Wer bereits am Freitagabend in das Festival-Wochenende gestartet war, hatte allen Grund, noch ein wenig Energie für den Tag zu tanken. Für alle anderen galt es schon einmal die Füße im warmen Sand in Ausgangsposition für die kommenden Konzerte zu bringen. Und die versprachen an den jeweiligen Tagen ein volles Programm, das nur mit viel Kraft und Ausdauer bewältigt werden konnte. Im Vergleich zu den letzten Jahren wirkte das Line-Up in seiner Gesamtheit teilweise etwas blass und ließ die wirklich großen Namen vermissen, aber so durfte sich zwischendurch auch einmal problemlos eine Atempause gegönnt werden.
Die Australier von Rüfüs taten allerdings nichts lieber als den Samstag mit gegenteiliger Intention zu beginnen und ließen ihre sonnig, poppigen Songs auch im Dunkeln der Arena auf die noch überschaubare Menge los. Die Synthesizer immer zum nächsten Angriff auf die Beinmuskeln bereit, entzückte die Band nicht nur die lauthals mitsingenden Mädchen in den ersten Reihen, sondern konnten auch das Hipstertum weiter hinten für sich gewinnen.
Sich diesen Vibes anschließend galt es auch für Kindness den Bewegungsfaktor konstant hochzuhalten. Und das gelang dem Engländer mühelos. Da die Tanzeinlagen auf der Bühne irgendwann nicht mehr genug für den groovenden Musiker waren, verlegte er die Party gleich mitten ins Publikum, indem er sich während des Sets zwischen die Zuschauer schummelte und dort auf Tuchfühlung mit den Fans ging. Eine Erfrischung bitter nötig, zog es ihn sogar samt Mikrofon für einen kurzen Spaziergang bis hinaus vor die Halle, aber ganz der Profi unterbrach er dafür nicht einmal den Song, sondern kehrte auch noch mit einem Bier in der Hand zurück an seinen Platz inmitten seiner Band. Der Entertainment-Faktor stieg minütlich und erreichte dank der funkigen Show seinen ersten Höhepunkt.
Alle diejenigen, die auch weiterhin in diesem Modus verweilen wollten, durften ihr Lager auch danach noch vor der Hauptbühne aufschlagen, auf der die Crystal Fighters eine Stunde lang ihre Feder beschmückten, bunten Kostüme im Takt umherfliegen ließen. Die Zuschauer ganz um den Finger gewickelt, spulten sie wie auf Knopfdruck ihr Gute-Laune-Programm ab. Zwar mit gewünschtem Effekt, was die Reaktionen im Publikum anging, jedoch ohne wirklich für mehr als nur flüchtige Unterhaltung zu sorgen. Dafür spielt sich der Großteil der Songs auf der Oberfäche ab und die Band versäumt es mehr als das anzubieten.
Draußen auf der Splash-Stage erinnerte der Auftritt von Kid Ink dagegen an Szenen aus einem Teenie-Film, in denen der Hauptprotagonist alle Register zog, um das doch unverschämt junge Publikum vor seiner Nase zu wahren Begeisterungsstürmen hinzureißen. Während vor allem der Kreischfaktor im oberen Bereich pendelte und die Fans ihre Textsicherheit unter Beweis stellten, tigerte Kid Ink samt Anhang unruhig über die Bühne und erfüllte die gängigen HipHop-Klischees mit Leichtigkeit. Eigentlich fehlte neben dem zur Schau gestellten schwer tätoowierten Körper, dem Goldschmuck und den in der Kniekehle sitzenden Hosen nur noch ein Regen aus Dollar-Scheinen für die perfekte Inszenierung. Für die jungen Fans schien seine bloße Anwesenheit genug, um in Euphorie zu verfallen. Allein die produzierte Lautstärke beim Jubeln erinnerte mehr an ein Justin Bieber-Konzert.
Schon wenig später füllten Editors die Arena fast bis zum Anschlag, wobei am Rande der Meschenmassen immer noch genug Platz blieb, um dem großen Andrang zu entfliehen. Angesichts der immer wärmeren Luft im Inneren verwunderte es dann auch nicht, dass selbst bei erwachsenen Männern zwischenzeitlich der Kreislauf schlapp machte. Die Band hingegen spielte sich gewohnt sicher und dynamisch durch ihr Greatest Hits-Set, das Tom Smith einige Male auf sein Piano trieb oder ihn mit weit aufgerissenen Augen in die Menge blicken ließ. Ganz bei sich und nur mit einem Bruchteil an Extrovertiertheit wartete das Set von Zoot Woman auf, die auf dem Berlin Festival ihr jüngst erschienendes Album "Star Climbing" vorstellten. Allerdings nicht, ohne auch viele Querverweise auf das restliche Schaffen der Band zu liefern. Live zu einem Duo geschrumpft lag der Fokus eindeutig auf dem Synthesizer und Johnny Blakes Stimme. Große Show-Einlagen und unnötige Unterhaltungsmomente? Fehlanzeige. Allein die Musik in den Vordergrund gerückt, brauchte es nichts anderes, um die Songs ins gewünschte Licht zu rücken.
Ebenfalls vergleichweise schlicht gestaltete sich der am nächsten Tag stattfindende Auftritt von Jessie Ware, die ganz in ein schwarzes Outfit gehüllt, mit schummrigen Licht eher auf Atmosphäre setzte und trotz der aufkommenden Lethargie vor einer ganzen Zuschauerschar spielte. Der Ausdruck "Weniger ist mehr" zog sich durch das Set, hatte aber auch den ungewünschten Nebeneffekt, dass die Songs unaufgeregt und bisweilen farblos wie ein Schatten über dem Konzert lagen, das insgesamt ein wenig mehr Dynamik hätte vertragen können. So verpuffte selbst Jessie Wares Stimme gelegentlich und wirkte im großen Halleninneren erschreckend leer.
Jemand, der die eben noch gefühlte Seichtheit mit einem Schlag aus dem Kopf verbannte und im Gegensatz dazu das Maß an Intensität auf die Spitze trieb, war Woodkid. Der gebürtige Franzose, der mit seinem Album "The Golden Age" im letzten Jahr für helle Aufregung sorgte, fuhr allein schon optisch einiges an diesem Abend auf. Mit großen, aufwendig produzierten Visuals und einem mehrköpfigen Ensemble, inklusive Streicher- und Bläser-Verstärkung im Rücken, ließ Yoann Lemoine in Sachen großer Inszenierung nichts anbrennen. Das Gefühl von Erhabenheit und eine dynamisch-aufgeladene Atmosphäre als Dauerbegleiter brauchte es allenfalls einen minimalen Wink des Künstlers, um das Publikum noch mehr in seiner Ausgelassenheit anzustacheln. Es lag ihm förmlich zu Füßen und feierte sich Song für Song in eine Art Rausch, der selbst bei gänzlich neuen Songs nicht abreißen wollte. Beachtlich, was Woodkid da in den letzten Jahren für eine Bewegung losgetreten hat. Selbst das einst schüchterne Auftreten hat sich zweifelsohne gewandelt und man merkt ihm an, dass er dank der vielen riesigen Shows einiges an Selbstvertrauen getankt hat.
Das besitzt auch Neneh Cherry, die mit Rocketnumbernine trotz eines mehr als turbulenten Reisetages den Weg zum Berlin Festival fand, um dort in weißen Boxer-Shorts und Sneakern das Glashaus mit ihren Tanzeinlagen zum Mitmachen animierte. Großer Respekt an die Künstlern, die selbst noch mit 50 Jahren in den Knochen ein Energiebündel ist, das alle paar Sekunden zu platzen droht. Die Stimme krankheitsbedingt leicht angeschlagen, aber der Körpereinsatz bis zum Maximum aufgedreht, überzeugte die Schwedin über eine Stunde lang auf voller Linie und hatte mit den zwei Mitgliedern von Rocketnumbernine ein feuergefährliches Gespann an ihrer Seite, das das Energielevel keinen Zentimeter absinken ließ. In vielerlei Hinsicht brauchte es erst Neneh Cherry und eben jene Herren, um dem Berlin Festival das i-Tüpfelchen aufzusetzen.