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19.05.2022
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Festhalten? Loslassen!

Sophia

Köln, Stadtgarten
19.05.2022

Sophia
Damit hat Robin Proper-Sheppard nicht gerechnet: "Fucking hell, we had changed our clothes and everything!", ruft der Sophia-Frontmann dem Kölner Publikum zu, als er um kurz nach halb elf zurück auf die Bühne des Stadtgartens kommt. Knapp zehn Minuten vorher war ein sehr schönes Sophia-Konzert nach rund zwei Stunden eigentlich zu Ende gegangen, das Saallicht war eingeschaltet worden, die Musik aus der Konserve lief und Soundmann Jan Löwenhaupt hatte begonnen, die Kabel aus dem Mischpult auszustöpseln. Das Publikum allerdings weigerte sich schlichtweg, den Saal zu verlassen, und veranstaltete ein Spektakel, das man weder an einem Donnerstagabend noch von Menschen in den besten Jahren ernsthaft erwarten darf. Am Ende kommt die Band dann tatsächlich noch einmal zurück auf die Bühne und spielt zwei weitere Songs. "Holy shit! That's a REAL fucking encore! That's not: Oh, let's walk off stage and come back!", sagt Robin sichtlich überrascht. So wahnsinnig verwunderlich ist die Reaktion der Zuschauer allerdings nicht, denn mit großem Besteck, Saxofonist und Violinist inklusive, haben Sophia vom ersten Ton an alte wie neue Lieder mit noch mehr Verve und Dynamik präsentiert als bei den Konzerten zum letzten Album, "As We Make Our Way (Unknown Harbours)".

Im Mittelpunkt des pandemiebedingt gleich mehrfach verschobenen Konzerts steht - natürlich - die aktuelle LP "Holding On / Letting Go", die die innere Zerrissenheit, die im Werk von Sophia seit inzwischen 25 Jahren immer wieder eine zentrale Rolle spielt, gleich im Titel der Platte aufgreift. Dennoch wird in Köln schon nach dem Einstieg mit "Strange Attractor" und "Undone. Again." klar, dass der inzwischen in Berlin heimische Amerikaner mehr im Sinn hat, als sich an über die Jahre liebgewonnenen Markenzeichen entlangzuhangeln - ein Eindruck, den das lange Saxofonsolo mit 80s-Pop-Touch am Ende von "Alive" noch einmal verstärkt. Die neuen Lieder kommen kurz und präzise auf den Punkt, glänzen mit melancholischer Geradlinigkeit und drehen sich nun nicht mehr allein um Robins Gefühlsleben. Klanglich erhalten Synthesizer und Keyboards mehr Gewicht und sorgen dafür, dass Indie-Pop, New Wave, Post-Punk und ein Hauch von Prog-Rock-Experimentalismus die Dramatik der Songs perfekt akzentuieren, bis "We See You (Taking Aim) das herrlich wüste Ende bilden soll, wäre da nicht der unerwartete Extra-Nachschlag mit "Ship In The Sand" und "Oh My Love".

An seiner Seite hat Robin auf dieser Tournee mit Gitarrist Jesse Maes, Bassist Sander Verstraete und Multiinstrumentalist Bert Vliegen den Kern der Besetzung, die ihn schon auf der Gastspielreise zum letzten Album begleitete. Obwohl die Musiker in puncto Subtilität nicht ganz an Robins langjährige Mitstreiter Will Foster, Adam Franklin und Jeff Townsin (dessen seelenvoller Groove besonders bei einigen der älteren Songs in Köln spürbar fehlt) heranreichen, gelingt es ihnen inzwischen durchaus erfolgreich, den Liedern ihren Stempel aufzudrücken. Der Sound tendiert, gerade bei episch ausufernden Klassikern wie "I Left You" oder "Desert Song No.2", nun deutlich stärker zu den Extremen, denn statt besonderen Wert auf Nuancen oder Transparenz zu legen, stürzt sich die Band lieber kopfüber in die Gegensätze aus laut und leise, Licht und Schatten und findet so ihre eigene Identität. Ganz besonders beeindruckend gelingt das bei "Bastards", dessen Ende wohl noch nie aufbrausender war, noch nie aufwühlender klang. Das merkt wohl auch Robin, denn anstatt wie eigentlich vorgesehen nahtlos mit dem ähnlich intensiven "The River Song" weiterzumachen, hievt er kurzfristig noch "Resisting" ins Set, das zwar nicht weniger wuchtig daherkommt, aber dennoch deutlich weniger niederschmetternd klingt.

Dass sich der auf der Bühne nun spürbar gelassener wirkende Sophia-Vordenker mit einigen seiner neuen Songs Themen jenseits des eigenen Gefühlslebens widmet, scheint sich auch auf sein Verhältnis zu seinen alten Liedern niedergeschlagen zu haben. Denn wenn er früher Songs wie "So Slow", "Directionless" oder "If Only" gesungen hat, schien der Schmerz, der damals erst zu den Liedern (und der Formation von Sophia) geführt hatte, sofort wieder gegenwärtig zu sein, an diesem Abend dagegen klingen sie - von "Bastards" vielleicht einmal abgesehen - eher wie feierliche Rückblicke auf einen Lebensabschnitt, der nun endgültig hinter ihm liegt. Auch wenn die aktuelle LP "Holding On / Letting Go" heißt - in Köln wirkt Robin wie einer, der gelernt hat loszulassen.

Surfempfehlung:
www.sophiamusic.net
www.facebook.com/thesophiacollective
twitter.com/thisissophia
sophia.bandcamp.com

Text: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Ullrich Maurer-
 

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