Auch wenn das alleine aufgrund ihres Auftrittes vielleicht gar nicht so deutlich wude. Die Sache ist nämlich die, dass Native Harrow auf der Bühne keinen Spielraum für amüsante Plaudereien sehen. Stattdessen gibt es einen geschickt orchestrierten, hochkonzentrierten und zutiefst emotionalen Vortrag mit einer klaren Aufgabenteilung: Für den Gesang, das Songwriting und die Texte zeichnet Devin verantwortlich, während Stephen für die musikalische Umsetzung und Ausgestaltung zuständig ist und dafür munter zwischen Keyboard, Gitarre, Drumkit und Bass hin und her wechselt. Ganz im Zentrum steht dabei Devins unterschwellig hypnotischer Gesang mit dem faszinierenden Vibrato, mittels dessen sie noch aus den flachsten Akkordfolgen (von denen es eine Menge im Native Harrow-Programm gibt) faszinierende Melodiebögen herauszukristallisieren im Stande ist. So etwas muss man auch erst mal hinbekommen. Eine Rockband sind Native Harrow natürlich nicht - aber auch kein klassisches Folk-Duo, wie potentielle Up-Tempo Songs à la "Shake" verdeutlichen; auch wenn bei der Static Roots-Version die Gitarren ganz schön individuell gestimmt waren. Devin erklärte so etwas im Folgenden dadurch, dass sie die Magie des Momentes nur ungern mit Stimmpausen in Gefahr bringen möchte. Das kann man natürlich nachvollziehen. Wie gesagt ist die unverbindliche Bühnen-Plauderei nicht so die Stärke von Native Harrow - aber nach der Show tauten Devin und Stephen im Gespräch mit den Fans und einer inoffiziellen After-Show Party mit ihren Freunden von den Treetop Flyers dann doch noch richtig auf.
Bereits vor der Show hatte Evangeline Gentle für Mutmaßungen unter den Fans gesorgt - weil sie mit einer Frisur aufgetaucht war, die so gar nichts mit jener zu tun hatte, die sie bisher in ihren Videos präsentierte - so etwa auch in der 2021er Stay Safe-Session ihres Songs "Ordinary People". Nun ist Evangeline aber keine Songwriterin, die sich über Äußerlichkeiten definiert (auch wenn sich das in ihrem Fall durchaus möglich erschiene). Tatsächlich entpuppte sich die zierliche schottisch/kanadische Songwriterin bei ihrem Auftritt mit dem Gitarristen Nick Ferrio als bemerkenswertes künstlerisches Gesamtpaket, bei dem nun wirklich alle Aspekte in geeigneter Form zusammengeführt wurden. Als klassische Dietmar-Entdeckung (im Wild-Card-Sinne) steht Evangeline noch ganz am Anfang einer internationalen Laufbahn (gleichwohl ihr selbst betiteltes Debüt-Album bereits 2019 erschien) und absolvierte in Oberhausen ihren ersten Deutschland-Auftritt. Auf ihrer LP beschäftigt sich Evangeline noch mit dem Thema Selbstfindung - und kommt in grandiosen Empowerment-Songs wie "Drop My Name" oder eben "Ordinary People" zu dem Schluss, dass eine persönliche Entwicklung aus einer Position der Stärke heraus nicht notwendigerweise zu emotionaler Distanz führen muss. Das ist insofern interessant, als dass sich diese Erkenntnis auch auf ihre Live-Performance ausgewirkt haben könnte. Denn Evangeline hätte es sich leisten können, ihre genau beobachteten Geschichten und philosophischen Erkenntnisse mit lässiger Eleganz und arroganter Distanz präsentieren zu können - und kaum jemand hätte ihr das aufgrund der emotionalen Tiefe des Vortrages übel genommen. Stattdessen aber erwies sie sich als unterhaltsame Performerin, die sich mit Nick Ferrio über Bradley Cooper und Harry Styles lustig machte (das hatte mit einer Verwechslung zu tun) - vor allen Dingen aber mehrfach ohne Notwendigkeit und offensichtlich aufrichtig erwähnte, dass die Fans in Oberhausen das netteste Publikum seien, vor dem sie bis dahin aufgetreten sei. Das verdeutlichte sie im Folgenden dann noch, indem sie sich für Autogramme, Selfies und auch das "Familienfoto", das traditionellerweise am zweiten Festivaltag angefertigt wurde, unter eben dieses Publikum mischte. Noch ein interessanter Aspekt zeichnete Evangeline als Wild Card des Tages aus: Ihre Selbstfindungsphase scheint die Gute bereits abgeschlossen zu haben, und kann sich in neuen Songs wie "Dancing At A Gay Bar", "Bad Girls" oder sogar der als Zugabe gegebenen A-Cappella-Version des schottischen Traditionals "Black Is The Colour" stärker und deutlicher mit ihrer queeren Identität auseinanderzusetzen - die wiederum musikalisch so gar keine Rolle spielt.
"Jetzt wird es etwas lauter", kündigte Jeff Robson den nächsten Act, die texanischen Vandoliers an. Tatsächlich hatten sich Josh Fleming und seine Mannen sogar vorgenommen, den lautesten Gig des Festivals zu spielen. Ob das zutraf, hätte vermessungstechnisch ermittelt werden müssen - auf jeden Fall aber spielte das Sextett aus Dallas zumindest den verrücktesten Gig des Festivals. Die Band entstand ursprünglich, als Fleming sich langweilte, nachdem seine Punk-Band The Phuss das Zeitliche gesegnet hatte und er feststellte, dass man Country-Musik ja auch mit so einer Art Punk-Attitüde assoziieren könnte. Dazu suchte er sich dann Mitglieder aus lokalen Folk- und Metal-Bands (!) zusammen und voilá: Geboren war die "Cow-Punk"-Band Vandoliers. Mit ihren letzten Veröffentlichungen hatten sich die Jungs zwar musikalisch breiter aufgestellt, aber bei der Show in Oberhausen ging es schlicht und ergreifend um die Basics. Dabei erwiesen sich die Vandoliers vor allen Dingen als performerische Possenreißer de riguer. Was die Herren auf der Bühne des Zentrum Altenberg abbrannten, spottete jeder Beschreibung. Da gab es wirklich keine Geste, Grimasse oder Groteske aus dem Rock'n'Roll-Zirkus, die Josh & Co. nicht mit Hingabe und Inbrunst ausgelebt hätten. Ganz im Gegenteil: Einiges, was die Vandoliers an Verrenkungen und musikalischen Leibesübungen draufhatten, hatten bestimmt viele der Anwesenden so auch noch nie gesehen. Musikalisch hatte das Ganze bildungstechnisch natürlich nur einen begrenzten Nährwert - aber was den Unterhaltungswert betraf, war das ganz großes Kino. Indem die Tracks allesamt mit einer fast schon unerbittlichen Konsequenz in den Party-Modus gekickt wurden, erschufen die Vandoliers en passant auch noch so etwas wie ein eigenes Sub-Genre, das sich in etwa als "Elektro-Party-Polka" bezeichnen ließe. Die Krönung war dann eine Coverversion des legendären "500 Hundred Miles"-Song der in ihrer schottischen Heimat immer noch gottgleich verehrten Proclaimers. Da da da da. Da da da da. Da da lemmlala lemmlala lemmlala lemmlala lem.
Der Engländer Pete Gow ist offensichtlich ein Mann mit einem großen Herzen am rechten Fleck, einem beeindruckenden musikhistorischen Detailwissen und einer wagemutigen musikalischen Vision. Bevor Pete 2019 mit dem Album "Here There's No Sirens" als Solo-Songwriter reüssierte, spielte er (übrigens zusammen mit Jim Maving) in einer britischen Americana-Band namens "Case Harding". Es war dann allerdings das Zusammentreffen mit dem Musiker, Produzenten und Arrangeur Joe Bennett - und dessen Idee, Petes Songs mit zunehmend opulenteren Arrangements auszustatten - die selbige so richtig - nun ja wie soll man sagen - zum Leben erweckten. Auf dem Sirens-Album waren es noch Bennets Keyboard-Beiträge und geschickt arrangierte Backing-Vocals denen diese Aufgabe zu Teil wurde - aber spätestens mit Petes zweiter LP "The Fragile Line" und besonders auf seinem aktuellen Werk "Leo" gab es dann die Arrangierwut betreffend kein Halten mehr. Ebensowenig wie beim Static Roots Festival, denn Pete hatte nicht nur Joe Bennett und seine Band sondern auch ein dreiköpfiges Streicher-Ensemble und eine Bläser-Sektion mitgebracht, um den Ansprüchen der LP-Produktionen gerecht werden zu können. So ist etwas ist in Zeiten wie diesen ja eigentlich ganz schön mutig. "Ja, mutig ist es schon", meinte Pete später noch, "oder dumm."
Musikalisch gehörte dieses Set auf jeden Fall zu den absoluten Highlights des Festivals. Und zwar nicht, weil so viele Leute auf der Bühne standen, wie zuvor noch nie beim Static Roots (wie Jeff Robson ganz richtig feststellte), sondern weil die ganze Bagagge - allen voran natürlich Pete Gow - mit Herzblut, wirbelndem Haupthaar und jeder Menge Empathie - irgendwie sogar demütig - des Songmaterials widmeten und die Geschichten Gows für sich sprechen ließen. Und dabei kamen solche Juwelen zum Vorschein wie zum Beispiel die Textzeilen: "And I'd stand up if I'd keep from falling - for her. She's beautiful - she's just about as perfect as Side III Of 'London Calling'". Auf die Idee, seine eigenen Erlebnisse als Musiker über die Referenzen zu relevanten Momenten der Rockgeschichte zu erzählen, muss man selbst als ausgefuchster Routinier je auch erst mal kommen. Ebenso wie auf die Idee, sich an eine vollkommen unironische Interpretation des Ronettes-Klassikers "Be My Baby" zu wagen - und damit durchzukommen.
Und dann gab es ja auch noch die Treetop Flyers. Den Plan, Reid Morrison und sein Kleinorchester für das Festival gewinnen zu können, hatte Dietmar Leibecke nun wirklich schon lange mit sich herumgetragen. Umso besser, dass es jetzt aus gerechnet dieses Mal hatte klappen können, denn es hätte kaum geeignetere Kandidaten als das Ensemble aus London geben können, dem Festival mit leichter Hand, lockeren Grooves und einer um Memphis- und Irish-Soul-Elemente erweiterten Westcoast Soundpalette eine ordentliche Prise positiver, sonniger Vibes verpassen zu können. Dabei passte es ganz hervorrragend, dass einer der Tracks des während der Pandemie-Wartezeit entstandenen aktuellen Albums "Old Habits" tatsächlich "Golden Hour" heißt. Um die Tatsache, dass die Band aus Bleichgesichtern ausgerechnet aus dem Londoner Ortsteil Stoke Newington stammt, mussten die meisten Hörer aber auch erst mal ihren Kopf wickeln. Zum Beispiel auch Devin Tuel und Stephen Harms, die mit den Flyers befreundet sind und sich die Show natürlich auch anschauten. Das Erfolgsgeheimnis des Flyers-Sounds speist sich aus verschiedenen Quellen: Der lakonischen Lässigkeit ihres unwahrscheinlichen Frontmannes Reid Morrison, der sich ungeachtet seines Nuschelns auf den Spuren eines Van Morrison durch das Material croont als gäbe es einen Vertrag in Vegas zu ergattern, dem seelenvollen Gitarrenspiel des Gitarristen Sam Beer - der in jeder Motown-Besetzung zweifelsohne eine gute Figur gemacht hätte oder dem einfühlsamen Spiel von Saxophonist Geoffrey Widdowson zum Beispiel. Tatsächlich aber machte das Ganze nur im Zusammenspiel Sinn. Typische Americana-Musik war das übrigens in dieser Form auch nicht mehr. Das merkte aber zum Glück niemand.
Mit ihrem Headliner-Slot auf dem Static Roots Festival setzten die aus dem kalifornischen Orange County stammenden Southern Rocker Robert Jon & The Wreck einen fulminanten Schlusspunkt ihrer gerade abgelaufenen Europa-Tour. Da spielten sich eigenartige Sachen ab: Zu der Show des Powerhouse-Quintetts schien das Publikum ausgetauscht worden zu sein. Jedenfalls fanden sich plötzlich begeisterte Rockfans vor der Bühne, die bis dahin überhaupt nicht in Erscheinung getreten waren. Tatsächlich hatten die Jungs also wohl ihr eigenes Publikum mitgebracht. Und dann noch etwas: Die Herren sind wohl mittlerweile so etabliert, dass sie sich einen ganzen, eigenen, Vorort-großen Merch-Tisch leisten konnten. Es sei ihnen gegönnt - zumal das ihre Show einen wirklich imposanten, überraschend unterhaltsamen, abwechslungsreichen und vor allen Dingen überraschend kurzweiligen Abschluss des (offiziellen) Festivalprogrammes darstellte.
Die Sache ist dabei die: Robert Jon Burrison, der brummige Frontman des Ensembles versteht sich nicht als Alleinunterhalter mit Band, sondern überlässt seinen Mitstreitern gerne auch mal das Spotlight. Zum Beispiel dem Lead-Gitarristen Henry James. Anders als sein literarischer Namensvetter, dem Schriftsteller Henry James, hält unser Henry so gar nichts von noblem Verzicht oder vornehmer Zurückhaltung - sondern sucht sein Heil (nicht ohne Charme und Witz, mit großer Geste und unbändiger Spielfreude) in der gitarrentechnischen Opulenz. Tatsächlich spielte James im Prinzip während der ganzen Show ein pausenloses Solo, das von Robert Jon als Rhythmusgitarrist und Keyboarder Steve Maggiora nur mit Mühe strukturell im Zaum gehalten werden konnte. Das führte dann zu so absurden Situationen, dass Edgar Heckmann (der früher mit seinem Blue Rose-Label gerne das Leuchtfeuer des Southern Rock in all seinen Kunden zu entfachen trachtete) sich zu der Aussage hinreißen ließ, dass "der Gitarrist zu sehr gegniedelt habe". So richtig ernst gemeint ist das natürlich alles nicht - einfach deswegen, weil das "Gegniedel" im Kontext der erstaunlich abwechslungsreichen und vielseitigen Songs des Ensembles gar nicht so schlimm erschien und dank des überbordenden selbstarstellerischen Triebes James' ja auch mächtig unterhaltsam war. Außerdem halten die Jungs nichts von irgendwelchem Superstar-Gehabe und legten Wert darauf, nach der Show noch jedem, der das wollte und zwei Drittel der anderen obendrein die Hand zu schütteln oder irgendetwas zu unterschreiben. Static Roots eben.
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