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21.09.2022
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Kontinuität

Reeperbahn Festival 2022 - 1. Teil

Hamburg, Reeperbahn
21.09.2022

Lime Garden
Das Reeperbahn Festival hatte ja bisher das Glück auf seiner Seite, auch in den vergangenen zwei Pandemie-Jahren ein Programm anbieten zu können - wenn auch in reduzierter Form und manchmal auch mit Organisations-Problemen. Die 17. Ausgabe sollte dann die erste ohne Einschränkungen sein und viele, viele Menschen sind der Einladung gefolgt und konnten sich wieder vier Tage lang in volle Clubs drängeln und sich aus den rund 400 Konzerten die geplanten und spontanen aussuchen und so vielleicht zu einer neuen Lieblings-Band finden.

Wie üblich fing das Musikprogramm "schleichend" an, indem beim N-JOY Reeperbus kurzfristig (bzw. gar nicht) angesagte Acts jeweils drei Songs aus ihrem Programm als Teaser für das Laufpublikum im öffentlich zugänglichen Teil des Spielbudenplatzes (für den es keine Eintrittsbändchen braucht) präsentierten. Noch bevor also das Schaulaufen zur mittlerweile zur Institution gewordenen, aber zunehmend elitärer ausgelegten Opening Zeremonie begann, bei der ein paar geladene Gäste aus Musik (wie etwa Sebastian Krumbiegel) und Business (wie Karsten Jahnke oder Alex Schulz) der Presse präsentiert wurden, während alle wesentlichen Beteiligten auf der Fast-Lane hinter den Kameras vorbeigeschleust wurden, gab es so etwa einen Überraschungsbesuch von Lola Marsh beim inzwischen mit einer ordentlichen Bühne ausgebauten, dann aber auch zum Publikum hin abgesperrten N-JOY-Bus. Gil Landau und Shoshana Cohen präsentierten sich betont gut gelaunt dem zu diesem Zeitpunkt noch überschaubaren Publikum und nutzten den Auftritt geschickt als Werbeauftritt für ihren am folgenden Tag stattfindenden Gig im Grünspan. Dabei präsentierten sie im Akustik-Gewand dann auch gleich neue Songs wie die aktuelle Single-Nummer "Satellite" des kommenden Albums "Kiss Kiss Cherry". "Grünspan hört sich interessant an", meinte Shoshana, "wie etwas zu essen - vielleicht eine gesunde Gemüsesuppe?" Wenn die Gute wüsste...

Noch ohne neue LP, aber zumindest mit dem neuem Material ihrer gerade erschienenen Debüt-EP "Sharks" präsentierte sich im Anschluss die Songwriterin Lina Brockhoff, aus der in den letzten Monaten die Bandleaderin ihrer Power-Pop-Combo Brockhoff geworden ist. Beim N-JOY-Bus gab es einen akustischen Vorgeschmack im Band-Gewand für die insgesamt drei Gigs, die Lina und ihre Musiker(inn)en insgesamt auf dem Festival spielen sollten und dabei ganz ordentlich losrockten. Kaum zu glauben, dass die Gute in ihrer ersten Musikinkarnation als Solo-Songwriterin mit klassischen Flüster-Songs gestartet war.

Flüsternd war auch dann auch zunächst der Gesang von Ryan Smith der englischen Band bdrmm (zumindest je nach Windrichtung) vor der Fritz-Kola Bühne auf dem Festival Village zu vernehmen - das ist natürlich immer die Schwierigkeit, den Sound bei einem Open Air-Auftritt ordentlich für alle Anwesenden abzumischen und es dauerte dann auch ein paar Songs, bis man mehr verstehen und hören konnte als den Wall Of Sound. Die Band hatte aber anscheinend dort hoch oben auf dem Bus eine gute Zeit, spielte sich wie immer in einen Rausch und ging voll auf in ihren Shoegaze-, Post-Rock-Songs. Schöner entspannter Auftritt am Nachmittag. Am späten Abend konnte man bdrmm dann auch nochmal im Nochtspeicher erleben.

Immer noch im Free-Bereich des Festivals - jedoch nun auf der Spielbude XL - ging das Programm dann weiter mit einer Show der Songwriterin Elena Steri. Die Frau mit den deutsch/italienischen Roots präsentierte ihre musikalisch enorm vielseitig und breit gefächert aufgestellten Selbstfindungs-, Coming Of Age- und vor allen Dingen Empowerment-Songs mit einer kleinen Band auf der großen Bühne und bewarb damit indirekt auch ihre in Kürze erscheinende Debüt LP "Soft Trigger". Dabei zeigte sie eine recht körperbetonten Performance mit Dance-Moves, die selbst Kenner in diesem Zusammenhang wohl kaum erwartet haben dürften.

Mit dem Club-Programm ging es dann los im Uwe-Club (dem ehemaligen Kukuun) mit dem Auftritt von Public Display Of Affection. Das Bandprojekt von Jesper Munk, Madeleine Rose, Lewis Lloyd und Anton Remy (allesamt auch mit eigenen Projekten in der Berliner Szene tätig) mag zwar vordergründig nicht auf der Hand gelegen haben, hat sich aber inzwischen als eines der heißesten Bandprojekte - insbesondere auf der Bühne - überhaupt erwiesen. Das liegt vor allen Dingen an der unglaublichen Bühnenpräsenz der hyperaktiven Frontfrau Madeleine Rose auf der einen Seite und der Banddynamik auf der anderen, denn alle Beteiligten bringen ihre musikalischen Vorlieben aus den Bereichen Postpunk, Kaputnik Blues, Psychedelia und Indie-Rock paritätisch ein - so auch im Uwe-Club, wo das verdutzte Publikum aber aufgrund des frühen Timeslots noch nicht so richtig aufgewacht zu sein schien. Nun: Nach der Show waren dann alle hellwach.

Von East Yorkshire ins Hamburger Drafthouse - diesen Weg hat die sechsköpfige Band Low Hummer aus England sicherlich gerne auf sich genommen und fühlte sich offensichtlich sehr wohl dort auf der Bühne, denn ohne große Hemmungen ging es direkt los mit ihren Indie-Rock-Pop-Songs mit Synthie-Einsatz - und vor allem bissigen Texten und Alltags-Beobachtungen, präsentiert je nach Song von Dan Mawer und/oder Aimee Duncan.

In der Nochtwache - dem kleinen Bruder des größeren Nochtspeichers - hatte derweil die italienische Delegation zum Showcase "La Festa" eingeladen. Dort spiele dann die italienische Musikerin Constanza Delle Rose unter ihrem Solo-Moniker Koko mit ihrer Band ein Konzert, das wohl stark inspiriert ist vom 80er Jahre Dreampop- und Shoegaze-Sound britischer Bands. Verwunderlich war das nicht, denn als Bassistin der Band Be Forest hat sich Constanza ja in dieser Hinsicht schon tüchtig ausgetobt. Übrigens als Bassistin und Sängerin - wie auch bei ihrem im direkten Vergleich mit Be Forest psychedelischer und songorientierter ausgerichteten neuen Projekt Koko. Und etwas freundlicher dreinschauen hätte Koko schon dürfen...

Während Low Hummer aus East Yorkshire stammen, kommen The Goa Express aus West Yorkshire - und hinterließen einen sehr guten Eindruck im Molotow Club. Kein Wunder, denn ihr lauter, energischer Indie-Garagen-Rock setzt sich sofort im Gehör fest, Sänger/Gitarrist James Douglas Clarke besitzt jetzt schon eine große Bühnen-Präsenz und mit einer 12-saitigen Gitarre zu solcher Musik zu spielen/schrammeln, sieht und hört man ja auch nicht alle Tage.

Nicht ganz so brutal und offensiv ging es im Folgenden bei dem Londoner Trio Honeyglaze zu. Eigentlich hatte die Songwriterin Anouska Sokolow ja nur nach Begleitmusikern gesucht, um ihre feinsinnigen Selbstfindungssongs in einem fülligeren Ambiente als dem zu erwartenden Songwriter-Setting vortragen zu können. Als sie indes auf den Bassisten Tim Curtis und den Drummer Yuri Shibuchi traf, stimmte die Chemie sogleich - sodass aus dem Songwriter-Projekt Anouskas ganz schnell die Band Honeyglaze wurde. Und dass es sich dabei um eine echte Band handelte, machte das Trio auch in Hamburg deutlich, als sich die trotz des melancholischen Tenors vieler Honeyglaze-Songs gut aufgelegten Musiker gleich zu Beginn der Show deutlich rockiger und spielfreudiger zeigten, als auf dem vielleicht etwas zu kontrolliert produzierten Debütalbum.

War ein paar Tage zuvor bei ihrem Gig in Köln nur eine überschaubare Menge von Leuten anwesend, drängelten sich schon früh viele Menschen in den Molotow Club, um The Mysterines live erleben zu können. Es hat sich dann wohl schon herumgesprochen, dass Lia Metcalfe, Callum Thompson, George Favager und Paul Crilly erstklassige Songs aus der Stoner-Rock-, Grunge-, Indie- und Post-Punk-Ecke abliefern, und das ohne großes Brimborium, ohne große Gesten oder seltsames Gehabe auf der Bühne. Hier geht es allein um die Musik und die (teils düsteren) Inhalte. Schön, dass man The Mysterines in so einem passenden Ambiente wie dem Molotow Club noch erleben konnte.

Im Drafthouse trat dann eine der wenigen australischen Künstlerinnen auf, die es in diesem Jahr nach Hamburg geschafft hatten. Harriette Pillbeam, die für ihr Solo-Projekt unter ihrem Spitznamen Hatchie reüssiert, legte mit ihrer Band eine überraschend rockige Show hin. Überraschend war das deswegen, weil sich Hatchie auf ihren bislang zwei Solo-LPs konsequent in eine psychedelische Dreampop-Richtung hin entwickelt hatte - was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass Hatchie nicht als Gitarristin, sondern als Bassistin agiert. Sei es drum: Die Show im Drafthouse war druckvoll und mitreißend. Schon alleine wegen der dramatischen Light-Show und den wohl überlegten Rock-Gesten Hatchies vergaß man recht schnell, dass da eigentlich eine Pop-Künstlerin auf der Bühne stand.

Für einen gelungenen Abschluss des ersten Festival Tages sorgte anschließend das Quartett Lime Garden. Die vier Damen aus dem immer noch sehr produktiven Küstenort Brighton waren auch für den Anchor Award nominiert - hatten allerdings schon alleine deswegen wenig Chancen, diesen auch zu gewinnen, weil sie sich überhaupt nicht für einen bestimmten Stil entschieden haben, und einfach alles, was ihnen gefällt, in ihre Songs einfließen lassen - und zwar meistens alles gleichzeitig. Auf einer soliden Rockbasis wurden hier Psychedelia, Shoegaze, Prog, Girlie-. Dream- und Brit-Pop, Postpunk, Beat-Musik, Disco-Grooves und Power-Pop durch die Mangel gedreht, dass es eine reine Freude war (außer vielleicht für jemanden, der sich für etwas entscheiden muss, wie die Anchor-Jury). Da zudem jede der vier beteiligten Musikerinnen einen eigenen, modischen Präsentationsstil hat, gab es da unendlich viel zu entdecken. Lime Garden stehen zwar noch am Anfang ihrer Karriere - das diese aber eine steile Laufbahn nehmen wird, steht trotz des zur Schau gestellten Eklektizismus zu erwarten.

Weiter zum 2. Teil...

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Text: -Ullrich Maurer / David Bluhm-
Foto: -Ullrich Maurer-
 

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