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05.08.2021
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Es bleibt in der Familie

Joco
Frère

Witten, Festzelt am Saalbau
05.08.2021

Joco
Vermutlich ist der Parkplatz des Saalbau Witten in der Sommer-Spielpause eher ein Ort, an dem die Dorfjugend Sachen macht, von denen sie ihren Eltern lieber nichts erzählt, doch weil aber in Corona-Zeiten alles etwas anders ist, steht dort nun ein Festzelt - die Location für den programmtechnisch bunt gemischten "Kultursommer". Ein Grund zum Aufhorchen ist das nicht zuletzt deshalb, weil an einigen Abenden auch das Veranstalterkollektiv Feine Gesellschaft, das schon seit vielen Jahren in und um Dortmund geschmackssicher Liebhaberkonzerte und mehr auf die Beine stellt, die Finger im Spiel hat. So sind am 12. August Hannes Wittmer, Maria Basel und Tiktaalik am Saalbau zu Gast, und bereits eine Woche vorher gibt es die Gelegenheit, einen der seltenen Auftritte das norddeutschen Indie-Pop-Duos Joco zu erleben - übrigens ungewöhnlicherweise mit Maskenpflicht auch am Sitzplatz, aber Vorsicht ist in Pandemiezeiten natürlich besser als Nachsicht.

Die Aufgabe, das Publikum aufzuwärmen, übernimmt ein Künstler, der fast mit der Straßenbahn hätte anreisen können. Der Bochumer Alexander Körner nennt sich Frère, wenn er auf der Bühne steht, und verwandelt dabei die Tristesse des Alltags, die ihm die Steilvorlage für seine Lieder gibt, in lautmalerische Worte. Nur bewaffnet mit einer Akustikgitarre und seiner Stimme, scheint er mit seinen betont unaufgeregten Indie-Singer/Songwriter-Nummern klanglich bisweilen auf dem Weg von Skandinavien nach Omaha, Nebraska, zu sein, während bei seinen mit ebenso aufreizender Lässigkeit vorgetragenen Geschichten zwischen den Songs eher die typische Vergangenheit eines Ruhrpott-Kindes durchkommt - jugendlicher Leichtsinn und nächtliche Streifzüge durch Witten inklusive. Am Ende des Sets werden gleich zwei Lieder vom lauten Martinshorn-Geheul gestört, als sich offenbar alle Wittener Einsatzkräfte zugleich auf den Weg machen, aber Alex nimmt's locker, spielt ein paar Takte mehr instrumental und findet dann zurück in den Song. Besser zum dezenten (Post-)Folk-Touch des Sets passt es, dass mit schöner Regelmäßigkeit Züge auf ihrem Weg zum nahegelegenen Wittener Hauptbahnhof am Festzelt vorbeirattern, wenngleich es Personenzüge sind und keine Güterzüge, die für Woody Guthrie und Co. einst "Tourbus" und Songmaterial zugleich waren.

Vier Jahre ist es inzwischen her, seit Cosima und Josepha Carl alias Joco ihr letztes Album, "Into The Deep", veröffentlicht und dabei gezeigt haben, dass sich der eher puristische Folk-Pop-Sound ihres 2015er-Erstlings "Horizon" mit viel Fantasie - und der freundlichen Unterstützung einiger Gastmusiker - auch spürbar moderner und opulenter arrangieren lässt, ohne dabei die lieblichen Melodien und den famosen Harmoniegesang zu vernachlässigen, die seit jeher das Markenzeichen der beiden lange in Hamburg heimischen Schwestern ist. Die Zwischenzeit haben die beiden Musikerinnen genutzt, um Chinesisch für eine Tournee durch die Volksrepublik zu lernen (die dann Pandemie-bedingt leider verschoben werden musste) und neue Songs zu schreiben, mit denen sie sich ganz den alten Stärken widmen. Drei davon sind auch in Witten zu hören.

Doch auch wenn Joco auf ihrer letzten Veröffentlichung klanglich mehr in die Breite gegangen sind - auf der Bühne verlassen sie sich auch weiterhin ganz auf die schwesterliche Magie und die verträumte, herbstlich anmutende Melancholie, die viele ihrer Lieder umweht. Mal kombinieren sie Cosimas perlende Pianoläufe mit Josephas dezentem Schlagwerkeinsatz im glitzernden Pop-Format ("City Shore", "Should I Go?"), bisweilen greifen sie aber auch beide zu den Gitarren und interpretieren ihre Lieder im idyllischen Folk-Modus ("Bavaria", "Two Pullovers"), doch im Fokus stehen immer die Stimmen. Gleich der erste Song, "Why Didn't I See", startet mit einem hinreißenden A-cappella-Teil, später im Set ist "Over The Horizon", bei dem die zwei fast vollständig auf instrumentale Begleitung verzichten, der größte Gänsehaut-Moment des gesamten 60-Minuten-Auftritts, und auch bei der ganz nah am Bühnenrand gesungenen Zugabe "Dali", einem der neuen Songs, der von den Werken des spanischen Malers inspiriert wurde, verlassen sich Cosima und Josepha ganz auf die Kraft ihrer Stimmen.

Wie es sich für eine Band mit Majorlabel-Veröffentlichungen, Albumproduktionen im altehrwürdigen Londoner Abbey-Road-Studio und ESC-Vorentscheid-Teilnahme gehört, sind Joco am Ende doch mehr Pop als Indie. Das zeigt sich nicht zuletzt zwischen den Songs, etwa, wenn sie die Beiläufigkeit Frères (der zu seinem Merch nicht mehr gesagt hatte als "Wenn jemand eine Platte will - hab ich!") gegen einen ausführlichen Werbeblock zu den eigenen Devotionalien eintauschen, wenngleich sie immerhin ganz geschickt den Bogen zurück von ihren "Walfreiheit"-Beuteln zu ihrem "Whale Song" finden, der das Design erst inspiriert hatte.

Vielleicht ist es deshalb jetzt genau der richtige Zeitpunkt, die beiden Damen live zu sehen, denn die lange Tourneepause führt dazu, dass die durchgeplante Perfektion, die früheren Auftritten der zwei ein wenig anhaftete, in Witten hier und da durch genau die Art von menschlicher Unvollkommenheit abgelöst wird, die oft mehr in Erinnerung bleibt als technische Makellosigkeit. Das zeigt sich bei "Winter", einem der zwei deutschsprachigen Lieder im Set, bei dem Josepha kurzerhand die erste mit der zweiten Strophe verwechselt, genauso wie bei anderen unbedeutenden Fauxpas, die allein an den Gesichtszügen der Musikerinnen ablesbar sind, und ist auch bei den Ansagen spürbar, bei denen die zwei spontan vom Skript abweichen und sich beim Schlagabtausch auf amüsante Weise kurz gegenseitig aus dem Konzept bringen.

Am Ende eines schönen Konzertabends ist dann alles gesagt, nur eine Frage, die Josepha kurz vor Ende aufwirft, bleibt unbeantwortet: Ist es nur Zufall, dass hier zwei Schwestern und ein Frère (frz. für Bruder) auf der Bühne stehen, oder haben die Booker der Feinen Gesellschaft nicht nur ein feines Näschen für gute Musik, sondern auch noch einen Sinn für die etwas andere Art der Familienzusammenführung?

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Text: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Carsten Wohlfeld-
 

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