Calexico hingegen feierten im letzten Jahr das 20-jährige Bestehen ihres Albums "Feast Of Wire", das sie bei der gleichnamigen Tour fast komplett darboten. Neun Songs daraus haben Joey Burns (Gesang, Akustik- und E-Gitarre) und John Convertino (Schlagzeug) an diesem Abend im Programm belassen. Dreivierteltakt-Seligkeit im "Sunken Waltz", das bedrohlich-dösige "Black Heart" mit Slide-Gitarre und Iris Dickinson als Gast an der Viola. Das Instrumental "Pepita" oder das wunderbare "Quattro (World Drifts In)" mit Convertinos klackernden Rimshots und der bummernden Bass-Drum, dazu Jacob Valenzuelas Rasseln am Schellenkranz - bewegt sich da nicht irgendwo eine Klapperschlange? Akkordeon und zwei Trompeten trösten kaum in einer Welt, von der sich das lyrische Ich entfremdet zu haben scheint. Desert Noir.
Weniger überzeugend gerät "Not Even Stevie Nicks...", wenn es nahtlos in das Joy Division-Cover "Love Will Tear Us Apart" übergeht. Joy Division veröffentlichten den Song kurz nach dem Tod ihres von Depressionen geplagten Frontmans Ian Curtis. Es geht um Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung im Angesicht einer beendeten Liebesbeziehung. Da mutet es merkwürdig an, wenn Calexico die Zuschauer zum fröhlichen Mitsingen und -klatschen animieren.
Aber da sind auch die Tex-Mex-Stücke, die sich im Zugabenblock die Klinke in die Hand geben: "Minas de Cobre", "Flores y Tamales" oder als Schlusspunkt "Cariñito", ursprünglich von der peruanischen Gruppe Los Hijos del Sol. Dabei übernimmt dann der Trompeter Jacob Valenzuela die spanischen Lead-Vocals, unterstützt durch den Keyboarder Sergio Mendoza. Der sorgt bei "Under The Wheels" für eine Art kreiselnde Karussell-Melodie über einer rhythmischen Verknüpfung von Ska und Latin. Hier passt das begeisterte Mitklatschen. Martin Wenk und Valenzuela ersetzen mit zwei Trompeten locker eine Mariachi-Kapelle, die Calexico bei früheren Konzerten gern aufboten. "Cumbia de Donde" spielt mit Call and Response-Gesängen und "Glowing Heart World" erinnert an Ennio-Morricone-Soundtracks. Ganz wunderbar gelingt das Cover "Alone Again Or" der Sixties-West-Coast-Band Love, das kongenial in den Calexico-Klang-Kosmos überführt. Fast poppig kommt der Titeltrack des aktuellen Albums "El Mirador" über die Rampe. Beeindruckend, wenn die beiden Trompeter E-, Akustik- und Slide-Gitarre spielen, zum Akkordeon greifen oder sich an die Marimba stellen. Brian Lopez hat solo und mit der Band XIXA bereits bewiesen, dass er ein großartiger Gitarrist ist, der vor allem für gleißenden Wüstensound und schwebenden Twang sorgt und den aus Afrika nach Mittelamerika importierten Cumbia-Stil mit Indie-Rock zu verbinden weiß. Bis auf Convertino sind alle gesanglich dabei. Mit seinem übersichtlichen Drumset sorgt er für Calexicos hohen rhythmischen Wiedererkennungswert, ob mit Schlägeln oder Sticks. Burns besitzt zwar keine Stimme mit Ecken und Kanten, klingt aber immer wohltuend angenehm.
"El Mirador" heißt auf Deutsch "Der Aussichtspunkt". Seit ihrer Loslösung aus Howe Gelbs Band-Kollektiv Giant Sand hätten Calexico sich, so Burns, zu "Frankensteins of instruments" entwickelt, hätten sie sich doch allerlei Instrumente in einer weitverzweigten, düsteren Musikalienhandlung zusammengeklaubt, einer Art "Instrumentenfriedhof". Gleiches gilt für die vielfältigen Einflüsse, aus denen sie ihre musikalische Vision zusammenbasteln wie einst Frankenstein seinen Menschen, und ebenso für ihre Sicht auf die Welt. Dabei sitzen sie nicht in ihrem Elfenbeinturm, dem Studio in Tucson, Arizona, sondern blicken auf Entwicklungen, die sich unverblümt oder metaphorisch verklausuliert in ihren Texten niederschlagen. Auch wenn Burns inzwischen in Boise, Iowa, lebt, hat er das Leid der Immigranten und Flüchtlinge vor Augen, macht sich Sorgen, was die Klimaerwärmung für seine Kinder bedeutet, verurteilt kriegerische Auseinandersetzungen und ist heute genauso wenig ein Fan von Trump, wie er es von George W. Bush war. All das klingt an in den Lyrics, die oftmals als Roadmovies gestaltet sind. "I don't wanna be on this dark road alone", singt Burns in "Fortune Teller", begleitet von Akustik-Gitarre und Bratsche. Ein nachdenklicher Moment, aber Burns spricht von Hoffnung und bezieht sich (nicht nur) auf das friedliche Miteinander im Publikum. In Mary Shelleys weitsichtigem Schauerroman beklagt sich über das Alleinsein auch Frankensteins Kreatur, die erst durch die Einsamkeit zum Monster wird. Den Gegenentwurf leben Calexico durch die Verschmelzung musikalischer Kulturen vor, umgesetzt von Musikern mit verschiedenen Wurzeln. Und einen Deutschland-Bezug gibt es ebenfalls: Das erste Calexico-Album "Spoke" erschien bei dem bayerischen Label Hausmusik, Martin Wenk stammt aus Hessen. So sind Calexico ein Spiegelbild dessen, was in der Welt draußen vor sich geht, und gleichzeitig ein multikulturelles Vorbild.