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MARY TIMONY
 
Musik mit heilender Wirkung
Mary Timony
Verletzlich und allein - so fühlte sich Mary Timony, während sie an ihrem wunderbaren neuen Soloalbum "Untame The Tiger" gearbeitet hat. Geschrieben und aufgenommen, während sie sich um ihre erkrankten Eltern kümmerte und am Ende beide verlor, und unter dem Eindruck des Endes einer langjährigen Beziehung, verarbeitet die stille Gigantin und einflussreiche Konstante der US-Indie-Szene in ihren neuen Songs Gefühle des überwältigenden Verlusts und lähmender Einsamkeit, indem sie nach innen blickt und dabei der heilenden Wirkung der Musik vertraut. Anders als auf den ebenfalls in Zeiten des Umbruchs entstandenen ersten Alleingängen "Mountains" und "The Golden Dove" zu Beginn des neuen Jahrtausends flüchtet sie sich nun aber nicht in Fantasiewelten, sondern sucht nach Kontakt und Verbindung mit anderen Menschen. Das wird auch musikalisch deutlich, denn obwohl sie mit Einflüssen aus Psych-Rock, Prog und Folk an frühere Solowerke anknüpft, ist auf "Untame The Tiger" auch die Direktheit und Klarheit spürbar, mit der sie auf ihren letzten Veröffentlichungen ihrer Band Ex Hex neue Wege beschritten hatte.
Mary Timony hat in ihrem bewegten Leben als Musikerin viel erlebt. Zu Beginn der 90er begann ihr Weg in der legendären Discord-Post-Punk-Band Autoclave, bevor sie als Frontfrau der ebenso bahnbrechenden wie herrlich unberechenbaren Art-Indie-Rocker Helium unsterblich wurde, als Teil der Supergroup Wild Flag an der Seite von Sleater-Kinneys Carrie Brownstein und Janet Weiss begeisterte und zuletzt als Mastermind von Ex Hex ihrem Tun mit einer explosiven Mischung aus Garage, Glam und Power-Pop neue Facetten hinzufügte.

Mit "Untame The Tiger", ihrem ersten Album unter eigenem Namen seit 17 Jahren, schließt Timony dort an, wo sie mit ihren vier Solowerken in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends aufgehört hatte, wenngleich die Abkehr vom Bandformat vor allem auch den einschneidenden Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld geschuldet ist. "Ich glaube, die wichtigste Lektion, die ich aus diesen Erfahrungen für meine Platte mitgenommen habe, war, keine Angst mehr vor irgendetwas zu haben", gesteht sie im Zoom-Interview mit Gaesteliste.de. "Während ich mich um meine Eltern gekümmert habe, wurde mir bewusst, wie kurz das Leben ist, und nachdem ich das mit ihnen durchgestanden hatte, wusste ich, dass ich mit meiner Zeit hier auf der Welt einfach das tun muss, wonach mir der Sinn steht. Es gibt viele Entscheidungen, die man treffen muss, wenn man eine Platte macht, und das ist oft schwer, aber ich habe gelernt, dass ich die Musik machen muss, die ich machen will, und mir dabei nicht so viele Gedanken machen sollte." Beim Hören des neuen Albums wird schnell deutlich, wie ernst es Timony mit dieser Aussage ist, wenn sie in ihren Songs mit allerhand Versatzstücken jongliert, diese aber mit viel kreativem Eigensinn so fantasievoll und vielschichtig ausstaffiert, dass sie am Ende praktisch referenzlos sind: ein Höhepunkt in ihrer an Glanzlichtern wahrlich nicht armen Laufbahn.

Das Musikmachen vergleicht Timony mit dem Bauen von Lego-Schlössern als Kind, und tatsächlich hat sich die inzwischen 53-jährige Musikerin, die nach einem kurzen Intermezzo in Boston seit vielen Jahren wieder in ihrer alten Heimatstadt Washington D.C. zu Hause ist, trotz der schmerzlichen Verluste in jüngster Vergangenheit nicht nur bei ihrem künstlerischen Tun eine gewisse kindliche Freude erhalten. Die scheint auch bei unserem Gespräch immer wieder durch, denn obwohl sie sich gerne viel Zeit nimmt, bevor sie antwortet, merkt stets wieder, dass die Flammen der Begeisterung für das Musikmachen auch nach mehr als drei Jahrzehnten noch hell in ihr lodern. "Tatsächlich verbringe ich gar nicht so viel Zeit damit, kreative Dinge zu tun, und ich schreibe auch nicht ständig neue Musik", versucht sie diesen Umstand zu erklären. "Manchmal gibt viele Jahre, in denen ich gar nichts schreibe, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt bin. Ich unterrichte ja auch Gitarre, und manchmal habe ich genug damit zu tun, mich mit dem Leben herumzuschlagen. Ich wünschte, ich würde mehr Zeit auf die Kreativität verwenden, denn sie hat für mich eine sehr therapeutische Wirkung. Wenn dann die Zeit gekommen ist, eine neue Platte anzugehen, beginne ich, mich daran zu erinnern, wie das ist, kreativ zu sein und in gewisser Weise ist das jedes Mal eine Neuentdeckung!"

Neu waren auch viele der Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die Timony bei den Aufnahmen zu "Untame The Tiger" unterstützten, lediglich Bassist Chad Molter, der nun auch Teil ihrer Touring-Band ist, hatte auch schon auf ihrem letzten Solowerk, "The Shapes We Make" aus dem Jahre 2007, mitgespielt. David Christian und Brian Betancourt dagegen unterstützten Timony vor einigen Jahren bei ihren retrospektiven "Mary Timony plays Helium"-Konzertreise und machten dabei einen so großartigen Job, dass kein Weg an ihnen vorbeiführte. Ihre Ex-Hex-Bandkollegin Betsy Wright singt Backing Vocals, Dennis Kane und Joe Wong halfen bei der Produktion, und dann spielt auf dem Album tatsächlich auch noch Schlagzeuger Dave Mattacks mit, der vor inzwischen mehr als 50 Jahren schon in jungen Jahren als Mitglied der klassischen Besetzung von Fairport Convention zur Legende wurde und seitdem auch als Session-Drummer in höchsten Kreisen unterwegs ist. "Das war superaufregend", gesteht Timony und klingt dabei, als könne sie es immer noch nicht so richtig glauben. "Mein Freund Joe, der das Album co-produziert hat, kannte ihn von einem Interview für seinen Drummer-Podcast ['The Trap Set'], und er schlug vor, ihn zu fragen. Ich war mir sicher, dass das nicht zustande kommt und er Nein sagt, aber es stellte sich heraus, dass er problemlos verfügbar war. Da ist ein Traum für mich in Erfüllung gegangenen. Er ist ein echter Held für mich, und mit ihm zu spielen war eine der coolsten Sachen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Er ist auf all diesen Platten, die ich seit Jahren höre, ich liebe, wie er spielt, und abgesehen davon war er auch noch ein netter, großartiger Typ."

Bei der Arbeit ließ Timony Mattacks vollkommen freie Hand. "Ich habe ihm meine Demos geschickt und er hat selbst seine Parts geschrieben", erklärt sie. "Das Tolle ist, dass er ein technisch unglaublich versierter Schlagzeuger ist, aber er hat mit vielen Songwritern zusammengearbeitet, und deshalb ist ihm immer auch der Song wichtig. Es war deshalb überhaupt nicht nötig, ihm Orientierungshilfen zu geben, wenn überhaupt, hat er mir Empfehlungen gegeben!" Sie lacht. "Ich erinnere mich, dass ich ihn irgendwann fragte: 'Willst du hier nicht vielleicht noch ein paar verrückte Drumfills hinzufügen?', aber er sagte nur: 'Ich denke nicht, dass der Song das braucht' - und er hatte recht! Was er spielt, ist immer sehr gediegen und geschmackvoll!" Zu Timonys Lieblingsplatten, auf denen Mattacks zu hören ist, zählen seine frühen Arbeiten mit Fairport Convention und Steeleye Span genauso wie Brian Enos "Before And After Science", und dann ist da natürlich noch "Bryter Layter" von Nick Drake. "Ich habe die Drum-Parts auf diesen Platten vollkommen verinnerlicht, weil ich sie so oft gehört habe", verrät sie. Während Timony die Grundlage für das Album in ihrem eigenen, treffend "The Basement" genannten Keller-Heimstudio in Washington D.C. gelegt hat, wurden die fünf Stücke mit Mattacks in Dave Grohls Studio 606, vor den Toren von Los Angeles aufgenommen, mit einem Mischpult, das schon für Produktionen von Größen wie Tom Petty genutzt wurde. "Dort gab es einfach eine gute Energie", erinnert sie sich.

Obwohl einige Songs des neuen Albums - "Summer", "Don't Disappear" oder die zweite Hälfte des Titelstücks - ein wenig so klingen, als wären sie auch auf einer Ex-Hex-Platte nicht fehl am Platze, kehrte Timony doch zu einer Arbeitsweise zurück, mit der sie dem Geist ihrer früheren Alleingänge ganz nahekommt. "Anstatt mir zu sagen: 'Ich setze mich hin, um einen Song zu schreiben', habe ich einfach Gitarre gespielt und geschaut, was passiert", verrät sie. "Außerdem bin ich zu den Gitarrentunings zurückgekehrt, die ich bei meinen früheren Solowerken verwendet habe, auch deshalb klingt die neue Platte ähnlich."
Auch die Texte der Platte nutzt Timony, um die Geschehnisse der vergangenen Jahre zu verarbeiten. Das Schreiben der Texte beschreibt sie als Bewusstseinsstrom, fast wie ein Träumen, bei dem es darum geht, die Visionen in ihrem Kopf in Worte zu fassen. "Das ist keine bewusste Sache, die ich versuche in die Tat umzusetzen... es kommt einfach heraus", erklärt sie. "Es geht darum, dass ich mich besser fühle, indem ich beschreibe, was in meinem Leben vor sich gegangen ist. Es ist fast so, als würde ich in ein Tagebuch schreiben, nur dass ich dort ständig herumjammere und wirklich zickig bin, während ich mit den Liedern versuche, meine Traurigkeit oder meine Einsamkeit in etwas zu verwandeln, das andere Menschen ansprechen könnte. Ich versuche, mit den Leuten in Kontakt zu treten. Das ist das, worum es mir wirklich geht!"

Anders gesagt: Während viele ihrer Peers längst vergessen haben, was sie einst dazu veranlasste, sich eine künstlerische Betätigung zu suchen, wird Timonys Musik immer noch von der gleichen unbändigen Neugier und unzähmbaren Leidenschaft wie früher angetrieben. "Begeistert davon zu sein, ein kleines Etwas erschaffen zu haben - diesem Gefühl jage ich immer noch nach", sagt sie und muss lachen. "Das gibt mir einen Grund, weiter durchs Leben zu gehen!"
Weitere Infos:
www.marytimonymusic.com
www.instagram.com/marytimony
twitter.com/maryt_money
www.facebook.com/profile.php?id=61552523729792
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Chris Grady-
Mary Timony
Aktueller Tonträger:
Untame The Tiger
(Merge Records/Cargo)
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