01. Minute: Kaum auf dem Platz beweist Billy noch vor dem ersten gespielten Ton Entertainerqualitäten, als an der Theke für jeden hörbar das Telefon klingelt und Billy spontan meint: "Oh, das wird meine Mutter sein! Sie will nur fragen, wo ich mich aufhalte und ob ich in Sicherheit bin. Sagt ihr: Ich bin an einem sehr sicheren Ort - der Reeperbahn in Hamburg!"
02. Minute: Die vor dem Spiel mit dem Trainergespann - Braggs legendärer Manager Pete Jenner und sein langjähriger Produzent Grant Showbiz waren ebenfalls in Hamburg dabei - sorgsam ausgearbeitete Taktik, der versammelten Pressemeute die neuen Songs erstmals zu präsentieren, geht voll daneben: Gleich der erste Song ist nämlich "A Lover Sings", von Braggs zweiter LP aus dem Jahre 1984!
07. Minute: Steilpaß für das Publikum: "Der [5:1] Sieg von England im Olympiastadion macht jetzt plötzlich Sinn: Wenn ihr das Spiel gegen uns gewonnen hättet, wären wir in die Qualifikation gegen die Ukraine gegangen und IHR wärt jetzt in der Gruppe mit Schweden, Nigeria und Argentinien! Jetzt verstehe ich euren Plan! Ihr habt uns absichtlich gewinnen lassen! Ich habe heute Nachmittag bei einem Interview meinem Journalisten-Freund [er meinte damit netterweise Gaesteliste.de] mit einer Fußball-Metapher den Begriff 'Englishness' erklärt. Bei dem Spiel im Olympiastadion gab es nämlich einen vollkommenen Moment der 'Englishness'. Als Janker [zum 1:0 für Deutschland] traf! Da haben wir alle zu Hause vor dem Fernseher gedacht: 'Fuck! Nicht schon wieder!' Was dann folgte, war nicht nur sehr un-deutsch, sondern auch sehr un-englisch!"
09. Minute: Mit der leisen Ballade "Distant Shore" läuft der erste Song des neuen Albums, das sich größtenteils mit dem Multikulturalismus in England und dem Problem der Globalisierung, nicht zuletzt anhand des Euro-Problems, auseinander setzt. Klingt auf dem Papier nach einer Taktik, die sich auf dem Spielfeld eh nicht umsetzen läßt, die Texte aber deuten darauf hin, daß Billy Bragg mit dem neuen Album seine vielleicht beste Saison seit Ende der 80er bevorsteht!
15. Minute: Billy ist (Tor-)hungrig. "Eines ist sicher: Du kannst die Welt nicht verändern, indem du ein McDonald's zertrümmerst. Denn kaum bist du auf dem Weg nach Hause, siehst du am Bahnhof schon das nächste! Ich bin davon überzeugt, daß du die Welt nur dann verändern kannst, wenn du eine Gewerkschaft in einem McDonalds organisierst!"
16. Minute: "NPWA" - Toooor! Der tolle neue Polit-Song, der auf dem neuen Album etwas unter dem Sound seiner Mannschaftskameraden The Blokes leidet, wird auf dem Platz zu einem glanzvollen, weil ultra-eindringlichen Solo-Statement. Die beste Szene des Spiels bisher! Im Anschluß meint dann auch Billy fragend in Richtung Publikum: "Das klang doch ganz okay, oder?" Darauf antwortete Grant Showbiz ironisch von der Trainerbank bzw. dem Mischpult aus: "Das Lied solltest du aufnehmen und ne Platte draus machen!" Kommentar Billy: "Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Wagen warten?"
22. Minute: "The Space Race Is Over" leitet einen Konter in Richtung "Euro" ein. "Ihr Deutschen seid uns ein leuchtendes Beispiel bei der Euro-Einführung. Die Leute bei uns haben einfach Angst davor, weil sie nicht wissen, was dann mit unserem Land passiert. Ihr dagegen habt euer größtes Nachkriegssymbol aufgegeben, die D-Mark. Und dann habt ihr uns auch noch beim Fußball gewinnen lassen! Ihr tut sooo viel, um uns die Angst zu nehmen und um uns klar zu machen, wie gerne ihr uns beim Euro dabeihättet. Da stellt sich natürlich die Frage: Lassen uns die Franzosen jetzt wohl auch gewinnen?"
30. Minute: Billy macht sich bei den Fans der Heimmannschaft beliebt: "Ich habe schon immer gerne in Hamburg gespielt. Beim ersten Mal war mein Umkleideraum die Toilette, die erste von vielen Toiletten-ähnlichen Umkleiden, die ich in Hamburg kennen gelernt habe. [Imitiert hanseatischen Konzertveranstalter:] 'Die Umkleide war gut genug für die Beatles, dann wird sie auch für dich reichen, du kleiner englischer Bastard!' - 'Bist du sicher, daß die Beatles wirklich hier gewesen sind?'"
45. Minute: Mit dem neuen "Tears Of My Tracks", das ein Wortspiel eines Smokey-Robinson-Songs zum Titel hat, geht es bei bester Stimmung, sowohl auf der Tribüne als auch auf dem Platz, in die Halbzeit. Billy erklärt lang und breit, daß er trotz der Textzeilen: "I sold all my vinyl today" oder "Sombody owns all my albums now / they probably don't even wonder how / my name got written on the sleeves " nicht seine Platten verkauft hat: "Wir waren auf einem dieser Flohmärkte - dort gab es auch einige Billy Bragg-Platten für 10 Pence - und jemand bot eine ganze Kiste alter 7"-Singles an. Alles Originale aus den 70ern von David Bowie und so. Wir unterhielten uns, wie viel uns diese Songs bedeuteten, und uns fiel auf, daß auf allen Platten der Name der Frau stand, die sie nun verkaufen wollte. Da konnten wir die Platten einfach nicht mitnehmen. Das wäre so gewesen, als hätten wir ihr das ganze Leben abgekauft. Abends gingen wir dann ins Studio, ich schreib den Song so runter und wir nahmen ihn sofort auf. Es fehlte nur noch ein Titel. Abends lang ich dann im Bett, und als ich schlief, klopfte es an mein Fenster und draußen standen Smokey Robinson & The Miracles. Das war wirklich erstaunlich, denn ich war im dritten Stock - und in Wales! Ich merkte, daß Smokey mir etwas sagen wollte, aber ich konnte ihn nicht hören. Kurze Zeit später begriff ich dann, was er sagen wollte. Es war: 'Öffne das verdammte Fenster!' Also ließ ich ihn fröstelnd herein und er sagte: Der Titel des Songs ist 'Tears Of My Tracks'!"
51. Minute: Die zweite Halbzeit hätte nicht besser anfangen können. Angestachelt von der Smokey-Robinson-Geschichte wagt sich Billy weit vor - ein Soulmedley sollte es sein, und obwohl er ja traditionell auf der Position des Punkrockers besser ist denn als Sänger samtweicher Soulsongs, macht er seine Sache ganz ausgezeichnet: "People Get Ready" von Curtis Mayfield, "Tupelo Honey" von Van Morrison, Bob Dylans "Girl Of The North Country" und Marvin Gayes "Let's Get It On" - alles sehr gefühlvoll! "Ich liebe es, die Songs so ineinander fließen zu lassen, vor allem, wenn es so großartige Stücke sind. Außerdem basieren sie alle auf den gleichen vier Akkorden, das macht mir als Songschreiber natürlich Mut! Im Sommer 2000 waren wir in den USA auf Tour und besuchten eine Wahlkampfveranstaltung von Ralph Nader und den Grünen. Das war eine sehr interessante Erfahrung, ihr hättet dabei sein sollen. Dazu hatten sie auch noch einige Musiker eingeladen, die spielen sollten, unter anderem Ben Harper. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund entschied Ben Harper, daß der einzige Song, den er in dieser aufgeladenen politischen Atmosphäre spielen könnte, 'Sexual Healing' von Marvin Gaye wäre. Das alleine war schon eine sehr interessante Wahl, allerdings wußte er wohl nicht, daß am Bühnenrand eine Frau stand, die alles Gesprochene und auch die Songtexte in Gebärdensprache übersetzen sollte. Also mußte die Frau auch den Text von 'Sexual Healing' mimen. Das war eines der großartigsten Dinge, die ich je gesehen habe. Es war offensichtlich, daß sie Marvin Gaye kannte und sie hat alles gegeben! Keiner von uns hat mehr auf Ben Harper geachtet, wir haben alle nur noch auf sie geschaut!"