Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen, denn bereits um 10:30 Uhr öffnete die Kirche ihre Pforten. Dort gab es die erste Kollaboration von
Cantus Domus mit dem Stargaze-Orchester zu bewundern. Nachdem der Chor unter der Leitung des umtriebigen Dirigenten Ralf Sochaczewsky zunächst mit einer ausgefeilten Choreografie und Dramaturgie mit einigen liturgischen Chorälen auf Latein und Französisch generationenübergreifende Integrationspolitik für jedermann - von der 85-jährigen Dorfbewohnerin bis zum nuckelnden Kleinkind - betrieben hatten. Spielten beide Ensemble gemeinsam die Kantate "Nach Dir, Herr, verlanget mich" von Johann Sebastian Bach und - was ja nahe liegt - eine Art psychedelisches Oratorium nach Motiven von Grateful Dead, bei dem - sozusagen - der Geist von Jerry Garcia schützend durch die Kirche waberte. Dieses übrigens inklusive E-Gitarre und Rock-Harfe.
Es folgte dann ein Auftritt des neuesten britischen Fräuleinwunders Soak, die den von ihrer Debütscheibe bekannten, introvertierten, leicht autistischen Indie-Bedsitter-Stil mühelos in die Konzertsituation übertragen konnte. Mit elektrischer und akustischer Gitarre trug sie ihre Songs mehr oder minder kommentarlos vor und ließ dabei - im übertragenen Sinne - die Seele baumeln. In diesem knapp bemessenen Kontext zeigte sich dann auch, dass da insbesondere Songwriterisch noch Luft nach oben zu sein scheint.
Das konnte man von dem nächsten Act, dem New Yorker Squarejaw-Piano-Man Tor Miller nicht gerade sagen. Der routiniert mit seinem Image spielende Songwriter präsentierte klassischen US-Piano-Pop mit autobiographischer Note und spielte etwa Songs über "Crosspunks" (einer New Yorker Obdachlosen-Spezies, mit deren Ästhetik, nicht jedoch deren Lebenseinstellung er kokettierte). Im Vergleich zu den ansonsten auftretenden Acts in der Kirche, war der Mann dann vielleicht schon eine Spur zu slick.
Was man von der eher bodenständig agierenden No Nonsense-Performance der E-Pop orientiert agierenden Låpsley, auf deren Langspiel-Debüt wir nach mehreren EPs wir ja immer noch warten, nicht gerade sagen konnte. Låpsley, die vollständig Holly Lapsley Fletcher heißt, überraschte in der Kirche nicht nur mit einem gewaltigen technischen Aufwand, sondern vor allen Dingen damit, dass sie diesen mit einem dezidiert jazzigen Ansatz gleich wieder relativierte. Gleich mehrere Tracks spielte sie akustisch am Klavier und der gesangliche R'n'B-Faktor ihrer Studioaufnahmen wich einem soliden, emotionalen Jazzgesang, den man in diesem Zusammenhang vielleicht gar nicht erwartet hätte. Klassische Club-Musik war das jedenfalls am Ende nicht. Eine dann doch gegen die Wand gefahrene Coverversion von Sam Smiths "Stay With Me" und technische Probleme mit dem Mikro-Ständer machten die Sache dann irgendwie auch sympathisch. Was vielleicht verwunderte war, dass Låpsley nicht bemerkt hatte, dass sie in ihrem Duschvorhang hängen geblieben war und diesen in der Art eines Morgenmantels mit sich herumtrug.
Währenddessen lockten im Spiegelzelt die Hothouse Flowers-Veteranen Liam Ó Maonlai und Peter O'Toole die Folkpop-Connaissieure an, während sich auf der Mainstage das Isländische Quartett Mammút warm machte. Das war zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr nötig, da das Wetter dankenswerterweise den eigentlich angekündigten Herbstanbruch noch ausgesetzt hatte, aber dennoch sind Mammút für isländische Verhältnisse schon ein wilder Haufen. Es gibt eine Art von psychedelisch aufgebohrtem Indie-Pop, der sehr viel mehr mit den frühen Tagen der Sugarcubes als mit der aktuellen eher ambientmäßig orientierten, elektronischen Island-Vogue gemein hat. Katrína Kata Mogensen, ihre Kolleginnen des ursprünglichen Kerntrios Rok und die beiden Herren bewegen sich dabei in einer Art verwunschenen Parallelwelt, die sich nur ihnen selbst vollständig zu erschließen scheint. Gelegentlich - insbesondere dann, wenn es für Isländer eher ungewöhnliche Rock-Riffs zu bestaunen gibt, scheinen sie auch zu wissen, was sie tun - erfreuen ansonsten aber mit sympathisch unaffektierter, kindlicher Unbedarftheit, die sich angenehm von den Posen alteingesessener Routiniers unterscheidet.
Mittlerweile auch auf dem hauseigenen Label angekommen ist die dänische Elektropop-Combo Alcoholic Faith Mission, die auch zu den Haldern Pop Veteranen zählen. Thorben Seiero Jensen und Kristine Permild haben sich im Laufe der Jahre in ihren manischen Ausdruckstanz-Stil dermaßen hineingesteigert, dass sie heutzutage einfach nicht mehr anders als mit geradezu hysterischen Gesten ihr Songmaterial zu illustrieren. Sicher, auf einer so großen Bühne sind ja große Gesten zuweilen durchaus angebracht - aber zuweilen wird dem Zuschauer bei so viel zur Schau getragenen Inbrunst dann aber doch Angst und Bange. Man kann Alcoholic Faith Mission freilich keinen mangelnden Ehrgeiz vorwerfen. Als besonderes Bonbon für diesen Auftritt hatte die Band Cantus Domus gewinnen können. Bei gleich mehreren Tracks überzeugte der Chor dann insbesondere die Zuschauer, die diesen noch nicht von der Kirche her kannten, mit eigens einstudierten Passagen, die dem eh schon orchestralen Ansatz der AFM noch mal eins draufsetzten.
Bodenständiger (und lauter) ging es dann wieder im Spiegelzelt zu. Dort spielten die australischen Oasis... äh bzw. DMA's. Als bekennende Fans der Brit Popper haben die DMA’s nicht nur die Riffs und Rhythmen von Oasis gut emuliert (freilich alles auf Speed), sondern sogar die Kleidung und die Gesten der großen Vorbilder. Besonders innovativ oder kreativ ist das alles nicht - aber immens unterhaltsam. Und laut...
Weiter ging es dann mit dem musikalischen Possenreißer Olli Schulz. Dieser hatte lange warten müssen, bis er nun endlich auf der großen Haldern Bühne stehen durfte - und nutzte diese Gelegenheit, um mit seiner All-Star Band (bei der unter anderem Gisbert zu Knyphausen als Bassist beschäftigt war, dem bereits beim ersten Song eine Saite riss) ein großes Unterhaltungs-Spektakel zu zünden. Dazu wurde das Publikum mit Konfetti-Artillerie beschossen und schließlich mit dem Fink-Cover "Loch in der Welt" auch musikalisch belohnt.
Im Spiegelzelt hatte sich derweil Rae Morris aus England startklar gemacht. D.h.: Genau genommen tat das die Band und die Sound-Mannschaft mit einen standesmäßig exerzierten Soundcheck. Die Chefin brauchte dann quasi nur noch das Mikro zu testen und alles war bereit. So etwas nennt man Professionalität. Das Ganze lohnte sich aber: Raes für die nun vorliegende Debüt-CD adaptierter, organischer Soul-Pop-Stil erschien wie gemacht für die Zelt-Situation. Rae erklärte, dass sie bereits mehrfach in einem Spiegelzelt gespielt habe und diese Situation durchaus genieße. Das zeigte sie durch den Enthusiasmus, mit dem sie ihren ungewöhnlichen Gesangsstil einbrachte. Sehr viel besser kann Musik wie diese im Live-Ambiente einfach nicht klingen. Die junge Dame dürfte sich mit diesem Auftritt zweifelsohne den einen oder anderen Fan erspielt haben - zumal der Zuspruch (wohl auch aufgrund der Mundpropaganda für die Dame) recht groß war.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden und somit die Stimmung für den Auftritt der Savages durchaus passend. Denn die vier Damen um die charismatische Frontfrau Jehnny Beth präsentierte sich als rabenschwarze, geradlinig rockende Powertruppe. Tageslicht oder Sonnenschein hätten hier eher irritiert. Kurz gesagt tragen die Savages ihren Namen nicht umsonst. Die Damen versprühten eine durchaus feminine, primal-archaische Wildheit, die sich etwa mittels Muskelmasse weder hinreichend hätte erreichen noch erklären hätte lassen. Die Energie, die die Savages da kanalisierten, kommt aus einer ganz anderen Quelle als jene vergleichbarer männlicher Acts. Insbesondere Fay Milton überzeugte als gutgelaunte Vollkörper-Drummerin, die in dieser mitreißenden Qualität auch mit Sicherheit ihresgleichen sucht. Ähnlich ist das auch mit der Performance Jehnny Beths, die nun wirklich alle Register der Anmache beherrschte und das Publikum mühelos in die Tasche zu stecken verstand. Dieses wurde z.T. auch im direkten Körperkontakt und Bad in der Menge erzielt, als sich Beth gegen Ende der Show das Publikum von der Absperrbalustrade aktiv zum Crowd-Surfing animierte. Bezüglich der Art von New-Wave-Post-Rock, den die Savages musikalisch vertreten, lässt sich geschmäcklerisch sicher trefflich streiten - die Performance als solche indes hätte mitreißender und unterhaltsamer indes kaum sein können.
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