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23.09.2015
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Erwachsen? Gewachsen!

Reeperbahn Festival 2015 - 1. Teil

Hamburg, Reeperbahn
23.09.2015 / 24.09.2015

Reeperbahn Festival 2015
Party-Alarm auf der Reeperbahn? Normal, eigentlich. Wenn natürlich auch nicht immer mit einem so tollen Programm, wenn alljährlich das Reeperbahn Festival ansteht. 10 Jahre alt ist das Festival nun 2015 geworden - eine rundes Jubiläum. Erwachsen geworden ist es natürlich noch nicht, dafür aber mal wieder gewachsen. An den vier Veranstaltungs-Tagen gab es 400 Konzerte und über 200 Business-Events zu erleben - viel Auswahl, da muss auch schonmal sortiert werden. Aber die gute Erkenntnis dabei: Man kann immer noch viel entdecken, vor allem zufällig.

Der in Dänemark gestrandete Kanadier Brian Della Valle übersetzte seinen Nachnamen frei in Of The Valley und präsentierte mit sonorer Stimme unter diesem Projektnamen solide Americana-Songs auf einer hübschen, antiken halbakustischen Gitarre. L'aupaire nennt Robert Laupert aus Gießen sein Projekt. In seiner Wahlheimat Budapest entstanden die Songs, die er - zusammen mit einem Trompeter - nun in Hamburg zum Besten gab. Roberts Markenzeichen ist dabei eine durchdringende Knödelstimme mit hohem Wiedererkennungswert.

Die Slovenische Band Koala Voice stellten ihre Power-Pop-Songs über furzende Koala Bären in einem ungewohnten akustischen Setting vor - und zwar bei der NDR Blue Reihe, die regelmäßig Live-Sendungen vom Reeperbahn Festival im Radio überträgt. Dieses Mal geschah dies aus der neu eröffeneten Alten Liebe im neuen Klubhaus. Wie dem auch sei: Normalerweise spielen Manca Trampus ihren englischsprachigen Pixies-Emulationen nur laut und elektrisch, weswegen dieser Auftritt durchaus etwas Besonderes darstellte.

Auf der unglücklich konstruierten Astra Bühne mitten auf dem Spielbudenplatz hatte sich derweil der Französische Songwriter Vianney eingerichtet. "Songwriter" deswegen, weil sich der Herr zwar sogar dafür entschuldigte, einige Songs auf Französisch vorzutragen - dieses aber keineswegs im Chanson-Modus tat, sondern in der musikalischen Tradition angelsächsisch geprägter Vorbilder.

In der Prinzenbar hatte derweil Arabella Rauch, die als Künstlerin Josin heißt, ihr Equipment aufgebaut. Die Songwriterin mit den koreanisch-deutschen Wurzeln überzeugte mit einem faszinierenden Mix aus klassischem Songwriting auf Piano-Basis, elektronischen Beats und Grooves, jazzigem Piano-Spiel, geschickt geschachtelten Gesangs-Samples und sogar mit einer ziemlich druckvollen Indie-Rock-Gitarre. Josin fühlt sich dabei von einer skandinavischen Gemengelage inspiriert, was sich auch stimmungsmäßig niederschlägt. Dennoch überzeugte Josin mit ihrem eigenständigen, intensiven und ungewöhnlichen Ansatz auf der ganzen Linie. Lediglich die Augen hätte sie gelegentlich ein Mal öffnen dürfen.

Das Reeperbahn Festival in der schönen Hasenschaukel wurde fast schon traditionell von Jörg Tresp (DevilDuck Records) eröffnet und mit The DeSoto Caucas aus Dänemark stand Americana auf dem Programm - was wir uns allerdings nur kurz ansehen konnten, denn im Molotow standen bereits Menace Beach aus Leeds auf der Bühne und konnten mit ihrem Slacker-Rock-Pop begeistern. Über die Auswahl der Oberbekleidung von Sänger Ryan Needham lässt sich bestimmt rätseln, aber musikalisch hat das allemal Spaß gemacht. Eher unterkült gaben sich dann Hælos aus London im Moondoo Club - ihr Electro-Indie-Pop kam auf der Bühne doch recht dünn daher, von daher stand ein Ortswechsel auf dem Programm. Es muss einem ja nicht immer alles sofort gefallen - dafür bietet das Reeperbahn Festival ja genügend Alternativen.

In Angie's Nightclub ging es weiter mit Lilly Among Clouds. Die junge Würzburgerin machte nach einer längeren Tour mit ihrer Band auch Station in Hamburg. Seltsamerweise ist Lilly (ehemals Lilly Among Thorns) bislang eher im hohen Norden bekannt und erfolgreich; und das seit längerer Zeit und obwohl sie gerade erst eine erste EP veröffentlicht hat. Lilly überzeugte mit großartigen, druckvoll und kompetent dargebotenen Popsongs etwa über die Beerdigung von Fernbeziehungen, die gar nicht so dramatisch rüberkamen, wie sie befürchtete. Musik wie diese, die in ihrer reichhaltigen, emotionalen Komplexität durchaus an die normaleren Momente von Fiona Apple erinnern, erwartet man hierzulande einfach nicht - einfach alleine schon deshalb sollte man sich den Namen Lilly Among Clouds als Geheimtipp merken. Auch wenn es schwer fällt.

Auch aus Deutschland, aber aus einer komplett anderen musikalischen Ecke kommen Warm Graves aus Leipzig, die in der Prinzenbar mit ihrer Sci-Fi-delischen Musik die Leute in den Bann ziehen. Es geht eher düster zu (passend zum Bandnamen), wenn die drei Musiker mit Gitarre, Orgel (darunter einige alte Exemplare mit fehlenden bzw. kaputten Tasten) und Schlagzeug sehr intensive und große Sound-Wände auftürmen, die teils mit verhalltem Gesang abgerundet werden. Die eher späte Auftrittszeit, das Ambiente der Prinzenbar, die Musik - das war ein stimmiges Bild.

Ebenso passend waren die Bedingungen im Molotow für den Auftritt von Cleo Tucker und Harmony Tividad aka Girlpool - ihr schräger und immer auf den Punkt gebrachter Indie-Folk-Rock sorgte für gute Laune. So neigte sich der erste Tag des Reeperbahn Festivals seinem Ende entgegen - schon viel mitgenommen, und das war erst der Mittwoch mit seinem "kleinen" Programm.

Relativ früh ging es am nächsten Tag mit dem polnischen Showcase weiter. Hier spielte zunächst die Band Sorry Boys, die mit ihrer dramatisch agierenden Frontfrau Iza Komoszynska gerne mit Florence & The Machine verglichen wird. Bei ihrem ersten Auftritt in Deutschland zeigte die Band aus Warschau allerdings keine besonderen Eigenarten, die diese Art von elektronisch verstärktem New Wave Pop als speziell gekennzeichnet hätten.

Auf dem N-Joy Bus gab es dann wieder Indie-Pop - dieses Mal mit Kid Astray aus Norwegen. Die Band hat sich eine Art von gutgelauntem Allround-Pop ausgesucht, den man von einer skandinavischen Band nicht unbedingt in dieser Form erwartet hätte und bietet mit Bandleader Benjamin Giørtz und Keyboarderin/Sängerin Elizabeth Wu gleich zwei kompetente Frontleute, die das Ganze mit attraktiven Gesangsharmonien ausgestalten.

Ein weiterer skandinavischer Geheimtip ist zweifelsohne Aurora. Obwohl die junge Dame aus Schweden in einem rein akustischen Setting aufgrund ihrer elektronischen Ausrichtung sozusagen eigentlich entwurzelt ist, überzeugte sie auch hier mit einer betont emotionalen und gestenreichen Performance. Letztlich spricht das für die Qualität ihres Songmaterials, zu dem auch der Quasi-Hit "Running With The Wolves" gehört.

Im Sommersalon hatte die finnische Regierung das Kommando übernommen. Dass finnische Acts - gleich welcher Richtung (und da gibt es so einige) - eigentlich immer für gute, spinnerte Unterhaltung gut sind, bewiesen hier auch Mia und Emma Kemppainen alias LCMDF. Die beiden Schwestern, die sich nach ihrem verstorbenen, magersüchtigen Kater "Le Corpse Mince De Francoise" benannt haben, machen schon seit einiger Zeit die Clubs mit ihrem trashigen Dance-Pop, der sich angenehm von Club-Klischees fernhält, unsicher und brachten das Ganze im Party Modus mit einer gewissen Punk-Attitüde zum Abschluss. Auf der N-Joy-Bühne stand da bereits der jugendliche Songwriter-Schwarm Nisse bereit, der deutschsprachigen Pop für Männer macht. D.h.: Genau genommen macht er ja deutschsprachigen Pop von Männern, denn die Zielgruppe sind dann doch eher die Damen, denn ob sich Männer gerne romantische Selbstfindungstexte anderer Männer anhören möchten, ist ja doch eher zweifelhaft.

Bei den Kanadiern im ebenfalls neu im Klubhaus angesiedelten kukuun, wo dieses Jahr das Canada House gastierte, spielte dann Gabrielle Papillon aus Quebec auf - und enttäuschte insofern, als dass sie zwar noch im Soundcheck auf französisch sang, in ihrem Set dann aber doch standardmäßiges US-Anbiederungs-Songwriting ohne erkennbare kanadische Identität anbot. Schade eigentlich, denn während das Ganze Handwerklich kompetent rüberkam, hätte man sich das gewisse Extra dann schon gewünscht. Ein weiteres Geschwisterpaar hatte dann auf der N-Joy-Bühne Platz genommen: Sarah & Julian Muldoon lieferten gepflegten Songwriter-Pop ab, der nun gerade dadurch gefiel, dass er sich nicht einer bestimmten Richtung unterordnete, sondern sich in seinem gepflegten Harmonie-Bedürfins durchaus selbst genügte. Das ist harmlos, aber keineswegs schädlich oder unanhörlich. Die Finnen hatten mit Venior ein weiteres heißes Eisen im Feuer. Das verrückte kleine Energiebündel gefiel mit inhaltlich zwar eher banalem Teenie-E-Pop, der aber mit einer unbändigen Energie und Dramatik und sogar einer Art theatralischem Ausdruckstanz dargeboten wurde. Unterhaltsam war das auf alle Fälle.

Etwas abseits der Reeperbahn, genauer gesagt in der Hamburger Innenstadt, stand Conrad Keely auf der kleinen Bühne bei Michelle Records, nur bewaffnet mit einer Gitarre - "Ich fühle mich hier wirklich nackt, so ohne meine Band", meinte Conrad in Anspielung auf die Abwesenheit seiner Kollegen von …And You Will Know Us By The Trail Of Dead. Das hielt ihn aber nicht davon ab, einige Songs seiner Band zum Besten zu geben (akustisch ebenso fesselnd wie im Band-Setting), dazu einige neue Songs über das Reisen (die werden dann auch nächstes Jahr auf seinem Solo-Album zu hören sein), ebenso einige Songs in Begleitung eines Kumpels an der Violine und schon wähnte man sich irgendwo im fernen Texas. Toll.

Bei den Italienischen Showcases gab es ein beinahe überambitioniertes Wunderkind zu entdecken: MEry Fiore schaffte es nicht nur, Lou Reed, Reggae-Beats und den von ihr favorisierten E-Dance-Pop unter einen Hut zu bringen, sondern sie brachte es fertig einen Song sowohl auf Englisch, Italienisch und Chinesisch vorzutragen. Dabei überzeugte die Dame als gutgelauntes Energiebündel, das sogar das versammelte Fachpublikum zu amüsieren verstand. Ebenfalls aus Italien, aber leider nicht so überzeugend folgte im Anschluss JoyCut, einem Trio bestehend aus zwei Dummern/Percussionisten und einem Elektroniker/Sänger. Das allgemeine Soundbild blieb allerdings recht dünn und flach in Erinnerung.

"Voll" ist das Wort, das vor allem in Erinnerung bleibt, wenn Friends Of The Family aus Den Haag auf der Bühne stehen bzw. sich dort fast gegenseitig auf die Füße treten. Im neu eröffneten Bahnhof Pauli (im Keller des neuen Klubhaus) freuten sich die Leute auf zehn Musiker auf der Bühne, die sofort mit ihrem Indie-Folk den ganzen Raum in Beschlag nahmen - obwohl man sich manchmal schon fragte, was Sänger Gijs Ballering da an Dämonen versucht zu verjagen.

Bei NDR Blue waren dann Dengue Fever aus L.A. zu Gast. Dass die Band mit Chhom Nimol eine kambodschanische Frontfrau zu bieten hat, ist einer Zufallsbegegnung zu verdanken, wie Bandleader Zac Holtzman erklärte - hat sich aber zum Markenzeichen der Band entwickelt, was die Sache umso exotischer erscheinen lässt. Holtzman war es übrigens aufgefallen, dass man beim Docks als zusätzliches Festival-Motto "Refugees Welcome" ausgeschildert hatte.

Großer Andrang herrschte dann beim Auftritt von Findlay aus Manchester in der Prinzenbar. Es hatte sich wohl schon herumgesprochen, dass die Dame eine sehr tighte Bühnen-Präsentation darbieten würde - und so war es dann auch. Ihr Indie-Rock-Pop hatte Biss, Melodie und auch immer eine besondere Note. Auch wenn sie selbst gesundheitlich etwas angeschlagen war, konnte der Auftritt rundum begeistern.

Mirel Wagner kommt zwar auch aus Finnland, hatte sich aber von der Party ihrer Landsleute ferngehalten, sondern spielte lieber ein paar ruhige, melancholische Folksongs im Sommersalon - und ließ dann die bemühte Radio-Sprecherin auflaufen, indem sie die Fragen einsilbig so beantwortete, wie sie gestellt worden waren und nicht, wie sie radiotauglich gepasst hätten.

Blossoms aus Manchester durften sich dann open air auf der Bühne der Spielbude präsentieren - das noch recht junge Quintett machte seine Sache sehr gut, ihr Britpop/Indie-Pop konnte mit Melodie und guter Performance punkten.

Im Knust warteten da schon alte Bekannte. The Handsome Family feierten auf ihrer aktuellen Tour zwar keinen neuen Tonträger - dafür aber das Bestehen der "800-jährigen Ehe" von Brett und Rennie Sparks, wie Rennie selbst es formuliert. Auch wenn sie nun tatsächlich erst seit ca. 20 Jahren im Geschäft sind, ist es doch erstaunlich, wie gut sich das alles gehalten hat: Nicht nur, dass sowohl Rennie wie auch Brett praktisch noch genauso aussehen wie vor 20 Jahren: Sie reden auch das gleiche sympathisch-wirre Zeug wie damals und sie spielen auch im Prinzip dieselben Songs wie weiland. Nur dass sie das heute mit der Souveränität und Grandezza alter Hasen tun.

So lang sind die Tall Ships aus England zwar noch nicht dabei (2009 gegründet), aber das ist ja keine Voraussetzung für gute Musik. Auch der leichte Nieselregen, der für Hamburg typisch durchaus seitlich seinen Weg auf die Bühne der Spielbude fand, konnte der guten Laune keinen Abbruch bringen. Dazu hat die Band um Sänger Ric Phethean einfach zu viele Songs mit großartigen Melodien im Programm - auch wenn die Strukturen teils etwas vertrackt sind, hat man stets ein Grinsen im Gesicht.

Aus dem Staunen heraus kam auch nicht mehr, als wir eher zufällig bei K-X-P aus Finnland in das Rock Café St. Pauli hineinstolperten. Nebelwände, Stroboskop-Blitze, dazu ein dichter, düsterer, elektronischer Sound, dargeboten von zwei Drummern (mit Kapuzen-Gewändern bei gefühlten 50 Grad) und einem Verrückten an der Elektronik, Gitarre und Gesang. Das war schon fast nicht von dieser Welt. So ging der zweite Festivaltag ziemlich beeindruckend zu Ende.

Weiter zum 2. Teil...

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Text: -Ullrich Maurer / David Bluhm-
Foto: -Ullrich Maurer-
 

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