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12.08.2017
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So So Ciety

Haldern Pop Festival 2017 - 3. Teil

Rees-Haldern, Alter Reitplatz Schweckhorst
12.08.2017

Let's Eat Grandma
Da die Kirche im Ort am Samstag traditionellerweise wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wird, begann das Programm dann in der Pop-Bar - und zwar mit Schmackes: Sløtface nennt sich die junge Truppe aus Stavanger, die mit ihrem gut gelaunten Agit-Punk-Power-Pop die wenigen Interessierten, die Einlass gefunden hatten und (dank des Einsatzes des Bassisten Lasse Lokøy, der das Fenster der Bar öffnete) auch diejenigen, die noch draußen warteten, wachrüttelten. Was Sløtface genau heißen soll, ist nicht ganz klar - irgendwas zwischen "Slot" und "Slut" vermutlich - aber das ist ja auch nicht so wichtig. Wichtig ist Haley Shea und ihren Jungs, die jugendliche Wut im Bauch in ansprechend druckvollen Protestpunk-Songs zum Ausdruck zu bringen - wobei man sich dem Vernehmen nach von Gegebenheiten in der norwegischen Heimat inspirieren lässt. Hat man alles so oder ähnlich schon mal gehört, macht aber dennoch immer wieder Spaß. Nur ein wenig fröhlicher hätte die Band schon agieren dürfen. Den Fans in der Pop Bar dürfte das egal gewesen sein, denn das quirlige Tun auf der Bühne hatte seinen Zweck erfüllt: Man war dann erst mal wach.

Eine Programmumstellung im Spiegelzelt hatte dazu geführt, dass der Engländer Tom Grennan bereits um Mittag auftrat, anstatt (wie geplant) erst spät am Abend. Irgendwie musste sich das herumgesprochen haben, denn das Zelt war bis auf den letzten Platz mit jungen Fans gefüllt, die den Meister und sein Werk bereits eindrücklich verinnerlicht hatten. Das lag wohl weniger daran, dass Grennan zuvor als Fußballspieler tätig war, als Gastsänger bei Chase & Status agierte oder sich als Straßenmusiker versuchte, bevor er mit seinen EPs für Furore sorgte - sondern daran, dass er via Jools Holland, seine Online-Aktivitäten und nicht zuletzt die BBC-Nachwuchsförderung sogleich ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte und nun - mit Majordeal im Rücken - auf allen Kanälen präsent ist. Grennan hat sich - wie einige Jahre zuvor sein Kollege Paolo Nutini - dem druckvollen Soul-Pop mit sachten Rock-Anleihen und Songwriter-Basis verschrieben; was angesichts seiner Mords-Röhre auch durchaus Sinn macht. Mit seinem soliden Hit "Found What I've Been Looking For" einer abgehangenen Vollprofi-Band und seiner extrovertierten Bühnenperformance im Rücken gelang es Grennan mühelos, das Publikum für sich einzunehmen und zum begeisterten Mitmachen zu bewegen. Das führte dann sogar zu einer der auf Haldern höchst seltenen Zugaben, die Grennan (der ansonsten meist ohne Gitarre singt) solo akustisch zum Besten gab. Dass der Mann trotz des Hypes noch nicht abgehoben ist, zeigte sich daran, dass er - anders als die meisten der Musiker auf dem Festival - nach der Show noch für einen Quatsch mit treuen Fans zur Verfügung stand.

Dazu war auch deshalb Zeit, weil sich der Ablauf nach dem fulminanten Auftakt erst einmal verzögerte. Der Österreicher Voodoo Jürgens und die Seinen steckten noch im Verkehr fest und konnten erst mit dem hastigen Aufbau beginnen, als sie eigentlich schon zehn Minuten auf der Bühne hätten stehen sollen. Die manische Energie, die Frontmann, den seine Mami als David Öllerer kennt, danach entfachte, war allerdings nur bedingt der verkürzten Stagetime geschuldet, sondern gehört bei Voodoo Jürgens schlichtweg zum Programm. In breitem Wiener Dialekt nimmt sich der Sänger, dessen Bühnenoutfit ein wenig so aussieht, als hätte er in den 70er-Jahren mal eine Polyesterfabrik ausgeraubt, mit viel schwarzem Humor und einem Hang fürs Makabere eine Welt zur Brust, die von Verlierern, Tunichtguten und bärbeißigen Romantikern bevölkert ist, während er musikalisch zwischen Schlager-Parodie, Austro-Pop-Hommage und Tom Waits'scher Grandezza hin und her schlingert, wenn er Songs mit aberwitzigen Titeln wie "Heite grob ma Tote aus" singt. "Versteht's ihr mich überhaupt, oder ist das Ganze hier wie ein Eros Ramazotti-Konzert für euch?", fragt er sein Publikum kurz vor Schluss. Denn auch wenn er sich "dahoam" im Umfeld von Wanda tummelt und Der Nino aus Wien oder J. Panik auf seinem Album gastieren, weiß Voodoo doch, dass sein Humor genauso speziell ist wie seine Sprache. Um Haldern im Sturm zu erobern, dafür hat's aber dennoch allemal gereicht.

Als Nächstes stand dann ein Mann auf der Bühne, der in mehrerlei Hinsicht als Veteran gelten darf. Seit 30 Jahren sorgt Wolf Maahn schließlich dafür, dass die deutschsprachige Rockmusik nicht vollkommen untergebuttert wird (wie er es formuliert) und da er auch schon mal auf der Haldern Bühne gestanden hatte, gilt er auch in dieser Beziehung als Veteran. Zusammen mit seiner aktuellen Band präsentierte Maahn ein gut gelauntes, kurzweiliges Set aus neuen Tracks und alten (aber runder neuerten) Gassenhauern, dass dann für seine Verhältnisse - und nicht zuletzt aufgrund des selbstlosen Einsatzes des "unglaublichen Roger Schaffrath", wie Maahn seinen Ausnahmegitarristen nannte - tatsächlich bemerkenswert rockig ausfiel. Dabei präsentierte sich Maahn sympathisch menschlich - inklusive erkältungsbedingter Stimmaussetzer und Texthängern, die er freilich nonchalant überspielte. Das Publikum bei Wolfs Gig war - dem Anlass entsprechend - kurzfristig ein paar Jahrzehnte älter geworden, war aber zum Glück genauso textsicher wie zuvor die jungen Leute bei Tom Grennan.

Ella Walker heißt die junge Dame aus London, die ihr Projekt (nach dem Mädchennamen ihrer Mutter) Wildes nennt. Ella steht noch am Anfang ihrer Karriere, absolvierte im Spiegelzelt ihren ersten Deutschland-Auftritt und hat noch keine wesentlichen Veröffentlichungen vorzuweisen und ist noch auf der Suche nach einem Label. (Einen Longplayer wird es vermutlich erst Ende nächsten Jahres geben.) Diejenigen ihrer Songs, die bislang den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben - wie z.B. die Titel "Illuminate" oder "Bare" -, lassen jedoch erahnen, dass hier eine Art Next Big Thing in den Startlöchern steht. Nicht, dass Ella mit ihrem melancholischen New Wave-Mädchen-Gitarrenpop, den sie hier mit einer kompetenten Indie-All-Star-Band präsentierte, etwas grundsätzlich Neues erfunden hätte - aber was sie machte, machte sie richtig. Im Vorfeld des Auftrittes schwirrten angelesene Referenzen wie Soak oder Daughter durch den Raum - das griffe aber deutlich zu kurz - einfach deswegen, weil Ella ihre Songs absolut glaubwürdig und mit einer eigenen Identität präsentiert - wobei sie sich eben keine konkreten, wohl aber generelle Inspirationsquellen ausgesucht hat (und das auch einräumt). Das führt dann dazu, dass sich ihre Stücke angenehm vertraut anhören; wohl auch deswegen, weil sie sehr gut in unsere Zeit passen. Nach ihrem Auftritt im Spiegelzelt gab Ella im Anschluss noch ein kurzes Solo-Set im Trivago Zelt, bei dem sie dann neben dem Single-Titel noch ein weiteres eigenes Stück präsentierte, das zuvor nicht gespielt worden war. Es sind übrigens Acts wie diese, derentwegen sich ein Besuch des Haldern Festivals immer lohnt - auch wenn die etablierten Acts vielleicht jenseits des persönlichen Geschmackshorizontes liegen mögen.

Auf der Hauptbühne taten derweil Radical Face ihr Bestes, trotz inzwischen strahlendem Sonneschein die Stimmung zu verdüstern. Eine Depri-Nummer nach der anderen spielten Ben Cooper und die Seinen - noch dazu allesamt im Sitzen - und auch die Witze zwischen den Liedern über Psychosen und Selbstmorde sorgten schon bald nicht mehr für die beabsichtigte Heiterkeit im Publikum. Lustiger war da schon, dass die Amerikaner große Pappschilder vor ihr elektronisches Schlagzeug und das elektronische Keyboard geklemmt hatten, auf die ein traditionelles Drumset bzw. ein Klavier aufgemalt waren. Warum der Brille und Vollbart tragende Griesgram Cooper mit seinem ganz sanft elektronisch umspülten Storyteller-Americana für die Hauptbühne gebucht worden war, zeigte sich dann kurz vor Schluss. Sein durch diverse Werbespots und Kinofilme berühmt gewordenes "Welcome Home" sorgte im Publikum für einen so freudetrunkenen Singalong, dass selbst AnnenMayKantereit feuchte Augen bekommen hätten.

Wesentlich zugänglicher danach Nick Waterhouse: Der Retro-Großmeister, der in der Vergangenheit nicht nur für sein - übrigens stilecht in Mono eingespieltes - Meisterwerk "Holly" viel Lob eingeheimst, sondern als Produzent gleich auch noch Seelenverwandte wie die Allah-Las auf den Weg gebracht hat, sorgte mit seiner Melange aus dem Rhythm'n'Blues, Soul und Pop der späten 50er und 60er auf der großen Bühne genauso schnell für gute Laune wie mit seinem lässigen, sonnenbebrillten Charme. Gleich 16 knackig kurze Songs packte er in sein Set, während seine Mitstreiter an Bass, Keyboards, Drums und Gebläse dafür sorgten, dass es eine knappe Stunde lang mal ohne die heute allgegenwärtige Unterstützung aus dem Laptop ging.

Im Spiegelzelt baute derweil Julia Jacklin auf. Kaum eine Musikerin dürfte in diesem Jahr mehr Meilen im Flugzeug verbracht haben als die australische Indie-Folk-Queen. Immer wieder pendelte sie zwischen ihrer Heimat, den USA und Europa. Allein in Deutschland war sie nun bereits zum fünften Mal innerhalb der letzten zehn Monate zu Gast. Entsprechend müde war sie augenscheinlich auch, aber ihr herzhaftes Gähnen beim Line-Check hatte keine negativen Auswirkungen auf ihr Programm. Im Gegenteil: Mit - man verzeihe uns das Wortspiel - schlafwandlerischer Sicherheit und einer schwer in Worte zu fassenden lässigen Abgeklärtheit führt sie ihre erstklassigen Musiker durch die Highlights ihres umwerfenden Debütalbums "Don't Let The Kids Win" und ihre neue Single "Eastwick" und verbindet dabei Indie-Folk-Tugenden mit Alternative Country und dezenter 50er-Jahre-Ästhetik zu einem ganz eigenen Sound. Ein echter Gänsehaut-Auftritt!

Dass Rosa Walton und Jenny Hollingworth eine recht spezielle Art von Humor haben, kann man ja schon an ihrem Projektnamen Let's Eat Grandma ablesen (egal, wie man den nun betonen und auslegen möchte). Das setzte sich dann bei dem Auftritt der beiden Teenager im Halderner Spiegelzelt fort - wo sie einen der überraschendsten, phantasie- und eben humorvollsten Auftritte der letzten Jahre hinlegten. Das begann zunächst mal mit einem abenteuerlichen Sammelsurium von Instrumenten, die nebeneinander auf der Bühne aufgebaut waren: Xylophon, Gitarre, Blockflöte, Mandoline, Saxofon, Laptop und Keyboards aller Art machten zumindest mal neugierig. Als die Damen dann schließlich alles an- und ausgerichtet hatten, begann dann der Auftritt zunächst mal mit einem Abklatschspiel, bevor sich die Mädels hinter ihren Haaren versteckten, die sie im Folgenden für dramatische Headbanger-Gesten einsetzten. Dramatisch war dann auch die Choreographie, die aus wechselseitigem Herumgehampele bzw. Herumrasen auf der Bühne, ständigem Instrumentenwechsel und Fallsucht-Akzenten bestand; wobei sich die Damen während des Vortrages einfach ohne erkennbaren Grund auf den Boden legten - was anderen Ortes schon als Kunst durchgeht. Nicht, dass Rosa und Jenny sich bei all dem als musikalische Virtuosinnen outeten - aber alleine das Bemühen, den Spielzeug-HipHop-Avantgarde-Pop des Debütalbums auf organische Weise mit echten Instrumenten aufwerten zu wollen, ohne auf Samples zurückzugreifen, war den Damen schon hoch anzurechnen. Fast schon beschämend für vergleichbare Acts war dann auch der Umstand, dass Rosa und Jenny hier ein Feuerwerk an Ideen abbrannten, das vollkommen ohne Spezialeffekte einfach durch Phantasie und Originalität überzeugte. Machen könnte so etwas schließlich jeder - käme er (oder sie) denn bloß auf solche Ideen. Das war dann ein weiteres unerwartetes, Überraschungs-Highlight der diesjährigen Haldern-Auflage.

Auf der Hauptbühne standen derweil echte Haldern-Veteranen. The Afghan Whigs waren - wenngleich zugegebenermaßen in vollkommen anderer Besetzung - bereits vor mehr als 20 Jahren zu Gast auf dem Haldern Pop, und Frontmann Greg Dulli war auch mit seinem Projekt The Twilight Singers über die Jahre immer wieder ein gern gesehener Gast hier am Niederrhein. Auch wenn die Amerikaner leider keinerlei Zugeständnisse an das Festival-Setting machten - die schöne Tradition, bei Open Airs eher die Hits zu spielen, ist inzwischen nicht nur bei den Whigs offenbar der nie endenden Promo für die jeweils aktuelle LP zum Opfer gefallen -, war der Auftritt doch mitreißend. Schließlich trifft Dulli auf dem neuen Werk "In Spades" genau die richtige Balance zwischen Wohlklang und Klagelied und brilliert mit seiner ureigenen Melange aus Indierock und althergebrachtem R'n'B. Musikalisch verzichtete er - wie schon bei den Twilight Singers - auch in Haldern des Öfteren auf dreckige Rock-Gitarren und rückte stattdessen warme Keyboards - zumeist von ihm selbst gespielt - und ein einschmeichelndes Cello in den Fokus. Auch eine Hommage an den kürzlich verstorbenen langjährigen Twilight-Singers- und Whigs-Gitarristen Dave Rosser war im Programm: An dessen Lieblingslied "Can Rova" schloss sich nahtlos ein treffender Auszug aus Jeff Buckleys "Last Goodbye" an. Doch auch wenn die neuen Lieder im Mittelpunkt standen - für das ganz, ganz große Finale ging es dann doch zwanzig Jahre zurück. Auf das wie eh und je explosiv groovende "Somethin' Hot" folgte als allerletzte Nummer die epische Ballade "Faded", und auch wenn das Haldern Pop danach mit Bilderbuch und Co. noch seine Fortsetzung fand, können wir mit einiger Gewissheit sagen, dass es keinen perfekteren Schlusspunkt für die 34. Ausgabe des Festivals hätte geben könne. Danke Afghan Whigs, danke Haldern Pop!

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Text: -Ullrich Maurer / Carsten Wohlfeld-

 

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