War das von Gisbert zu Knyphausen kuratierte Heimspiel-Festival auf dem elterlichen Weingut Draiser Hof zunächst als familienfreundliche Open-Air-Veranstaltung mit Picknick-Charakter für aufgeschlossene Musikliebhaber in die Geschichte eingegangen, so ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass sich der eigentliche Schwerpunkt - die Musik nämlich - verlagert hat zu einem Event-Charakter, bei dem das musikalische Programm nur noch Teil des Gesamtpaketes aus Camping-Urlaub, Sightseeing-Aktivitäten, lukullischer Beköstigung auf angehobenem Level und Kinderbetreuung der besonderen Art im Abenteuerland Musik ist. Will meinen: Nicht alleine das musikalische Angebot ist offensichtlich entscheidend für den Besuch des Festival. Das mag mancher Purist mit gemischten Gefühlen betrachten, bietet aber für die Festival-Macher (Benjamin Metz und Gisbert selbst, die die beteiligten Künstler auswählen) die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, das Programm nach eigenen musikalischen Wertevorstellungen und weitab vom Zwang des Erfolgsdruckes "normaler" Booker auch auf menschlich relevanter Ebene gestalten zu können. Das Ergebnis ist ein ums andere Mal ein Programm-Angebot, das - auch im internationalen Vergleich - seinesgleichen sucht; aber nicht findet. Denn wie üblich scheint die Maxime der Festival-Macher zu sein, dass die gebuchten Acts musikalisch überhaupt nicht, dafür aber menschlich um so besser zusammen passen sollten. Das Heimspiel-Festival ist somit das zugleich empathischste wie auch abenteuerlichste seiner Art überhaupt.
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Beredter Beleg für diese These war das diesjährige Line-Up. Nachdem einen Tag vor dem eigentlichen Festival bereits Chilly Gonzales mit einer separaten, musikalischen (zum Glück aber nicht wetterlichen) Einstimmung auf das Festival Sorge getragen hatte, wurde das Prinzip der unüblichen Programmgestaltung mit einem Auftritt des US-Amerikaners Willy Mason auch gleich wieder unter Beweis gestellt. Von Gisbert gleich als persönliches Highlight des ganzen Festivals gepriesen, zeigte der Mann aus Neuengland, dass bei ihm der Song - und nicht etwa das Setting, die Arrangements oder das Showmanship - im Vordergrund stehen. Mit einer fast schon stoisch anmutenden No-Nonsense-Attitüde arbeitete sich Mason durch das brillante Programm seines letzten Albums "Already Dead" von 2021 (denn die Acts, die auf dem Heimspiel spielen, brauchen keine Chartlegitimation und aktuelle Hits, um dort auftreten zu dürfen). Dabei unterschieden sich die live dargebotenen, geradlinigen Rock-Versionen stark von den üppig ausgelegten und Effekt-verzierten Studioversionen. Ergo funktionierten dann auf der Bühne gerade die Songs besser, die von Haus aus in eine eher rockige Richtung gingen - wie beispielsweise der Titeltrack von "Already Dead". Wohingegen die eher ambitioniert arrangierten Songs des Albums wie zum Beispiel der um seinen hymnischen Mitsing-Effekte reduzierte Über-Song "Outwit The Devil" oder "Reservation" etwas von ihrer monumentalen Überzeugungskraft einbüßten. Was kaum jemand aufgefallen zu sein schien: In diesem elektrischen Setting verflogen alle Liedermacher-, Americana- und Alt-Country-Assoziationen, die Mason im Vorfeld angedichtet worden waren.
Ohne Frage war das ganze Line-up des 2023er Heimwerks auf Kontrast gebügelt - aber ganz besonders so an diesem ersten Tag: Die Startposition #2 belegte dort nämlich das in die Pandemie hineingeborene, angesagte Londoner Postpunk-Outfit Dry Cleaning. Schon auf dem von John Parish produzierten Debüt-Album "New Long Leg" hatten Dry Cleaning bewiesen, dass sie alles ein bisschen anders machen wollen als ihre musikalischen Zeitgenossen. Im Prinzip bestehen die Songs des Quartetts nämlich aus vielschichtig angelegten, aber von dem hyperaktiven Gitarrenheld Tom Dowse mit manischer Intensität auf dem immer gleichen Energie-Level verdichteten High-Energy-Rock-Riffs - und den mit unheiliger Attitüde relativ stoisch dargebotenen, aber von theatralischen Gesten untermalten Spoken Word-Rezitationen der charismatischen Frontfrau Florence Shaw. Genau das bekamen die Fans auf dem Heimspiel dann auch auf der Bühne geboten. Ein wenig irritierend war dabei die Angewohnheit von Florence Shaw, beim Vortrag eigenartige Grimassen zu ziehen und die Augen zu rollen bis nur noch das Weiße zu sehen war. So etwas hat schon bei Aldous Harding zu Polarisationen geführt und tat das auch hier. Dry Cleaning mag man entweder - oder tut es eben nicht. Beliebig oder langweilig ist die Band aber keinesfalls. Was indes bei dieser Art von Vortrag fehlte, war irgendeine Art von erkennbarer Emotionalität. Wie Spoken Word-Rezitationen in Verbindung mit mitreißender Rockmusik auch heißblütig und empathisch funktionieren kann - und dennoch obercool sein kann - hatte zuletzt ja die Irin Sinead O'Brien eindringlich belegt. Leider nur nicht auf dem Heimspiel.
Der dritte Tagespunkt war dann ein gefeierter Auftritt des Blaskapellen-Orchesters Meute. Die Herren mit den malerischen Bühnenuniformen beweisen ja schon seit einiger Zeit, dass man Techno- und Club-Mucke auch ohne Elektronik und ausgerechnet mit Blasmusik recht mitreißend und ansprechend organisieren kann. Das vielköpfige Ensemble braucht dafür neben den verschiedenen Tröten nur noch ein paar um den Bauch geschnallte Perkussion-Instrumente (darunter ein Xylophon) und Tuba statt Bass - und schon kann die Party losgehen. Einige eingestreute Vokal-Einlagen, die dem Ganzen kaum mehr Sinn gaben, hätten sich Meute eigentlich sparen können - denn das Publikum ging auch ohne Gesang gut mit. Insbesondere für die jüngeren Fans war dieser Auftritt eine echte Offenbarung. Kein Wunder - denn die konnten sich ja nicht recht gut daran erinnern, dass Mardi Gras BB. mit einem ganz ähnlichen Ansatz vor zehn Jahren bereits große Erfolge mit dem Blaskapellen-Crossover-Prinzip erzielt hatten. (Übrigens inklusive einer auch von Meute praktizierten Animations-Einlage, bei der das Publikum gebeten wird, sich während des Vortrages hinzuhocken, um dann auf einen bestimmten Impuls kollektiv aufzuspringen.)
Der zweite Festivaltag versprach - zumindest das Wetter, aber auch das Programm betreffend - zu einem echten Highlight im Festival-Alltag zu werden. Es begann mit einer in den letzten Jahren vernachlässigten Heimspiel-Tradition: Einer begleiteten Schifffahrt auf dem Rhein unter dem Motto "Heimspiel Liner". Nachdem diese Aktion nach organisatorischen Beschränkungen in den letzten Jahr wieder möglich geworden war, gab es das Angebot, am zweiten Tag vor dem Beginn des Musikprogrammes am Nachmittag eine von zwei Touren auf dem Heimspiel-Liner zusätzlich zu buchen. Als Anreiz dafür gab es dann dieses Jahr erstmals auch ein musikalisches Argument - nämlich einen Auftritt von Sönke Torpus mit seinem neuen Projekt Low Key Orchestra. Zur Zeit arbeitet der Mastermind von Torpus & The Art Directors nämlich an einem Solo-Projekt, das im Laufe des Herbstes Gestalt annehmen soll. Die ersten neuen Songs, die Sönke an der Heimorgel und Gitarre auf dem Zwischendeck des Liners (zusammen mit einem Courtney Barnett-Cover) zum Besten gab, zeugten jedenfalls von der songwriterischen Kunst Sönkes und machten neugierig, auf das, was da im Folgenden (dann mit vollem aplomb) auf die Fans zukommt. Auch hier machte sich wieder der Event-Charakter des Festivals deutlich, denn viele der Mitreisenden interessierten sich gar nicht für das, was Sönke da zu bieten hatten, sondern saßen auf dem Sonnendeck des Schiffchens.
Zum Event-Charakter des Heimspiels gehört zweifelsohne auch die zunehmend militanter werdende Eindringlichkeit, mit der jung gebliebene Eltern das Anrecht ihrer Sprösslinge auf einen Platz auf den vor der Bühne platzierten Lautsprechern einfordern und ihre Kids dort absetzen als sei das eine naturgegebenes Vorzugsrecht. Das geht mittlerweile doch mächtig auf Kosten derjenigen, die tatsächlich die Musik genießen wollen. Ein entspanntes Einstimmen auf den Festivaltag im Picknick-Modus ist jedenfalls heutzutage nur noch sehr eingeschränkt möglich, da die Kids auf den Lautsprechern und die betreuenden Eltern den vorne sitzenden Fans schlicht die Sicht nehmen - mal davon abgesehen, dass das Ganze nicht eben lautlos von statten geht und bei intimen musikalischen Momenten auch echt nervt. Unter diesem Aspekt bestand dann die Befürchtung, dass eben leisere Acts da auch das Nachsehen haben könnten. Zum Glück hatte die junge Berliner Songwriterin Juli Gilde in dieser Hinsicht konzeptionell bereits nachgelegt. Nachdem sie nämlich zunächst auf ihren beiden EPs "French Brokewood" und "Euphorie und Panik!" mit ihren durchaus nicht unsympathischen Indie-Pop-Songs den Eindruck erweckt hatte, zur Riege der von Phoebe Bridgers geprägten "Flüster-Künstlerinnen" gehören zu wollen, hatte sie für die Festival-Saison vorgesorgt und mit ihrer Band in Sachen Performance und auch Songmaterial nachgelegt. Versteckte sie sich bisher nämlich am liebsten hinter ihren Gitarren - so ließ sie diese bei diesem Auftritt auch mal stehen, griff sich das Mikro und betätigte sich als enigmatischer Performerin mit echten Rampensau-Ambitionen. Und neben ihren charmanten Poesie-Pop-Elegien wie "Wann fängt es wieder an aufzuhören?" oder "Autofensterkurbel" hatte die (übrigens Führerschein-lose) Künstlerin einige neue, druckvolle Rocknummern im Gepäck. Ähnlich wie ihre Kollegin Philine Sonny - nur eben auf Deutsch - hat Juli mit diesem Ansatz den Sprung aus den Schatten der Bedsitter-Romantik ins Rampenlicht der Festival-Bühnen also bereits erfolgreich gemeistert. Das kam gar nicht so unerwartet, denn Juli hatte im Vorfeld bereits verinnerlicht und erkannt, dass die Zuhörer auf Festivals gerne Rockmusik hören wollen.
Der mitreißende Elektro-Punk-Ansatz der nachfolgend aufspielenden Toten Crackhuren Im Kofferraum war dann eigentlich genau das richtige für die Kids auf den Boxen, denn die Ostberliner "Elektro-Clash-Band" hat sich im Laufe ihrer fast 20-jährigen Karriere zweifelsohne ihren Sinn für Kindlichkeit und Naivität bewahrt - was ausdrücklich kein Kritikpunkt sein soll. Natürlich ist das zuweilen mehr auf Anstößigkeit gebürstete Comedy und mit Anzüglichkeit gespicktes Empowerment als große Liedermacherkunst, aber wie Frontperson Luise Fuckface erklärte treten die Damen und ihre Musikanten ja für gewöhnlich sowieso eher auf Asi-Punk-Veranstaltungen auf als auf musikalischen Familienfeiern. Wie dem auch sei: Die mit elaborierten Choreografien gespickte Anmacher-Performance und die zahlreichen jugendsprachlich aufbereiteten politischen Femalitäten funktionierten auch in diesem Setting ganz hervorragend. Sofern sie denn funktionierten, denn wie immer wenn Laptops auf der Bühne im Spiel sind, gab es auch dieses Mal Verzögerungen und technische Probleme. "Ich spiele das Ende dann ohne Click", erläuterte der eingeschüchterte Drummer nach einer Viertelstunde vergeblichen Umstöpselns schließlich - und bewies dann eindrucksvoll, dass er eigentlich überhaupt keinen Clicktrack gebraucht hätte. Chapeau noch mal an das Buchungskommittee: Auf die Idee, einen Act wie DTCHIK auf einem Familienfestival zu buchen, muss man ja selbst als eingefleischter Nonkonformist erst mal kommen.
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