Jana Bahrich hatte mit ihrer Band Francis Of Delirium auch ein Mammut-Programm auf dem Festival zu absolvieren, hatte sich aber trotzdem bereit erklärt, für eine Akustik-Session zum Festival-Village zu kommen. Das war insofern von Interesse, als das sich Francis Of Delirium für eine kompromisslos harte Gangart die Live-Shows betreffend einen Namen gemacht hatte. Die akustischen Elemente, die auf den Studioproduktionen des Luxemburger Ensembles zuweilen auftauchen, haben dabei keinen Platz. Deswegen war es spannend zu beobachten, wie Jana - mit einer geliehenen Akustikgitarre, deren Gurt ständig herunterrutschte, so dass sie zum Schluss auf einem Stuhl platz nehmen musste - mit dieser improvisierten Performance den Blick (bzw. das Ohr) stärker auf die Empowerment-Lyrics ihrer Band lenkte. Ein wenig komisch war es dann aber schon, die Lib-Hymne "Quit Fucking Around" - die bei den Band-Shows stets zum Abschluss mit Hilfe des Publikums als punkiger Rausschmeißer inszeniert wird, in Form einer Art Bedroom-Variante präsentiert zu bekommen.
Auch im Open-Air-Modus - dann aber auf der XXL-Bühne - gab es eine Art Ergänzung zu den Canada House-Konzerten, denn hier trat im Folgenden das mittels eines zusätzlichen Musikers zum Trio aufgebohrte Power-E-Pop-Projekt Featurette von Lexie Jay und Jon Fedorsen aus Toronto auf. Die Sache ist dabei die, dass Lexie Jay als ausgebildete Opernsängerin vielleicht nicht den Gesangstil, aber zumindest den Sinn für Dramatik und Theatralik in das gewählte Genre übertragen hat - und darin vollkommen ausgeht. Wie schon gesagt, haben viele Musiker Mühe, die riesige XXL-Bühne mit Leben zu erfüllen - nicht jedoch Lexie Jay, die als geborene Rampensau so ziemlich jede erdenkliche Stadien-Geste und Superstar-Pose drauf hat und dabei auf ungemein sympathische Art auf das Publikum eingeht. So posierte sie freimütig für die immer zahlreicher werdenden Handy-Taper, lud sogar Fans auf, auf der Bühne Fotos zu machen und ließ es sich nicht nehmen, sich nach der Show noch mit den Fans vom Bühnenrand aus zu fraternisieren. Ganz en passant gab es auch noch eine mitreißende Show mit diversen Rock- und Club-Momenten.
Ebenfalls aus Toronto stammt die Artpop-Power-Balladen-Queen Poésy, die im Folgenden mehr als deutlich machte, dass sie ebenfalls einige ihrer Wurzeln in der Opern-Branche zu verorten hat. Gewandet in ein für die Verhältnisse eigentlich zu sommerliches Kleid schwebte sie mit weit ausholenden, dramatischen Bewegungen barfüßig über die Bühne - was ihr letztlich zum Verhängnis werden sollte, denn als sie mit einer theatralischer Geste vom Drumpodest herunterhüpfen wollte, auf dem sie zuvor den sterbenden Schwan gegeben hatte, knickte sie mit dem Fuß um und hatte Mühe, das Set dann auf dem Bühnenrand sitzend zu Ende zu bringen. Die zuweilen überlebensgroß überhöhte Dramatik ihres Materials wurde so recht bodenständig und volksnah zelebriert. Anschließend musste sie dann aber gar mit Verdacht auf einen Knöchelbruch ins Krankenhaus gefahren werden.
Für die Verleihung des Anchor-Award gab es erstmalig ein überzeugendes Konzept. Nachdem in den Vorjahren die Veranstaltung im Prinzip nur aus der Verleihungs-Zeremonie bestand, gab es dieses Jahr nicht nur ein Defilee sowohl der aus Tony Visconti, Tayla Parx, Pelle Almqvist, Pablo Vittar, Joy Denalane und Bill Kaulitz bestehenden Jury, wie auch der Moderatoren Steven Gätjen und Aminata Belli und aller Nominierten gab, sondern auch noch eine Show (vor geladenen Gästen), bei der dann die besagten Nominierten alle jeweils einen Song aus ihrem Repertoire live aufführen durften. Übrigens: Da die Nominierten beim Entrée noch nicht wussten, dass der Anchor-Preis an das britische Gute-Laune-Powe-Pop-Trio Cassia gehen sollte, schauten die Musiker allesamt mit eher mäßiger Begeisterung in die Kameras.
Beim Reeperbahn-Bus machten dann zwei weitere "Nachwuchskünstlerinnen" auf ihre später am Abend stattfindenden Club-Shows aufmerksam. Die aus München stammende Cosma Joy begann ihre Karriere als Solo-Songwriterin mit einem Faible für zeitgenössische Indie-Queens - hat sich aber mittlerweile dafür entschieden, sich mehr oder minder kompromisslos dem klassischen Jazz-Gesang hinzugeben und das auch bereits auf der offiziellen Debüt-EP "Boy Boredom" musikalisch umgesetzt. Der N-JOY-Moderator war zwar der Meinung, dass Cosma Folk mache - da lag er dann aber ziemlich daneben.
Auch Kings Elliot ließ es sich nicht nehmen, mit einem kleinen Auftritt Werbung für ihre Show im Häkken am Abend zu machen - und das, obwohl die in London lebende schweizer Halb-Engländerin an diesem Tag ziemlich stark erkältet war, und deshalb nur zwei Stücke spielte. Außerdem hatte sie Wichtigeres zu tun - beispielsweise zu versuchen, die Anchor Award-Show zu crashen, um dort ihr Kindheitsidol Tom Kaulitz treffen zu können. Natürlich vergeblich - was der Sache dann noch eine melancholische Note verlieh.
Obwohl das auf dem Reeperbahn-Festival nicht zum Standard-Repertoire gehört, finden auch immer wieder Acts, die ursprünglich aus der Influencer-Szene zur Musik gekommen sind, den Weg auf die Bühnen. Ein solcher Fall war dann auch Abby Roberts aus Leeds, die sich mit TikTok-Videos und Make-Up-Tips eine Gefolgschaft aufgebaut hatte, bevor sie sich dazu entschloss, es auch mal mit der Musik zu versuchen. Normalerweise kommt aus dieser Ecke dann ja generischer Wegwerf-Pop - und teilweise ist das sicherlich auch bei Abby Roberts so. Allerdings gehören zu ihren Inspirationsquellen erkennbar auch Acts aus der Indie-Rock-Szene und so überraschte Abby und ihre - bis auf den Drummer - aus Frauen bestehende Band bei ihrem Set im Bahnhof Pauli immer wieder mit unerwarteten Rock-Einlagen inklusive Posen und Soli. Kann man machen.
Im Häkken machten sich derweil Kings Elliot und ihre Keyboarderin bereit für den insgesamt dritten Auftritt auf dem Festival. Erfreulich, das in dem Zusammenhang dann - zumindest teilweise - darauf verzichtet wurde, das Licht auszuschalten und die Bühne erbarmungslos einzunebeln, wie das an dieser Stelle oft der Fall ist. Das Kernanliegen von Kings Elliot sind ja melancholische Selbstfindungs und Autotherapie-Songs, in denen sie hemmungslos aufrichtig mit sich und ihren Dämonen ins Gericht geht. Dass das Ganze nicht etwa bloß eine Masche ist, wurde deutlich, als sie bei ihrem Song "Ashes By The Morning" (in dem es - metaphorisch gesehen - um selbstzerstörerische Gedanken geht) aufrichtig berührt die Tränen nicht unterdrücken konnte. Das zeigt zum einen, dass Kings Elliot eine ungemein empathische Performerin ist und zum anderen, dass sie sich um ihre Glaubwürdigkeit nun wirklich keine Gedanken zu machen braucht.
Sehr laut und eng und gefährlich wurde es dann im Karatekeller des Molotow - Phoxjaw aus Bristol haben zum gemeinsamen Abrocken eingeladen - und diese Show hatte es in sich! Direkt von der ersten Sekunde an ging es in die Vollen, mit (Zitat aus unserer Platten-Rezension) Songs zwischen Post-Hardcore, Metal, Postrock und ein wenig Punk und immer wieder wichtigem Pop, es ist massiv aggressiv und komplett atmosphärisch und wunderschön, es ist verspielt, geballert, anstrengend, progressiv, überraschend, eingängig, bedrohlich, bedrückend und am Ende einfach beeindruckend. Das war es tatsächlich - und alle hatten dabei eine gute Zeit, so gut sogar, dass es sich Sänger/Bassist Danny Garland nicht nehmen ließ, einen Crowdsurf-Ausflug ins Publikum zu machen.
Beeindruckend wurde es dann auch eine Etage höher im Molotow Club - Sinead O'Brien, begleitet von Julian Hanson und Oscar Robertson an Gitarre und Schlagzeug, ließ ihre wortreichen Songs mittels Sprechgesang (den sie teils mit selbst gesteuerten Effekten verfremdete und so noch mehr Drama auftrug, wenn es nötig war) auf das Publikum niederprasseln, die Musik half dabei mit Riffs, Post-Rock, Pop und treibendem Schlagzeug. Kaum zu halten war Sinead auf der Bühne, es schien, als wären es die Worte, die die Bewegungen ihres Körpers kontrollierten. Eigentlich funktionieren die Texte beim Hören der Platte noch besser, aber live auf der Bühne kommt eine weitere Ebene hinzu und man wird vollkommen gefangen genommen.
Im Backyard des Molotow durften sich Softcult aus Kanada austoben - was sie dann auch mit manchmal zu großen Gesten für dieses Setting machten. Die Songs an sich haben vor allem durch den teils geteilten Gesang der Schwestern Mercedes und Phoenix Arn-Horn einen großen Gefallen-Faktor, sie bewegen sich musikalisch irgendwo zwischen IndieRock und PopPunk und konnten mit Sicherheit einige neue Fans an diesem Abend an Land ziehen.
Im Uwe Club zeigten Danique Van Kesteren und Bart Van Dalen mit ihren beiden Musikern als Donna Blue, was sie sich wohl bei ihrem Debüt-Album "Dark Roses" gedacht haben mögen. Nachdem Donna Blue nämlich lange vor der Veröffentlichung der besagten LP bereits mehrfach auf dem Reeperbahn Festival zu Gast gewesen waren, machten sie mit ihrer Show im Uwe deutlich, warum die LP im Vergleich zu den früheren Shows auffällig elegischer und düsterer ausgefallen war. Zwar hatte Danique zuvor mal erwähnt, dass das alleine an den Filmen gelegen habe, die sie damals als Inspirationsquelle angeschaut haben, jedoch scheint es auch, dass das Paar aus Rotterdam die Dynamik innerhalb des Projektes geändert hat. So kommunizieren Danique und Bart auf der Bühne heutzutage sehr viel intensiver miteinander und lassen sich zudem immer wieder zu längeren, offenen Jam-Passagen hinreißen, während sie zuvor stets darauf achteten, die Songs im Drei-Minuten-Pop-Song-Format nach Hause zu bringen. Letztlich zeigte diese Show dann auch, dass Donna Blue letztlich mehr sind, als die Summe ihrer Inspirationen.
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