unglamouröse Bodenhaftung mit einem gewissen Arbeiterklassen-Ethos zu haben scheinen. Was dann ein wenig von der - zumindest streckenweise - glamourösen Musik abweicht. "Nun, es geht hier um die Londoner Vorstädte", erläutert Bob, "die sind wohl wie alle Vorstädte eher unspezifisch und man kann sich damit nur identifizieren, wenn man dort auch lebt - ansonsten denkt man, das seien die langweiligsten Orte auf Erden. Ich und Bob sind in Croydon aufgewachsen und Sarah in Windsor - das sind Orte dieser Art. Und wir haben uns unseren Stücken halt immer schon auf die Details des täglichen Lebens bezogen. So leben wir nunmal. Das ist keine besonders aufregende Antwort, aber so ist es nunmal." Das Cover zeigt indes immer noch ziemlich leere - oder sagen wir mal einfach eingerichtete - Wohnungen. Ist da also noch Raum für Phantasie? "Nun, die Wohnung rechts oben, ist leer, damit dort Platz für den Titel-Aufkleber bleibt", lacht Bob, "und unsere Autogramme können wir da draufschreiben. Aber ansonsten stimmt es schon, dass wir es auf dieser Scheibe durchaus darauf angelegt haben, eine Menge Platz zu lassen - sowohl in der Musik, wie auch bei den Texten. Dort können die Zuhörer dann die Details selber hinzufügen. Auf der anderen Seite haben wir auch Details wie z.B. Namen hinzugefügt, um die Sache realistisch zu machen. Das haben wir von großen Songwritern wie Jimmy Webb abgeschaut - 'Wichita Lineman' oder 'By The Time I Get To Phoenix' sind da ausgezeichnete Beispiele. Für jemanden, der z.B. noch nie in Phoenix war, enthält der Name bestimmte Vorstellungen und gleichzeitig bezeichnet er ja einen sehr spezifischen Ort. Das haben wir hier auch versucht. Der Zuhörer soll in seinem Kopf seinen eigenen Film laufen lassen."

Die Musik ist - im Vergleich zu den eher bodenständigen Geschichten, die in den Songs erzählt werden - dann zumindest stellenweise doch wieder recht glamourös. "Und optimistisch", fügt Bob noch hinzu, "wir wollten auf jeden Fall viel Sonnenlicht in den neuen Stücken. Es gibt sogar einige Samba-orientierte Sachen, von denen ich mir nicht mal klar bin, woher das eigentlich kommt. Und dann haben wir dieses Mal endlich Zeit für echte Vokalharmonien gefunden." Da kommen auch wieder die Beach Boys als ständige Einflussquelle für Saint Etienne hervor, nicht wahr? "Auf jeden Fall", pflichtet Bob bei, "die Beach Boys sind unsere allergrößte Einflussquelle - auf verschiedenen Ebenen, nicht nur was den Sound betrifft. Wir haben uns auch letztes Jahr die 'Smile'-Show von Brian Wilson in London angeschaut. Wir haben sogar die allererste Show gesehen. Brian war unglaublich nervös. Er hatte das ja noch nie live aufgeführt und er war sichtlich aufgeregt. Als er dann aufstand und weggehen wollte, blieb er an seinem Keyboard hängen. So was kann nur Brian Wilson passieren. Jeder mag ihn und jeder sorgt sich um ihn und jeder will, dass es ihm besser geht. Das ist schon eine ziemlich emotionale Sache. Ich fand, es war fantastisch." Eines der zentralen Stücke auf "Turnpike-House" heißt "A Good Thing" und ist wie eine kleine Oper aufgebaut. War es das Ziel, die Stücke dieses Mal ein wenig komplexer aufzubauen? "Ja, das ist ein Stück, das Sarah geschrieben hat - bis auf den Mittelteil und der gesprochene Teil, der kam von uns. Wir haben uns nicht unbedingt bemüht, die Stücke komplizierter zu machen - obwohl ich selber immer gerne komplexe Sachen schreibe. Auf 'Sand Of Water' hatten wir ja ein Stück namens 'How Wie Used To Live', das neun Minuten lang ist. Ich denke, dass wir mittlerweile so lange Songs schreiben, dass unser Songwriting und die Art, in der wir Songs strukturieren, sich doch hoffentlich verbessert." Wer singt eigentlich die zweite Stimme bei dem Song "Relocate"? "Das ist David Essex, erinnerst du dich noch an ihn?", fragt Bob, "in England ist er seit den 70er Jahren eine konstante Größe. Er war hier nie das One-Hit-Wonder, als das man ihn sonst kennt. Er hat auch seinen Text und seine Gesangsmelodie geschrieben. Es ist so, dass er eine großartige Stimme hat und wir ihn auch für einen gesprochenen Text auf unserem Kinder-Album brauchten - dazu später mehr. Wir sind alle David Essex-Fans. Wenn wir ein Diagramm mit unserer Lieblingsmusik aufmalen sollten, wäre bei uns allen dreien Davis Essex' 'Rock On' genau in der Mitte." Wer ist denn der "Birdman of The EC1"? Dabei handelt es sich um ein kurzes Instrumental im letzten Drittel der Scheibe. "Also EC1 ist ein Postleitzahlenbereich in London", erklärt Bob, "das Stück kommt an einem Punkt in der CD, wo wir einen Bruch brauchten. Weil 'Teenage Winter' ziemlich viel Aufmerksamkeit beansprucht, und weil zeitlich der Moment des Sonnenaufgangs bezeichnet wird. Der Vogelmann ist ein Typ, den wir kennen, der eben in EC1 wohnt. Er hatte ein Paar Tauben auf seinem Balkon. Normalweise versuchst du die loszuwerden, weil sie Krankheiten übertragen. Aber die hatten gerade Eier gelegt und er hat es nicht übers Herz gebracht, sie zu vertreiben."

Das hört sich ja allerliebst an - ungefähr so, wie die seltsamen Stücke, die sich dann auf der zweiten CD, "Up The Wooden Hill", finden, die sich als Bonus-CD bei der Limited Edition von "Turnpike" findet. "Ja, das ist ein Album mit Kinderliedern", lüftet Bob das Geheimnis, "so etwas wollten wir immer schon mal machen. Pete und Sarah haben ja jetzt beide Kinder. Ich mag einige Alben mit Kinderliedern - Harry Nilsson oder Carole King zum Beispiel. Wohingegen gerade neuere Scheiben mit Kinderliedern geradezu unhörbar sind. Es gibt entweder abscheuliche Geräusche, die sich kein Erwachsener anhören will oder es sind Erwachsene, die akustische Versionen von Kinderliedern spielen, die sich dann Kinder wiederum nicht anhören. Da haben wir uns gedacht, da muss es doch eine Schnittmenge geben, die sich sowohl Eltern wie Kinder anhören würden. Und das war der Hintergrund für dieses Projekt. Bislang ist das nur eine EP. Wir arbeiten aber gerade an einem kompletten Album, das Ende des Jahres herauskommen soll. Auf der einen Seite gibt es Up-Tempo-Sachen für den Tag und auf der zweiten Seite Sachen, die die Kinder hoffentlich in den Schlaf lullen, während die Eltern einen Drink im Wohnzimmer einnehmen." Der Titel des Albums, "The Wooden Hill", bezieht sich auf eine Gute-Nacht-Geschichte, die der bereits erwähnte David Essex vorträgt: "Up The Wooden Hill To Bedfordshire" - eine gewissermaßen poetische Beschreibung von "die Treppe rauf und ins Bett". Ohne dieses Hintergrundwissen klingt die CD indes - mit all ihren schrägen Einfällen - eher wie eine illustrierende Ergänzung zu der "Turnpike"-Scheibe. "Das kann man so sehen", überlegt Bob, "wir haben ja alles zusammen aufgenommen. Es war sogar so, dass wir einige Stücke geschrieben haben, von denen wir uns nicht mal sicher waren, auf welches Album wir sie packen sollten."
Saint Etienne
Wie wurde denn die ganze Sache überhaupt musikalisch angegangen? "Nun, ich sagte ja schon, dass wir ein wenig Sonnenlicht und Raum in unserer Musik haben wollten. Da denkt man natürlich gleich an Holzbläser und akustische Gitarren - und weniger an Samples und Beats. Wir haben das aber ganz natürlich angegangen. Wenn du einen Song schreibst, dann fügt sich das eine zum anderen und am Ende drängt sich das geeignete Arrangement quasi von selber auf." Wenn man so viel Erfahrung damit hat wie Saint Etienne, sollte man vielleicht hinzufügen. Wie arbeiten Saint Etienne denn als Songwriter? "Nun, für gewöhnlich arbeiten wir separat - das heißt, einer hat die Idee für den betreffenden Song", verrät Bob, "das kann so etwas simples wie der Titel sein, aber meistens ist es doch mehr. Speziell bei diesem Album haben wir mindestens 50% des Songs schon fertig gehabt, bis wir dann zusammen daran gearbeitet haben. Vermutlich kann man aber nicht mehr erkennen, wer was gemacht hat. Und wie gesagt: Zunächst haben wir einfach drauflos gearbeitet und dann erst haben wir uns überlegt, ein Konzept-Album zu machen." Das heißt, das ist eher ein zufälliges Produkt? "Ja, und ich denke auch, das ist der gesündeste Weg, ein Konzept-Album anzugehen", führt Bob aus, "als wir 'Tiger Bay' machten, hatten wir uns vorher das Konzept überlegt, traditionelle Folk-Stücke im elektronischen Kontext umzusetzen - und das war vielleicht auf künstlerischer Ebene unser am wenigsten erfolgreiches Album. Man sollte nicht soviel darüber nachdenken, sondern mehr auf seine Instinkte hören." Woran liegt es denn, dass das neue Album weniger Elektronik-Bestandteile enthält, als sonst bei St. Etienne üblich? "Das liegt daran, wodurch wir beim Schreiben unserer Songs beeinflusst werden", erläutert Bon, "es gab da zum Beispiel Ende der 90er eine Menge elektronischer Musik aus Deutschland, die mich damals beeinflusst hat. Beim letzten Album, "Finisterre", haben wir mehr Sachen aus den späten 70ern und den 80ern gehört - Cabaret Voltaire, Human League - so etwas. Und bei dieser Scheibe habe ich jetzt zum Beispiel englische Folkmusik und Ennio Morricone gehört. Es hängt also wirklich davon ab, wovon man inspiriert wird. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn mal wieder jemand ein tolles Elektronik-Album machen würde. Aber diese Tekkno-Sachen, die sich wie fehlerhafte Aufnahmen anhören, die sich ständig wiederholen, mag ich nicht so sehr." Wonach sucht denn der Songwriter Bob Stanley? "Nach guten, unerwarteten Akkordwechseln, einer gewissen Melancholie, die aber einen emotionalen Bezug haben sollte, etwas, das dir bleibt, nachdem du es gehört hast", schwärmt Bob, "das tun die besten Songs für mich." Und Songs dieser Art finden sich auf "Tales From Turnpike House" ja eine ganze Menge. Wie geht es denn mit Saint Etienne weiter? Auf "Turnpike" passiert ja musikalisch eine ganze Menge - so dass es zum Beispiel nicht einfach sein dürfte, darauf aufzubauen und etwa noch mehr hinzuzufügen. "Das stimmt schon", zögert Bob, "obwohl dieses Album für mich eine Konsequenz des letzten Albums ist. Obwohl das letzte ja elektronischer war. Aber wir arbeiten momentan an ein paar Filmen. Das ist also das nächste, was wir machen werden. Der nächste ist ein Film über eine Industrie-Ruine in East-London, die eine gewisse Geschichte hat und die gegebenenfalls für die Olympischen Spiele genutzt werden könnte, wenn wir sie denn bekämen. Wir machen einen Dokumentarfilm darüber, zu dem wir einen 40-minütigen Soundtrack machen. Das werden das im Oktober im Barbican Center in London aufführen. Und dann haben wir ja noch das Album mit den Kinderliedern. Darüber hinaus habe ich mir noch keine weiteren Gedanken gemacht. Zunächst mal müssen wir ja noch die neuen Songs live aufbereiten, und da gibts auch noch einiges zu tun, weil wir ja die Arrangements umarbeiten müssen. Die Melodien der Vokal-Harmonien müssen wir ja zum Beispiel auf Instrumenten nachspielen. Das heißt, dass sich die Sachen doch relativ anders anhören werden, als auf der Scheibe." Auch wenn Bob selber das vielleicht gar nicht so empfindet: "Tales From Turnpike House" ist doch ein relativ großer Schritt für Saint Etienne geworden.
Weitere Infos:
www.saintetienne.com
www.saint.etienne.net
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Saint Etienne
Aktueller Tonträger:
Tales From Turnpike House
(Sanctuary/Rough Trade)
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