Sei es drum: In der Kirche gab es zunächst mal klassischen Chorgesang, der von einer übrigens von Jahr zu Jahr ausgekügelteren und effektiveren Dramaturgie unterstützt wurde, zu der sich die Chormitglieder durch das Publikum bewegen und so einen Eindruck der Unmittelbarkeit erzeugen, der ansonsten kaum denkbar erschiene.
Im Folgenden ging es dann eher konventionell weiter: Der Sizilianer Fabrizio Cammarata präsentierte sein Programm mit bemerkenswerter Intensität, Inbrunst und Ernsthaftigkeit. Dabei schien er gegenüber seinen "normalen" Konzerten keine Kompromisse eingehen zu wollen und bot sein Programm mit dem gleichen - und im Vergleich zu seinem eher zurückhaltend inszenierten aktuellen Werk "In Shadows" - überraschend spielfreudigen und impulsiven Energielevel dar. Allerdings nutzte auch er die sich aus der Anwesenheit der klassischen Musikern ergebenden Möglichkeiten und bat Cantus Domus für einen bewegenden "Gastauftritt" zurück auf die Bühne. Wie gewohnt beschloss Fabrizio das Set mit dem von ihm geliebten mexikanischen Folksong "La Llorona" (die Tränenreiche) - und wurde am Ende vom Publikum frenetisch gefeiert.
Der Brite Adam French ist noch neu im Geschäft - auch wenn das nicht unbedingt herauszuhören ist, denn im Gefolge seines Hits "Weightless" (dem Song, dessentwegen er nach eigener Aussage für das Festival gebucht worden war) reiht er sich nahtlos ein in die Reihe generisch agierender Männerschmerz-Expressionisten seiner Generation. Nur, dass er mit seinem weißblonden Schopf anders aussieht als diese, seinen britischen Sarkasmus noch nicht verloren hat (wie er sagte), und mit einem interessanten Line-Up mit Pianistin und Cellistin aufwartete. Musikalisch hingegen bietet Adam French hingegen die gleichen melancholischen Akkordfolgen und gesanglich manierierten Hochton-Lamentos wie seine bereits etablierten Kollegen auch.
Über Jade Bird jetzt noch neue Superlative in die Welt setzen zu wollen, bedeutete Eulen nach Athen zu tragen. Die quirlige Powerfrau aus London hat inzwischen mit ihrer scharfzüngigen, selbstironischen Attitüde, ihrer manischen Live-Energie und dem soliden, zuweilen brillanten und immer mit Herz und Seele dargebotenen, selbst verfassten Songmaterial inzwischen sozusagen die ganze Musikwelt erobert, seit sie sich auf dem letztjährigen Reeperbahn-Festival erstmals international präsentiert hatte. Und das, obwohl sie immer noch keine LP vorzuweisen hat (was angesichts ihres hektischen, durchgetimten Overdrive-Schedules, mit dem sie zuletzt auch die USA "eroberte", auch gar nicht so einfach zu realisieren ist). Sei es drum: In der Zwischenzeit hat Jade Bird ihren überbordenden, stürmischen Stil etwas stromlinienförmiger kanalisiert, sich musikalisch etwas breiter aufgestellt (etwa indem sie sich in Haldern für zwei Stücke, darunter Kate Bushs "Running Up That Hill", ans Klavier setzte) - sich dabei aber ihre sympathisch nerdige Underdog-Art durchaus erhalten. Die bis zum Platzen gefüllte Kirche machte zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass Jade Bird auch auf der Hauptbühne schon gut aufgehoben gewesen wäre.
40 Minuten Gänsehaut: Mit einem betont altmodischen Soundgewand, aber mit so viel überbordender Kreativität bewaffnet, dass ihr auf alten Americana-Tugenden fußendes Tun nie besonders traditionell klingt, lieferten The Barr Brothers nachmittags um halb vier in der Kirche den wohl ergreifendsten Auftritt des gesamten Festivals ab. Zunächst beschränkt auf den Duo-Bandkern mit den beiden Namensgebern Brad (Gitarre, Mundharmonika, Gesang) und Andrew (Schlagzeug, Percussion, Gesang), faszinierten sie gleich zu Beginn bei "Beggar In The Morning" mit einem Spagat zwischen stimmungsvoll-klassischer Songwriterkunst und fantasievollem Experimentalismus. In diesem Spannungsfeld bewegten sie sich auch für den Rest ihres Auftritts, als sie ihr wortloses Cover von "Heart Shaped Box" so klingen ließen, dass es perfekt auf Nirvanas "MTV Unplugged"-Album gepasst hätte, oder mit dem stampfenden "Give The Devil Back His Heart" dem Blues ganz neue Seiten abgewinnen konnten. Trotz nur 20 Minuten gemeinsamer Probe am Vortag begeisterten die beiden in Kanada lebenden Amerikaner auch zusammen mit Stargaze. Erst rührten sie ganz minimalistisch und über ein altes Radiomikro gebeugt beim mit Bläsern und Kontrabass ausstaffierten "How The Heroine Dies" zu Tränen, um danach mit der vollen orchestralen Wucht des sich dramatisch steigernden "You Don't Have To Lose Your Mind" einem umwerfenden Finale entgegenzusteuern, bei dem sie sich klanglich in ähnlichen Sphären bewegten wie einst Greg Dulli mit den Twilight Singers. Minutenlange Standing Ovations vom Publikum waren der wohlverdiente Dank für dieses grandiose Gastspiel.
In Retro-Soul-Zirkeln ist Curtis Harding schon seit geraumer Zeit in aller Munde, in Haldern unterstrich er nun, warum das so ist. Der mit Coolness gesegnete, von der Muse geküsste 39-Jährige aus Michigan steht ganz offensichtlich auf den Schultern von Giganten wie Al Green oder Marvin Gaye, zeigte aber auf der in gleißende Sonne getauchten Hauptbühne kein Interesse daran, eine Ton für Ton perfekte Hommage an die alten Helden des Genres abzuliefern. Trotz einer Sonnenbrille, die selbst für so manchen Pornostar in den 70ern "too much" gewesen wäre, steht er mit beiden Beinen im Hier und Jetzt und zollt seinen Vorbildern mit einer ganz eigenen Sicht der Dinge Tribut. Mit imponierender Lässigkeit ließ er sich noch nicht einmal von einigen technischen Problem aus dem Konzept bringen und würfelte die Setlist gleich mehrfach spontan durcheinander. Ganz schön beeindruckend!