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07.06.2022
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Der Kern der Dinge

Sharon Van Etten

Hamburg, Mojo Club
07.06.2022

Sharon Van Etten
Stellt euch vor, Sharon Van Etten kommt in die Stadt und niemand geht hin. Es bisschen fühlt es sich an diesem Dienstagabend leider so an, denn obwohl der Auftritt der amerikanischen Indie-Folk-Lichtgestalt vorsorglich aus der Markthalle in den kleineren Mojo Club verlegt worden ist, bleibt trotz einer abgesperrten Empore auch unten vor der Bühne noch reichlich Bewegungsfreiheit. Offenbar ist die Kombination aus wenig Promo für das just veröffentlichte Album "We've Been Going About This All Wrong", Pfingsten und den zeitgleich in der Hansestadt stattfindenden Auftritten von Snail Mail, Special Interest und Patti Smith dann doch etwas zu viel des (Un-)Guten. All diejenigen, die dennoch den Weg zur Reeperbahn gefunden haben, werden allerdings reich belohnt. Wie schon die neue LP unterstreicht auch das Konzert eindrucksvoll, dass die nun in Los Angeles heimische 41-jährige Musikerin die Phase des künstlerischen Übergangs inzwischen hinter sich gelassen hat, die bei ihrem letzten Album, "Remind Me Tomorrow", und der anschießenden Tournee im Jahre 2019 für bisweilen zwiespältige Gefühle gesorgt hatte.

Auch wenn es eigentlich anders geplant war: Der Mojo Club mit seiner Leucht-Wand aus Glühbirnen als Bühnenbackdrop illuminiert an diesem Abend perfekt das neue Ich der Sharon Van Etten, die sich als Pop-Star mit dunkler Seele inzwischen spürbar wohler fühlt als auf Indie-Singer/Songwriter-Terrain. Hatte sie auf "Remind Me Tomorrow" mit dem Wunsch nach künstlerischer Erneuerung, ihrer Abkehr von alten Tugenden um jeden Preis, noch etwas übertrieben und war bisweilen über das Ziel hinausgeschossen, hat man beim Gastspiel in Hamburg vom ersten Ton an das Gefühl, dass Van Etten nun zumindest klanglich weniger hart mit ihrer eigenen Vergangenheit ins Gericht geht - und das, obwohl sie auf Songs ihrer ersten vier Platten fast gänzlich verzichtet und sich ganz auf die Lieder der letzten beiden Werke konzentriert, dabei aber performerisch genau den Sweetspot zwischen kühler Perfektion und packender, rauer Naturbelassenheit trifft und so den emotionalen Kern ihrer Lieder offenlegt.

Ohne Scheu vor großen Gesten - herrlich, wie sie bei "Comeback Kid" die Schattenboxerin gibt - und bisweilen mit cineastischem Glanz setzt Van Etten hier auf betont abwechslungsreiche und vielschichtige Lieder, bei denen die Retro-Synths und die düsteren Beats des Vorgängeralbums genauso Platz haben wie Rückbezüge auf die von der Gitarre getragene Indie-Folk-Intimität ihrer genreprägenden frühen Werke. So zieht sie auch ohne zuvor kaum wegzudenkende Lieder wie "Serpents" oder "Love More" allein mit Songs neueren Datums wie dem tanzbaren Ohrwurm "Mistakes", dem dramatisch brodelnden "I'll Try" oder dem leisen "Darkish" (das Van Etten praktisch solo auf der Akustikgitarre spielt) alle Register. Auch gesanglich ist diese kosmische Dynamik allgegenwärtig, wenn sie mit ihrer seelenvollen Stimme von einem leisen Flüstern bis hin zum hoffnungslosen Schrei die gesamte Gefühlspalette abdeckt und so der niederschmetternden Dunkelheit den Kampf ansagt, die sich wie ein roter Faden durch die neue Platte und die Setlist des Abends zieht. Auch wenn sanfte Melancholie viel der Lieder umschließt: Aufgeben, das ist die klare Botschaft, ist keine Option.

Auch ihre Band wirkt wie verwandelt, obwohl es sich mit Ausnahme von Multiinstrumentalistin Heather Woods Broderick um die gleichen Begleiter handelt wie schon auf der letzten Tournee. Wirkten sie damals statisch, ja, fast ein wenig gelangweilt, ist die Spielfreude nun geradezu greifbar, wenn Van Etten unablässig über die Bühne tigert und immer wieder lachend Kontakt zu ihren Musikern sucht, bevor das inzwischen live zu einer echten Hymne gereifte "Seventeen" das Mainset beschließt und das als heitere Uptempo-Nummer neugestaltete "Every Time The Sun Comes Up" als Zugabe die Zuschauer nach rund 90 Minuten glücklich in die Nacht entlässt. Empathisch, tröstend, fesselnd - dieser Auftritt ist all das!

Surfempfehlung:
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Text: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Laurence Buisson-
 

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