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18.09.2024
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Offenheit

Reeperbahn Festival 2024 - 1. Teil

Hamburg, Reeperbahn
18.09.2024

Night Tapes
Im September, wenn man die wenigen letzten warmen Tage des Jahres erwarten kann (zumindest tagsüber), steht natürlich auch wieder das Reeperbahn Festival auf dem Plan vieler Leute - neben dem Fachpublikum, das sich in zig Diskussionsrunden u.a. den Themen KI, Rettung der Grassroots Kultur, Diversität und Nachhaltigkeit widmet, kam natürlich auch wieder das Konzert-Publikum in den Genuss vieler, vieler Live-Shows und wie immer bietet das Reeperbahn Festival einen Mix aus bekannten und unbekannten Bands.

Was in diesem Jahr sofort auffiel, war der Umstand, dass es ein erweitertes Angebot für Besucher ohne Festival-Tickets gab. Der Zugang zu den Open-Air-Bühnen des Festivals war auch ohne Einlasskontrolle wie in den Clubs möglich. Neben der Spielbude und dem N-Joy-Bus auf dem Spielbudenplatz gehörten dazu auch die Akustik-Bühne, der MOPO-Bus, der nun auch mit einer ordentlichen Bühne aufwartete und natürlich auch der Fritz-Kola-Bus im Festival Village.

Das offizielle Konzertprogramm begann dann auch mit einem Auftritt der österreichischen Band Oh Alien auf dem Kola-Bus. Anselma Schneider und ihre Jungs haben sich eine Art mystisch angereicherter Empowerment- und Selbstfindungs-Art-Pop mit Trip-Hop-Elementen und Soul-Andeutungen auf die musikalischen Fahnen geschrieben und präsentierten Material ihrer vor kurzem erschienenen Debüt-LP "What We Grow". Obwohl sie dabei durchaus eine gute Figur machten, hatten die Wiener Musiker allerdings mit den üblichen Problemen der Fritz-Kola-Bühne zu kämpfen. Aufgrund dessen, dass die "Bühne" des Busses sich über dem darunter befindlichen Kola-Kiosk befindet, sind die Musiker von unten nur etwa bis zur Brusthöhe zu sehen - der Rest wird von dem Sicherheitsgitter verdeckt. Zusätzlich sorgte eine Kunstnebelmaschine für Vernebelung. Außerdem war der Bus erneut so platziert, dass er fast den ganzen Tag der Sonne zugewandt war, so dass die Musiker schon aus Notwehr Sonnenbrillen tragen oder die Augen zusammenkneifen mussten. Dass das auch anders geht, war in den letzten Jahren zu beobachten gewesen, als der Bus etwa in der ersten Pandemie-Ausgabe mit dem Rücken zur Sonne aufgestellt worden war oder indem gegenüberliegende Terrassen auf Containern zumindest einigen Fans den Blick mit Augenhöhe auf die Musiker ermöglicht hatten.

Beim N-Joy-Bus ging es mit dem Free-Programm weiter mit einem Auftritt der luxemburgischen Indie-Künstlerin C'est Karma, die mit richtigem Namen Karma Catena heißt und vor kurzem ihre Debüt-LP "How To Peel An Orange" veröffentlicht hat, auf der sie in einem weitestgehend elektronisch ausgelegten Indie-Pop-Setting ihre Attitüde aus ihrer Sturm-und-Drang-Zeit in einer Punk-Band einfließen lässt und ihre familiären Roots als Tochter einer luxemburgischen Mutter und eines italienisch/portugiesischen Vaters multilingual einbindet. Das kurze Set beim N-Joy-Bus vermittelte einen ungefähren Eindruck davon, wie sich C'est Karma auf der Bühne präsentiert (recht dramatisch, mit weit ausholenden Gesten, nämlich) - litt aber hörbar unter dem Umstand, dass sich Karma ausrechnet zum Reeperbahn Festival eine Erkältung eingefangen hatte und demzufolge ziemlich heiser klang.

Auf der Spielbude XXL präsentierte danach die nicht binäre die Münchener Musikerin Seda mit Band ein bemerkenswert effektives Programm aus R'n'B- und Soul-Pop-Tracks. Seda hat - zumindest für ein Sommerprogramm - am Berklee College reingeschnuppert und eine Ausbildung als Sound-Engineer absolviert, die dazu führte, dass Seda die eigenen Tracks auch selber produziert. Eine bemerkenswert sympathische Bühnenpräsenz, erstklassiges Songmaterial und vor allen Dingen ein angenehm unaffektierter Soul-Gesang ohne die insbesondere in den USA bei dieser Art von Musik üblichen Manierismen sorgten für ein sehr kurzweiliges Konzerterlebnis als Einstimmung auf das abendliche Club-Programm. Das auch deswegen, weil es hier um die poppigen Aspekte der Songs, und nicht um das Abhaken von Genre-Klischees ging.

Das diesjährige Reeperbahn Festival wird für den Molotow Club das letzte am aktuellen Standort (Nobistor) sein - denn zum Jahreswechsel steht ein Umzug ein paar Meter weiter auf dem Programm. Doch bevor es soweit ist, gibt es natürlich ein volles Programm an allen vier Tagen. Mit dabei ist auch Molly Payton, ursprünglich aus Neuseeland, jetzt in London lebend. Normalerweise tritt sie mit ihrer Band auf, in der Molotow SkyBar allerdings war sie solo (mit Gitarre) zu erleben, was aber kein Nachteil war, denn so kam ihre tolle Stimme noch besser zur Geltung. Musikalisch irgendwo zwischen Singer/Songwriter, Dream- und Indie-Pop beheimatet, singt Molly durchaus über recht traurige Themen (Break-Up, Sehnsucht, etc.) - bleibt dabei aber trotzdem locker und sehr unterhaltsam (sie selbst musste sich lachend eingestehen, einen Rookie-Fehler gemacht zu haben, indem sie sich nämlich ihr Festival-Bändchen an der rechten Hand hat anlegen lassen - was dann natürlich beim Gitarren-Spiel etwas hinderlich ist).

Im Sommersalon etwa läutete die Hamburger Songwriterin und Plätzchenbäckerin Brosie den Abend ein, indem sie mit ihren mitgebrachten Fans eine solide Party in Sachen international kompatiblem Empowerment-Power-Pop feierte. Dabei bediente die Gute souverän so ziemlich alle Erwartungshaltungen, die sich Fans von Mainstream-Genre-Queens wie Avril Lavigne, Olivia Rodrigo, Holly Humberstone & Co. überhaupt nur ausmalen könnten. Das das Ganze bislang auf Kosten einer bislang nicht erkennbaren, spezifischen Brosie-Identität geht, schien niemanden zu stören. Mit Tracks wie "Green Park" oder "Peter Pan Complex" wäre Brosie in den USA oder einer besseren Welt aber sowieso schon in den Charts und da sie mit der Veröffentlichung ihrer Debüt EP "Waiting To Be Discovered" ja auch noch am Anfang ihrer Karriere steht, gibt es diesbezüglich ja auch noch Hoffnung.

Der Molotow Club war sehr voll als das Trio Mary In The Junkyard aus England auf der Bühne ihren Art-/Indie-Rock präsentierten - anscheinend ist der Band (Clari Freeman-Taylor an Gesang, Gitarre, Saya Barbaglia an Bass und Geige, David Addison am Schlagzeug) einiges an gutem Ruf vorausgeeilt. Das ist durchaus nachzuvollziehen, aber auch nicht hunderprozentig, denn die Songs plätscherten ohne große Höhen und Tiefen vor sich hin. Muss ja nicht immer alles allen gefallen.

Als nächstes fand dann Mina Richman mit ihrer Band den Weg in den Sommersalon. Die Bielefelder Songwriterin hatte im letzten Jahr auf dem Reeperbahn Festival sozusagen ihren Einstand gegeben - das allerdings zu mitternächtlicher Zeit im weit abgelegenen Grünen Jäger - was dazu geführt hatte, dass sie quasi unter Ausschluss der Festival-Öffentlichkeit vor fast leerem Haus aufspielen hatte müssen. Ihre Befürchtung, dass nun wieder kaum jemand den Weg zu ihrer Show finden würde, erwies sich als unbegründet. Denn nicht nur hat Mina inzwischen ihre brillante Debüt-LP "Growing Up" veröffentlicht, sondern sich mit ihren Musikern durch unermüdliche Ochsentouren auch als einer der schlicht besten Live-Acts aus unseren Breiten etabliert. Demzufolge konnte sie es sich dann auch erlauben, die zahlreichen interessierten Fans nicht nur mit ihren Signature-Songs wie "Something To Rely On" oder "Baba Said", sondern auch mit neuen Songs wie "Weak Man" oder "Take Me Home" zu konfrontieren und den Sommersalon in eine solide Partyzone zu verwandeln.

Im Grünspan gab es dann eine Headliner-Show des in der britischen Heimat bereits sehr angesagten Wasia Project zu bestaunen. Der Begriff "Wasia" bezieht sich dabei darauf, dass das britische Geschwisterpaar Olivia Hardy und William Gao sich konzeptionell auf ihre westlich/asiatischen kulturellen Roots bezieht. Musikalisch wirkt sich dieser Umstand nicht so stark aus, denn das klassisch ausgebildete Duo führt in seiner Musik nicht etwa Folklore und Pop zusammen, sondern klassisch komponiertes, jazziges Songmaterial im Stile des American Songbook, coolen britischen Indie-Pop, je eine Prise Elektronica und Psychedelia und opulente, orchestrale Arrangements zu einem teils monumentalen Larger-Than-Live-Mix zusammen, den man so auch noch nicht gehört hat. Bei der Show im Grünspan spielten Olivia und Will mit einer tighten Band inklusive Saxophon auf und präsentierten sich mit einer cool durchgestylten Bühnendramaturgie druckvoller und geradliniger als auf der vor Kurzem erschienenen EP "Isotope". Eben weil Wasia Project so ganz anders klingen als andere, dabei eine beachtliche Kompetenz an den Tag legen - und weil sie mit Anfang 20 noch ausgesprochen jung sind -, braucht es nicht viel Phantasie dem Duo eine solide Karriere vorauszusagen.

Aus dem englischen Nottingham haben Divorce den Weg in den Molotow Backyard gefunden und nachdem man schon im ausgiebigen Soundcheck einiges an Vorahnung auf den kommenden Auftritt erhaschen konnte, konnte ihr Mix aus Indie-Rock, Alt-Country und Pop garantiert für gute Laune und Begeisterung sorgen. Lockere Atmosphäre, tolle Melodien, viele technische Spielereien seitens des Gitarristen und das großartige "Checking Out" zum Schluss. Das sorgte für Bewegung - was auch aufgrund der nun fallenden Temperaturen nötig war.

In der seit dem letzten Jahr eingemeindeten Spielstätte Chikago gab es mit einer Präsentation estonischer Acts einen ersten Länder-Showcase-Abend zu vermelden. Als letzter Acts des Line-Ups präsentierte sich die Londoner Band Night Tapes, die mit ihrer estonischen Frontsirene Iiris Vesik einen quirligen, hyperaktiven Wirbelwind als besonderes Asset vorzuweisen hat. Die Musik von Night Tapes auf ein einziges Genre eingrenzen zu wollen, funktioniert nicht so recht, da sich die Band offenbar nicht zwischen Gitarrenrock, Elektronika und Club-Pop entscheiden will - sondern alles miteinander verquickt. Am ehesten erinnert das dann noch an die diesbezüglichen Bemühungen der kanadischen Band Metric, die ja nach einem ähnlichen Prinzip verfährt - wobei die mädchenhafte Hochtonstimme von Iiris dann schon ein Alleinstellungsmerkmal darstellte. Im Live-Kontext kommt die Sache etwas edgier und rockiger rüber als zum Beispiel auf der aktuellen EP "Assisted Memories". Night Tapes bieten aufgrund der expressiven Präsentation von Iiris eine bemerkenswert kurzweilige Live-Show. Auf die Frage, ob Iiris während des Vortragen tatsächlich so wütend agiert, wie das ihre Grimassen zuweilen vermuten ließe, antwortet sie: "Ja - das hilft ungemein."

Weniger wütend als außergewöhnlich präsentierte sich abschließend die portugiesische Musikerin Ana Lua Caiano, die in ihrer Musik und ihrer Performance mit klassischen Fado-Traditionen agiert, dabei allerdings auf Revolutions-Lieder der portugiesischen Armee aus den 70ern zurückgreift, diese aber mit feministischen Empowerment-Akzenten unterlegt. Dabei verwendet die ausgebildete Jazzerin Ana Lua auf der einen Seite traditionelle folkloristische Instrumente - auf der anderen Seite allerdings auch eine Loop-Station, mittels derer sie sich rhythmische, clubtaugliche Sample-Backings aufbaut und den so entstehenden Mix mit Gesang und mit harscher, scharfkantiger Elektronica zu einer wirklich einzigartigen Klangmelange fusioniert. Ihr Glitterbeat-Debüt "Vou Ficar Neste Quadrado" ("Ich werde auf diesem Platz bleiben") bildete demzufolge nur eine Art Basis für die expressive, teils improvisierte One-Woman-Show im Imperial Theater, bei der es Ana Lua mühelos gelang, das Publikum mit einzubinden und im Bann zu halten - im wesentlichen ohne die portugiesischen Lyrics ausführlich zu erklären. Soviel zur Kraft der Musik als universelles Kommunikationsmittel. Sicherlich selten in der Geschichte des Reeperbahn Festivals standen um 1 Uhr Nachts demzufolge so viele Fans an, um sich Tonträger signieren zu lassen.

Zeitgleich durfte man sich im (leider etwas abgelegenen) Nochtspeicher über den Auftritt von gglum freuen - hinter diesem etwas kuriosen Bandnamen steckt vor allem die Londoner Songwriterin Ella Smoker, deren Musik sich im Gegensatz zum Namen (glum = düster, betrübt) gar nicht so anfühlt. Im Gegenteil - Ella präsentierte mit ihrer Band (Bass/Synthie, Drums, Gitarre) genau wie auf ihrer Platte einen vielseitigen, teils unberechenbaren Mix aus Indie-Rock und Indie-Pop. Dabei wird auch nicht vor dem Einsatz von elektronischer Unterstützung gescheut, um einen sehr groß wirkenden Sound und Selbstbewusstsein zu erzeugen - und das alles auf Basis von Songs, die - wie sie selbst sagt - oft in ihrem Zimmer in Croydon ("a really shit city") entstanden sind und sich inzwischen sogar in TV Shows wiederfinden (der Song "Navy" in der Netflix-Serie "Elite"). Zu schade, dass dieser Gig nicht z.B. im Molotow stattgefunden hat, denn gglum hätten auf jeden Fall mehr Publikum verdient.

Weiter zum 2. Teil...

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Text: -Ullrich Maurer / David Bluhm-
Foto: -Ullrich Maurer-
 

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